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Der Detektiv – Band 30 – Die Matsoa-Spinne – Kapitel 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Matsoa-Spine

2. Kapitel
Ein Wiedersehen mit Eugénie Malcapier

Er nahm eine neue Mirakulum.

»Weshalb hast du mich vorhin so bedeutungsvoll angesehen?«, fragte ich nun.

»Weshalb? Lieber Alter, wenn der brave Jobster ein gelbes Auto sucht, kann er bis zu seinem seligen Ende suchen!«

»Was heißt das?«

»Nun, die gelbe Farbe, mit der sich die Kinder das Gesicht beschmierten, weil sie so frisch war, dürfte kaum mehr das Auto zieren.«

Ich verstand sofort.

»Du meinst also, dass der Kraftwagen nur gelb angestrichen wurde, damit er …«

»Ja, nur für diese Entführung der Malcapier«, fiel Harst mir ins Wort. »Es ist also zwecklos, nach einem gelben Auto zu suchen. Man muss die Sache anders anpacken, um Erfolg zu haben. Machen wir uns zum Ausgehen fertig. Ich möchte gern mit der Gattin des Pförtners sprechen, um herauszufinden, ob sie sich sehr viel Mühe mit der Reinigung ihrer Kleinen gegeben hat. Lack- oder Ölfarbe ist schwerer zu entfernen als Wasserfarbe. Es wird Wasserfarbe gewesen sein. Die kann man zum Beispiel mit einer Gartenspritze leicht und restlos von einem Auto abwaschen.«

Ich habe es bei der Niederschrift unserer Abenteuer als Liebhaberdetektive oft bedauert, dass ich den Leser nicht auf jede Feinheit der Geistesarbeit meines Freundes hinweisen kann. An dieser Stelle möchte ich jedoch bereits darauf aufmerksam machen, dass Harald Harsts scheinbar so selbstverständliche Erörterung der Frage, welche Art von Farbe für den frischen Anstrich benutzt wurde, für die weitere Entwicklung der Dinge von außerordentlicher Bedeutung war. Wir verließen das Riesenhotel und wandten uns dem nördlichen Stadtteil zu, in dem sich auch der Polizeipalast befindet.

Nur ganz kurz hier einiges unbedingt Notwendige über Singapur. Am Südende der Halbinsel Malakka, des schmalen Ausläufers von Hinterindien, gibt es eine Anzahl Inseln, von denen die größte Singapur ist. An deren Südostspitze zieht sich die gleichnamige, teilweise ganz modern gebaute Hafenstadt zehn Kilometer weit am Meeresstrand hin. Die Einwohnerzahl beträgt etwa 230 000, darunter nur etwa 4000 Europäer. Der Rest sind Chinesen, Malaien und Inder. Die Stadt ist, wie der gesamte südliche Teil Malakkas, englischer Kolonialbesitz. Singapore ist fraglos der belebteste Hafen des ganzen Ostens und die Durchgangsstation nach China, Japan, den Südseeinseln und weiter nach den Häfen im Westen Amerikas. Straßenbahn, elektrisches Licht, riesige Dockanlagen, Riesenhotels, prächtige Parks und dazu der tollste Völkermischmasch der ganzen Erde – das ist Singapur! Es war gegen 20 Uhr, als wir vor dem Polizeigebäude einen hellhäutigen Eurasier (Mischling zwischen Europäer und Asiaten) ansprachen, der eine Art Uniform trug. Wir hatten Glück. Es war der Pförtner, der sehr stolz auf seinen englischen Namen Jones zu sein schien.

Harst fragte nach Jobster – zum Schein natürlich. Jones erwiderte, der Inspektor sei soeben im Polizeiauto nach Siglap (einem Ort nordöstlich von Singapur) gefahren, da dort ein Kraftwagen gesehen worden sei.

Er lächelte dazu geheimnisvoll, sodass Harst ebenfalls lächelnd und in vertraulichem Ton sagte: »Also hinter der Malcapier her?!«

Jones trat einen Schritt zurück, musterte uns, grüßte noch einmal und flüsterte pfiffig: »Master Harald Harst, nicht wahr?«

Harst nickte. »Harst und Schraut, bester Jones. Steht schon in einer hiesigen Abendzeitung, dass wir in Singapur sind?«

»Freilich – die ganze Geschichte vom STERN VON SIAM und der Piratenprau habe ich vorhin gelesen.«

»So so. Sie wissen also, mit wem Sie es zu tun haben, Jones. Ich verpflichte Sie im Namen von Inspektor Jobster zur Verschwiegenheit. Nur eine Frage: Haben sich Ihre Kinder heute mit der frischen Farbe des gelben Autos beschmutzt? War es nur Wasserfarbe?«

»Ja, zum Glück. Sonst hätte meine Frau noch mehr Seife beim Abrubbeln der Rangen verbraucht.«

»Danke, Jones. Noch etwas: Über diese Farbe sprechen Sie zu niemandem, auch nicht zu Jobster, es sei denn, er fragt Sie direkt.«

»Well, well, Master Harst. Auf mich ist Verlass.«

Harst reichte ihm eine Banknote. »Da, nehmen Sie nur, Jones. Kaufen Sie dafür neue Seife ein.«

Der Pförtner grinste, und wir gingen davon.

»So«, meinte Harst, »der Anfang wäre gemacht. Jetzt werden wir irgendwo zu Abend essen, und dann kommt die nächste Programmnummer.«

»Und die wäre?«

»Hm, was wohl? Mein Alter, es wird ein kleiner Einbruch werden – oder so ähnlich –, zwecks Besichtigung des Schauplatzes eines Verbrechens, das jetzt alle meine Gedanken in Anspruch nimmt.«

»Ah, der Bungalow Stevenpoles!«

»Ganz recht – derselbe! Hier in der Nähe muss es eine gemütliche kleine Kneipe geben, wie mir jetzt einfällt. Sie gehört einem Holländer. Dort verkehren allerlei Originale: Schiffskapitäne, Händler und so weiter. Ich werde die Straße schon finden.«

Sehr bald saßen wir in einer verräucherten Gaststube an einem blendend weißen Tisch. Über uns an der Decke hingen zahlreiche Schiffsmodelle, die bei jedem Luftzug an ihren Bindfäden lautlos hin und her pendelten.

Jan ten Hoorn, ein gut 2 ½ Zentner schwerer Holländer, bediente uns persönlich, empfahl uns das echte Nürnberger und ebenso ein warmes Abendgericht. Essen und Getränke waren tadellos.

Rechts von uns stand ein großer, runder Tisch, ein Stammtisch, besetzt mit einem Dutzend Europäern, die bereits sehr fidel waren, zumeist Schiffskapitäne. Nach einer Viertelstunde öffnete sich die Tür, und ein neuer Gast trat stampfend ein: ein älterer Mann mit fuchsigem Schifferbart, vergnügten Schweinsäuglein und einem Stelzfuß.

Der Stammtisch empfing ihn mit einem förmlichen Geheul.

»He, Tom, hierher zu mir!«

Jeder wollte ihn neben sich haben, diesen Tom. Er erfreute sich offenbar großer Beliebtheit.

»Tom Barbaley, der Hausmeister«, flüsterte Harst.

Ich hatte es mir schon gedacht.

Tom war aber offenbar sehr schlecht gelaunt, schritt zunächst zum Schanktisch und kippte ein halbes Glas Whisky auf ex hinunter. Dann kam er endlich an den Stammtisch, setzte sich und knurrte bissig: »Die Pest! Man hat mich heute Mittag schön herumgehetzt! Verdammter Mist! Wenn ich nur den Anstifter wüsste! Einer von euch ist’s – gebt’s nur zu!«

Allgemeine Stille. Die Kapitäne schauten sich fragend an. Dann meinte einer: »Tom, was für ein verdammter Witz war’s denn?«

»Na, die Depesche, die mich nach Longkonk (Stadt an der Bahnlinie Singapur–Johor) rief.«

Tom merkte bald, dass die Stammtischbrüder diese Depesche nicht veranlasst hatten. Er zeigte sich trotzdem sehr zugeknöpft und sagte: »Wenn ihr’s nicht wart, dann geht euch die Geschichte auch nichts an. Jedenfalls kriege ich den Kerl raus, der mich so gefoppt hat. Dann dreh’ ich ihm das Genick um.«

Das Gespräch am Stammtisch wurde wieder lauter. Tom war ein großer Zecher. Einmal hörten wir noch, wie sich einer der Kapitäne nach dem Stand der Ermittlungen über den Mord an Admiral Stevenpole erkundigte. Tom lachte verächtlich und erwiderte:

»Ermittlungen? Die Polizei wird nie einen Schritt vorwärtskommen, wenn sie nicht das beachtet, was ich immer wieder behaupte: Der Mord muss eine ganz besondere Veranlassung gehabt haben! Inspektor Jobster hat sich in die Idee verrannt, mein Herr hätte sich damals nachts eine galante Begleitung aus dem Chinesenviertel mitgebracht. Alles Unsinn! Wäre es so, dann hätte man den Admiral doch wohl beraubt! Ich denke immer, mein Herr hat, wie er es so gern tat, am Hafen auf eigene Faust irgendeine Lumperei aufgedeckt, und die, die sich durch ihn in ihrer Sicherheit bedroht fühlten, haben kurzen Prozess gemacht.«

Der dicke Wirt Jan ten Hoorn stand nun ebenfalls am Stammtisch.

»Na, Jobster hat nun ja Unterstützung mitgebracht«, meinte er. »So ein paar deutsche Herren, Gelegenheitsdetektive. Der eine hat einen berühmten Namen …«

»Harst«, sagte Tom Barbaley schnell. »In der Abendzeitung steht, dass Harst und Schraut, richtig, Schraut heißt der andere, im Raffles-Hotel abgestiegen sind. Ich halte nichts von den Deutschen, gar nichts!«

Harst beugte sich zu mir hin und flüsterte: »Tom Barbaley hat mir soeben einen wichtigen Hinweis gegeben.«

»Fingerzeig? Wodurch denn?!«, fragte ich ehrlich erstaunt.

»Nachher. Wir wollen zahlen und verschwinden.« Es war genau 10 Uhr, als wir vor der Gartenpforte des Bungalows Stevenpoles ankamen.

Das von einer Backsteinmauer umgebene Grundstück lag an den Abhängen des Sophia-Hügels, war von einem großen Garten mit vielen alten Bäumen umgeben und zog sich in Terrassen bis in ein Palmenwäldchen hinein. Auf der zweiten Terrasse stand der weiß gestrichene, niedrige Bungalow mit der üblichen, sich rings um das Haus erstreckenden, offenen, überdachten Veranda.

Der Mond enthüllte uns genug Einzelheiten der Örtlichkeit, um danach einen Schlachtplan entwerfen zu können. Wir pirschten uns an die hintere Gartenmauer heran, überkletterten sie und schlichen auf die beiden Wirtschaftsgebäude zu, die rechts an der Mauer auf derselben Terrasse lagen. Zwischen diesen und dem Bungalow verlief ein ziemlich abschüssiger Fahrweg zur Hauptpforte hinunter. Er war mit weißem Muschelkalk bestreut und endete vor einem schuppenartigen Holzbau. Weiter zur Straße zu stand das zweite Wirtschaftsgebäude, in dem wohl die chinesischen Diener wohnten. Wir sahen, dass zwei Fenster erleuchtet waren. Plötzlich erlosch dieser Lichtschein. Harst hatte mich gerade auf einen großen dunklen Fleck am Boden des Vorplatzes des Schuppens aufmerksam gemacht.

Wir knieten hinter einer großen Tonne, deren Schatten uns ausreichend verbarg. Die Umgebung war in helles Mondlicht getaucht. Der dunkle Fleck vor uns hatte merkwürdigerweise ungefähr Ringform. Weshalb Harst ihm irgendwelche Bedeutung beimaß, wusste ich nicht. Ich wollte gerade fragen, als sich die Tür des Dienerhauses öffnete, ein Chinese in einem weißen Leinenkittel heraustrat, zum Himmel emporblickte und sich, während er sich beständig scheu umblickte, langsam auf den Schuppen zu schlenderte. Sein Verhalten verriet, dass er kein reines Gewissen hatte. Dann öffnete er die breite Flügeltür, verschwand im Inneren und polterte eine Weile herum. Danach machte er die Tür nur halb zu und ging wieder zum Dienerhaus zurück, recht ängstlich und hastig, als ob er soeben etwas Unrechtes getan hätte.

Zehn Minuten verstrichen. Harst hatte sich die ganze Zeit über regungslos verhalten. Nun flüsterte er: »Ich denke, wir wagen es. Ich möchte mal in den Schuppen hinein.«

»Wozu das?!«, warnte ich. »Ich denke, wir wollten das Billardzimmer in Augenschein nehmen.«

»Billardzimmer?! Davon habe ich kein Wort gesagt. Ich habe nur gesagt, dass ich den Schauplatz eines Verbrechens besuchen wollte. Dabei dachte ich nicht an den Mord, sondern nur an die Entführung der Eugenie Malcapier.«

»Wie – und da suchst du hier bei Stevenpole nach Spuren?!«

»Allerdings. Und du würdest es auch getan haben, wenn du das beobachtet hättest, was du leider nicht beachtet hast: Toms Barbaleys Äußerungen in der Kneipe! Strenge dein Hirn jetzt aber nicht weiter an, mein Alter. Ich sehe schon, du kommst nicht auf die richtige Spur. Pirschen wir uns im Bogen von der Seite an den Schuppen heran.«

Dies war nicht schwer. Harst zog nun den angelehnten Torflügel mit einem Ruck weiter auf.

»Warte hier«, befahl er kurz. »Wenn jemand kommt, tritt gleichfalls ein. Aber nur, wenn derjenige hierher will.«

Er verschwand. Ich lehnte mich an den geschlossenen Torflügel und behielt das Dienerhaus scharf im Auge. Dort waren nun wieder zwei Fenster hell erleuchtet.

Die Nacht war köstlich. Gerade vor mir, jenseits des Vorplatzes des Schuppens, ragte der Riesenstumpf eines vom Blitz getroffenen Rasamala-Baumes über die tropischen Büsche hinweg. Diese Reste des Urwaldriesen waren gut 30 Meter hoch und sehr dick. Der Baum musste unten einen Durchmesser von gut vier Metern haben. Zarte Düfte all jener Tropenpflanzen, die nur nachts ihre Kelche öffnen und ihre Duftwellen ausschicken, umschmeichelten meine Geruchsnerven. Eine Bulbul, die indische Nachtigall, schluchzte tief in den Sträuchern am Boden. Frieden und Ruhe atmete die ganze Natur. Oh, man muss indische Nächte kennen, um sie zu lieben.

Da – aus meiner träumerischen Stimmung schreckte mich ein besonderer Ton hinter mir auf.

Ich wurde aufmerksam, ja sogar misstrauisch. Das Geräusch kam aus dem Schuppen. War es als Geräusch zu bezeichnen? Hatte es nicht vielmehr wie ein unterdrücktes Stöhnen geklungen? Ja, es war kein einzelner Ton gewesen, besann ich mich nun, sondern mehrere ganz besondere.

Unwillkürlich hatte ich bei diesem Gedanken den Kopf nach links gedreht und schaute nun halb zurückgewandt in das Dunkel des Schuppens hinein.

Jäh riss diese Gedankenreihe ab. Ich konnte jenen Gedanken nicht zu Ende denken. Ein neuer Gedanke schoss mir durch den Kopf, hervorgerufen durch das, was nun aus der Finsternis vor mir langsam hervortrat: erst nur ein heller Fleck, dann ein menschliches Antlitz, dann das ironisch lächelnde Gesicht Eugenie Malcapiers, matt beschienen vom eigenartigen Widerschein des Mondlichts auf dem weißen Muschelgrund des Vorplatzes.

Und rechts vor diesem hohneladenen Frauenantlitz, in Schulterhöhe, sah ich etwas Mattblinkendes: einen Revolver, dessen Mündung mir mit dem schwarzen, runden Auge der Lauföffnung drohend entgegengrinste.

»Guten Abend, Herr Schraut«, sagte das rotblonde Weib in etwas gebrochenem Deutsch. »Ich freue mich, Sie hier wiederzusehen. Sie merken wohl schon, dass wir auf Ihre Ankunft vorbereitet waren. Legen Sie jetzt sofort die Hände auf den Rücken! Es würde mir leidtun, wenn ich den Abzug betätigen müsste. Ich habe Harst und Ihnen einen weniger angenehmen Tod zugedacht – entsprechend Ihrer unerhört frechen und folgenschweren Einmischung in Dinge, die Sie beide nichts angingen. Bitte gehorchen Sie, ohne sich umzudrehen. Ich zähle bis drei.«

Ich wartete nicht einmal das Eins ab. Ich hatte ja keine Wahl. Wir waren hier in eine böse Falle geraten.

Im Nu wurden mir die Hände von einem unsichtbaren Gegner gefesselt, von dem ich nur den Schatten auf der Tür bemerkte, der sich hin und her bewegte. Gefesselt! Aber auf jene satanische Art, wie ich es schon recht oft erlebt hatte: mit dünnem Draht!

Ich war wehrlos. Man warf mir eine schwere Decke über den Kopf und führte mich weg. Unter meinen Füßen knirschte der Muschelkies. Ich achtete genau darauf, wohin man mich brachte. Ich hatte von Harst doch mancherlei gelernt. So entging es mir denn nicht, dass man mich offenbar täuschen wollte. Ich wurde kreuz und quer durch den Park geführt, damit ich glaubte, man lege mit mir eine weite Strecke zurück. Nach etwa einer halben Stunde endete dieser Marsch vor einer Holztreppe, deren Zugang nur durch eine einzelne Tür verschlossen gewesen sein konnte.

Die Treppe hatte 18 Stufen. Je tiefer ich stieg, desto deutlicher spürte ich einen feuchten, dumpfen Erdgeruch. Dann nahm man mir das Tuch ab und ich starrte in das blendende Licht einer großen Azetylenlaterne, die auf einem niedrigen Schrank an einer kahlen Bretterwand stand.

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