Waldmärchen Band 1 – Freund Rabe
M. Friedrichsen
Waldmärchen Band 1
Illustriert von Georg Hinke
Jugend-Verlag Charlottenburg. 1913
Freund Rabe
In einem kleinen, armseligen Dorf standen nur wenige niedrige, mit Stroh gedeckte Hütten. Die Armut kennzeichnete fast alle von ihnen. Der größte Reichtum des Dorfes war seine große Kinderschar. Mit bloßen Füßen und dürftigen Röcken tummelten sie sich an diesem schönen Sommertag lustig auf der Dorfstraße herum.
Die Sonne schien hell, die Vögel zwitscherten und jubelten mit den Kindern um die Wette. Überall war fröhliches Leben zu sehen; nur ein kleines Mädchen saß einsam vor der verschlossenen Tür eines Häuschens und weinte bitterlich. Es war die arme Kathi, die in kurzer Zeit Vater und Mutter verloren hatte.
Einsam und verlassen stand die Kleine in der Welt und hoffte, dass sich gutherzige Leute ihrer annehmen würden.
Doch wer sollte es tun?
Die Leute im Dorf waren fast alle sehr arm und hatten viele eigene Kinder. Bis jetzt hatte sich noch niemand bereit erklärt, die Waise bei sich aufzunehmen. Heute war sie bei diesem, morgen bei jenem, aber nirgends war sie daheim.
Darüber war Kathi traurig und sehnte sich nach dem elterlichen Haus.
Die Tür war verschlossen, also guckte sie durch das niedere Fenster in die Stube hinein.
Wie öde und still war es darin!
Da war der Kamin, in dem die Mutter so oft ein hell flackerndes Feuer entzündet hatte, um die Suppe zu kochen. Da stand das kleine Fußbänkchen, das der Vater für sie gemacht hatte. Ach, da hing auch seine kurze Pfeife! Wie oft hatte sie ihm ein brennendes Spänchen zum Anzünden bringen müssen!
Sehnsucht nach ihren Eltern ergriff die arme Kathi. Sie setzte sich auf die Türschwelle, drückte ihr Gesicht in die Hände und schluchzte laut. Unberührt lag das Frühstücksbrot in ihrem Schoß.
Plötzlich hörte sie eine raue, fremdartige Stimme neben sich sagen: »Mich hungert!«
Erstaunt blickte Kathi auf und sah einen großen Raben neben sich auf der Schwelle sitzen.
»Du hast Hunger?«, fragte sie den Vogel, während ihr die Tränen noch über die Wangen liefen.
»Ja!«, erwiderte der Rabe, »ich sagte es ja schon.«
»Da, nimm von meinem Brot!«, rief die Kleine. »Es bleibt noch genug für mich!«
Mit diesen Worten brach Kathi ein Bröckchen nach dem anderen von ihrem Brot ab und warf es dem Vogel zu. Dabei schluchzte sie immer wieder auf und seufzte tief.
Pick!, nahm der Rabe eine Krume.
»Warum bist du denn so traurig?«, fragte er.
»Meine Eltern sind beide gestorben.«
Pick! Wieder ein Bröckchen.
»Das ist traurig für dich«, sagte der Vogel. »Bei wem bist du denn jetzt?
»Ach, niemand kann mich aufnehmen. Hier sind alle Leute so arm.«
»Das ist schlimm!« Pick, pick, pick! »Wie heißt du denn?«
»Kathi! Und du?«
Da wetzte Kathis Gast seinen Schnabel hin und her, setzte sich in Positur und sagte stolz: »Ich heiße Freund Rabe! Gib mir nicht die Rinde vom Brot, sie ist mir zu hart! Wie alt bist du denn?«
»Vierzehn Jahre und neun Monate.«
»Hm, dafür bist du ziemlich klein, aber du bist noch im Wachstum. Danke recht sehr fürs Brot, es hat mir sehr gut geschmeckt, aber nun bist du zu kurz gekommen.«
»Es schadet nichts«, erwiderte Kathi, »ich habe keinen Hunger.«
»Hör mal, Kathi!«, begann Freund Rabe von Neuem. »Ich habe dir einen Vorschlag zu machen.«
»Was für einen Vorschlag hast du denn?«, fragte Kathi erstaunt.
»Komm mit mir. Wenn du mutig und brav bist, kann ich dir vielleicht zu großem Glück verhelfen.«
»Ach«, seufzte die gespannt Aufhorchende, »ich frage nicht nach Glück! Was soll es nützen, danach zu laufen!«
»Nun«, erwiderte ihr gefiederter Freund. »Man kann doch auch andere glücklich machen. Und ich weiß so jemanden! Besinne dich nicht lange und versuche dein Heil in der Fremde.«
»Wohin willst du mich denn führen?«, fragte seine Zuhörerin.
»Es ist ein weiter Weg!«, erklärte er. »Ich werde es dir sagen, wenn wir am Ziel sind. Aber wir müssen sofort aufbrechen.«
»Jetzt gleich!«, rief Kathi bestürzt. »Ohne Abschied zu nehmen?«
»Ja, das Abschiednehmen kenne ich«, spottete Freund Rabe. »Daraus wird nichts! Geweint hast du schon genug und vermisst wirst du auch nicht. Ich will versuchen, dir ein Unterkommen zu verschaffen. Also, besinne dich nicht lange und folge mir. Verlass dich auf mich, ich meine es gut mit dir.«
Kathi zögerte noch, sah ängstlich auf Freund Rabe nieder, der neben ihr auf der Schwelle saß.
Da rief der Vogel ärgerlich: »Wenn du kein Vertrauen zu mir hast, will ich dir meine Führerschaft nicht aufdrängen. Aber glaube mir: Du wirst es dein Leben lang bereuen.«
Als Kathi erkannte, dass ihr neu gewonnener Freund böse geworden war und bemerkte, dass er seine Flügel lüpfte, um davonzufliegen, sprang sie schnell auf, schüttelte sich die Brotkrumen vom Schoß und sagte entschlossen: »Ich will mit dir gehen!«
»So ist’s recht!«, rief der Rabe erfreut und belehrte sie dann: »Jetzt nimmst du mich in den Arm, nennst mich der Kürze wegen Hans und befolgst pünktlich alles, was ich dir rate!«
Nachdem Kathi sich entschieden hatte, mit Hans in die weite Welt zu wandern, zögerte sie nicht länger, seinen Befehlen zu gehorchen. Sie hob ihn von der Schwelle, nahm ihn in den Arm und schlug den Weg zum Wald ein, denn dorthin hatte er mit dem Kopf genickt.
»Rechts gehen!«, sagte Hans.
Kathi befolgte seinen Rat und es zeigte sich bald, dass Hans ein sehr kluger Vogel war. Nicht nur konnte er den Weg genau bestimmen, den sie einschlagen mussten, er sorgte auch dafür, dass sie zur rechten Zeit an eine Stelle des Waldes kamen, wo viele saftige Beeren standen, damit sie ihren Hunger und Durst stillen konnten.
Manchmal, wenn sie durch ein Dorf kamen, flog er voraus und holte einen Käse vom Brett der Bäuerin, das sie zum Trocknen der Käse in die Sonne gestellt hatte.
Die vollständige Story steht als PDF, EPUB, MOBI und AZW3 zur Verfügung.
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