Der Detektiv – Band 30 – Die Matsoa-Spinne – Kapitel 3
Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Matsoa-Spine
3. Kapitel
Ein seltsamer Handel
Meine Augen konnten nun die Umgebung mit allen Einzelheiten erfassen.
Es handelte sich um einen niedrigen, mit rohen Brettern ausgeschlagenen quadratischen Raum von etwa fünf Metern Seitenlänge. Durch ein viereckiges Loch in der Decke führte eine schmale Holzstiege hinab. Ein Tisch, drei Holzstühle, ein Bambussessel, der bereits erwähnte Schrank und ein Bett hinter einem hohen Wandschirm bildeten die Einrichtung.
Was mir aber weit wichtiger war als all das: Dort in dem Bambussessel saß Harst, dem man die Beine mit Draht an die Sesselfüße gebunden hatte.
Er sah matt und mitgenommen aus, saß ganz zusammengesunken da und hielt den Kopf kraftlos gesenkt. Nun begegneten sich unsere Blicke.
Ah, in seinen Augen lag etwas anderes, als er vorzutäuschen suchte! Nur für Sekunden hatte ich in diesen grauen, großen Augen lesen können. Aber diese Sekunden hatten schon genügt! Ich wusste jetzt: Harst war nicht mutlos. Im Gegenteil, es schien sogar, als ob sein Blick in ironischem Triumph aufleuchtete.
Doch ich hatte mich in dieser Beziehung wohl geirrt. Zum Triumphieren lag hier wahrlich keine Veranlassung vor. Im Gegenteil, ich hielt unser Leben für ernstlich bedroht. Hätten mir Haralds Augen nicht Mut gemacht, wäre ich wohl recht niedergeschlagen gewesen, auch innerlich, denn äußerlich gab ich mich genauso wie Harst und spielte den Bedrückten, Ängstlichen und um mein Leben Besorgten.
Außer uns befand sich nur noch unsere Feindin in diesem muffigen, fensterlosen Raum. Sie stand leicht gegen den Tisch gelehnt da und legte ihren Revolver neben sich auf die Tischplatte. Dann winkte sie mir mit einer gebieterischen Handbewegung zu.
»Setzen Sie sich dort neben Harst auf den Holzstuhl«, forderte sie mich auf, weder freundlich noch unfreundlich, sondern mit gemachter Gleichgültigkeit.
Sie trug ein grüngraues Sportkostüm mit fußfreiem Rock, das ihre tadellose Figur voll zur Geltung brachte. Sie sah sehr fesch aus, was selbst ich anerkannte.
Ich gehorchte. Sie nahm eine Zigarette aus einer Glasdose und rauchte ein paar Züge, dabei schaute sie nachdenklich vor sich hin. Dann wandte sie sich an Harst: »Ich brauche wohl nicht mehr zu betonen, dass Sie beide diesen Raum nicht lebend verlassen werden. Ich drohe nie umsonst – nie! Wer so leichtfertig ist, mir hindernd und schädigend in den Weg zu treten, tut es auf eigene Gefahr. Sie beide sind von mir sogar gewarnt worden. Trotzdem hat jetzt durch Ihre Schuld das schnelle Schiff meines Verbündeten, das uns so wertvoll war, den Untergang gefunden, während mein Bruder gleichfalls durch Sie dem Richter überliefert wurde. Es ist also höchste Zeit, dass solche lästigen Menschen beseitigt werden.«
Es folgte eine kurze Pause. Sie schaute uns prüfend an, um den Eindruck ihrer Worte festzustellen.
Ich blickte nicht auf und tat so, als hielte ich uns beide für verloren.
»Ich liebe meinen Bruder Charles aber so sehr«, fuhr die Malcapier lebhafter fort, »dass ich bereit wäre, ihn sozusagen gegen Sie beide auszutauschen.«
Ich hörte neben mir eine Bewegung. Harst hatte sich aufgerichtet. Ich schaute hin. Dann begann er zu sprechen.
»Austauschen?«, fragte er mit heiserer, belegter Stimme. »Ich kann diesen Vorschlag nur so deuten, dass Schraut und ich Ihren Bruder befreien sollen.«
»Ganz recht«, stimmte die Rotblonde zu. »Ihnen beiden wird es gelingen, Charles zur Flucht zu verhelfen. Der wird jetzt, nachdem ich entwichen bin, doppelt scharf bewacht.«
»Und Sie glauben, ich würde auf diesen Vorschlag eingehen?«, meinte Harst scheinbar empört. »Ich bin kein Verbrecher, Eugenie Malcapier, sondern jemand, der Verbrecher bekämpft!«
»Oh, Sie werden darauf eingehen! Ich habe ja Zeit. Ich werde Sie hungern und dürsten lassen, und schließlich werden Sie mir doch Ihr Ehrenwort geben, alle meine Bedingungen getreulich zu erfüllen.«
Harst erwiderte nichts.
Die Malcapier langte nach einer neuen Zigarette und rauchte offenbar mit Behagen. Sie genoss es in vollen Zügen, dass wir uns wehrlos in ihrer Gewalt befanden. So sehr sie sich auch zu beherrschen suchte, in den Tiefen ihrer dunklen Augen schillerten doch der verborgene Hass und die Gier nach Rache.
Ich hatte zuerst nicht richtig zugehört, als Harst von diesem merkwürdigen Austausch gesprochen hatte. Wir sollten Charles Malcapier befreien? Wir?! Das war wirklich das Unglaublichste, was mir bisher begegnet war! Harst – ausgerechnet Harald Harst – sollte einem Menschen zur Flucht verhelfen, der als Kumpane von Piraten dem Galgen verfallen war?
Kein Wunder, dass ich mehr als gespannt war, wie sich die Erörterung dieses seltsamen Geschäfts fortsetzen würde.
Da fragte die Malcapier kurz: »Nun, Herr Harst?«
»Sie unterschätzen uns beide«, erklärte Harst verächtlich. »Sogar sehr! Eher verhungern wir, als dass wir uns auf einen solchen Handel einlassen.«
Die Malcapier drehte sich um, griff nach einer kleinen Tischglocke und klingelte. Der dünne, schrille Ton des Glöckchens war für meine überreizten Nerven furchtbar. Es gibt Töne, die uns in bestimmten Situationen körperliche Schmerzen verursachen.
Lautlos glitt ein Chinese die Treppe hinab: ein langer, dürrer Mann in einem hellgrauen Flanellanzug europäischer Schnittform. Der Kerl hat das richtige Galgenvogelgesicht. Um seine dünnen Lippen lag ein scheußliches Grinsen wie festgefroren.
Die Malcapier sagte nichts mehr. Der Gelbe hatte offenbar schon vorher genaue Anweisungen erhalten. Er trat auf mich zu, fesselte mir die Unterschenkel an die Stuhlbeine, schnürte mir auch den Oberkörper an die Lehne fest, schob dann Harsts Bambussessel mit einer Kraft, die ich dem Burschen gar nicht zugetraut hätte, hinter meinen Stuhl, sodass wir nun Rücken an Rücken saßen. Er umschlang unsere Hälse noch mehrfach so eng mit Draht, dass wir die Köpfe nach hinten beugen mussten. Anschließend rückte er den plumpen Holztisch so neben die Stühle, dass er, nachdem er hinaufgestiegen war, etwas an der Decke befestigen konnte, das die Malcapier ihm in einem Holzkästchen gereicht hatte.
All das spielte sich völlig wortlos ab, wirkte aber gerade deshalb umso bedrohlicher.
Die Malcapier hielt den Blick nun ständig zur Decke emporgerichtet und beobachtete, was der Chinese tat. Plötzlich rief sie dann – nun auf Englisch: »Sei vorsichtig! Du weißt, die scheußlichen Tiere sind geladen!«
Der Chinese hatte vorhin in die Tasche gelangt und einen dicken Lederhandschuh hervorgeholt. Als er Malcapier nun das Kästchen zurückreichte, sah ich, dass er den Handschuh über die rechte Hand gestreift hatte. Er zog ihn jetzt wieder aus.
Da – zufällig hatte ich den Kopf noch weiter zurückgebeugt. Meine Augen blieben starr auf etwas haften, das eine Handbreit vor meiner Stirn schwebte.
Es war eine Spinne, gut zwei Zentimeter lang, auf der Unterseite gelb, oben schwarz, mit deutlich sichtbaren Beißkiefern und großen, runden Augen.
Sie hing an einem Zwirnfaden, der ihr um den Einschnitt zwischen Vorder- und Hinterleib geschlungen war. Damit sie nicht hochklettern konnte, war der Faden durch ein Loch in ein rundes Glasstück geführt, das durch ein Streichholz am Tieferrutschen gehindert wurde. Die Glasplatte war klein, hatte nur einen Durchmesser von 1,5 Zentimetern, sodass der Spinnenleib ein wenig darunter hervorlugte.
Ich ahnte sofort, dass es sich nur um eine Matsoa-Spinne handeln konnte! An den Bewegungen des Tierchens merkte ich, dass es sich mit aller Kraft zu befreien suchte. Der Faden pendelte hin und her, glücklicherweise nicht so weit, dass die Matsoa meine Stirn berührte.
Ich gebe zu, dass ich stets eine heftige Abneigung gegen Spinnen hatte, eine fast krankhafte! Allein der Gedanke, dass sich diese giftige Matsoa an meiner Stirnhaut festklammern und mich beißen könnte, trieb mir das Blut aus dem Gesicht. Neben einem ungeheuren Ekel schnürte mir auch die Angst die Kehle zu. Zwar sollte der Biss der Matsoa für Menschen nicht tödlich sein, aber immerhin leichte Krampfanfälle hervorrufen. Trotzdem trat mir nun der kalte Schweiß auf die Stirn. Unwillkürlich bog ich den Kopf noch weiter zurück und spürte nun Harsts Hinterhaupt – wir saßen Kopf an Kopf da! Für mich hatte diese Berührung etwas Beruhigendes. Sie erinnerte mich an Harsts Nähe und daran, dass er uns schon aus weitaus bedrohlicheren Situationen befreit hatte.
Da sprach die Malcapier: »Sie beide dürften diese Spinnen kaum kennen. Man nennt sie hierzulande Matsoa. Aber die wenigsten wissen, dass es zwei Arten davon gibt: Die eine bevorzugt menschliche Wohnungen, die andere mit gelblicher Unterseite hohle Bäume, sumpfige Dickichte und ähnliche düstere Orte. Die Gelehrten kennen nur die harmlosere Haus-Matsoa, da die gelbe Matsoa sehr selten ist. Die gelbe ist aber auch die weitaus giftigere. Damit Sie sich selbst davon überzeugen können, wie giftig sie ist, schauen Sie her!«
Sie nahm den Faden hoch, an dem die für Harst bestimmte Matsoa hing, trat zurück, sodass wir beide, die Köpfe etwas wendend, zusahen, wie sie ein Zicklein, das der Chinese schnell irgendwoher geholt hatte, durch die Matsoa in die Nase beißen ließ. Das Zicklein strampelte und schlackerte mit dem Kopf. Aber die Matsoa hielt fest. Schon nach kurzer Zeit – vielleicht einer halben Minute – zuckte das gepeinigte Tier ein paar Mal wie im Krampf zusammen, wurde immer matter und verendete schließlich unter schrecklichen Zuckungen.
»Genug!«, sagte Harst da ganz unvermittelt. »Ich bin soeben um vieles klüger geworden! Nennen Sie Ihre Bedingungen, Eugenie Malcapier! Mein Leben ist wertvoller als das Ihres Bruders!«
Das rotblonde Weib lachte auf.
»Ah, also doch bekehrt, Herr Harst! Ich wusste, dass Sie zu besserer Einsicht gelangen würden!«
»Und wie sehr bin ich dazu gelangt!«, hörte ich Harst antworten, während der Chinese die Fäden abriss und die Spinnen wieder in das Kästchen tat.
Dann entfernte der Chinese auch den Draht von unseren Hälsen und rückte die Stühle so, dass wir wieder nebeneinander saßen.
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