Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 10
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 10
Nick Carters Hut wird gefunden
Chicks erste Aufnahme des Falles Waller ähnelte der Arbeitsmethode, die Patsy angewandt hatte.
Zunächst überbrachte er seine Zuschrift dem Polizeichef und nahm dann Rücksprache mit den Detektiven der Zentrale. Diese informierten ihn darüber, dass der Anwalt mit einem Dolch ermordet worden war.
Die Wunde war schnell und tief und allem Anschein nach von einem Stilett, wie es in Italien üblich ist, verursacht worden.
Offensichtlich lag ein Raubmord vor.
Das Pult des Anwalts war aufgebrochen worden und seine Dokumente und Geschäftspapiere waren durcheinandergewühlt worden. Ob etwas von Wert geraubt worden war, konnten erst umfassende Ermittlungen klären, doch bis zu deren Beendigung mochten Tage vergehen.
Bis zu dem Moment, in dem Chick den Fall übernahm, hatte sich niemand gemeldet, der in der vergangenen Nacht irgendeine verdächtige Person in der Nachbarschaft des Waller’schen Hauses gesehen hatte. Ebenso wenig war klar, auf welche Weise der Mörder ins Haus gelangt war, denn sämtliche Türen und Fenster waren unbeschädigt.
Auch das Büro des Anwalts im gleichen Haus war Ziel eines Besuchs, denn auch dort waren sämtliche Dokumente und Akten durcheinandergeworfen worden.
Die Detektive der Zentrale hatten den Bürovorsteher des Ermordeten namens Charles Clark verhaftet, obwohl nicht der geringste Verdacht gegen den jungen Mann vorlag.
»Wir könnten ihn brauchen, darum haben wir ihn verhaftet«, meinte der Detektiv lachend.
»Das scheint mir ziemlich ungerecht«, entgegnete Chick kopfschüttelnd. »Sie halten den Mann doch nicht etwa für schuldig?«
»Warum nicht?«, fragte sein Chicagoer Kollege zurück.
»Schon aus dem Grund, weil der Bürovorsteher um die Verhältnisse seines Chefs wusste und es also nicht nötig hatte, das Oberste zuunterst zu bringen. Er suchte nach irgendetwas.«
»Mag zutreffen, doch sicher ist sicher!«, meinte der Beamte. »Wir sind wegen des Stiletts auch im Begriff, eine Razzia unter den Italienern in der Stadt zu veranstalten.«
»Die Mordwaffe wurde nicht gefunden, oder?«
»Nein, das nicht, aber es handelt sich um eine dreieckige Klinge, eben ein Stilett, und da solche nur von Italienern getragen werden …«
Chick lauschte den Ausführungen seines überaus klugen Kollegen nicht weiter.
Er wusste, dass Italiener kaum in Betracht kamen, und ebenso, dass auch andere Leute als die Abruzzensöhne Stilette besaßen.
»Nun, machen Sie nur mit Ihrer Arbeit weiter«, erklärte er achselzuckend. »Ich werde mich einmal in der Nachbarschaft umschauen, dann können wir weiterreden.«
Damit ließ er die Detektive von der Zentrale stehen. Es lag ihm nicht daran, sie über Nicks und seine eigenen Wahrnehmungen zu unterrichten. Diese Leute arbeiteten nach der Schablone, waren Spürhunde mit beschränktem Horizont und von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt. Dabei konnten sie mehr verderben als nützen.
Unverzüglich machte sich Chick daran, Näheres über Herman Melville auszukundschaften.
Dessen Name fand sich nicht im Adressbuch.
Aus diesem Grund blieb Chick nichts anderes übrig, als sich zum Glenn’schen Haus zu begeben und sich dort nach dem gegenwärtigen Aufenthaltsort von Kenneth Glenns vertrautestem Freund zu erkundigen.
Der Detektiv betrat zunächst nicht selbst das Haus, sondern mischte sich unter die immer noch davor gaffende Menge und wartete geduldig.
Zu seiner Überraschung stellte sich heraus, dass Melville sich nicht im Haus befand. Nach kurzer Zeit fuhr dieser vielmehr in einem Cab vor, verschwand im Haus und Chick folgte ihm. Wenige Minuten später kam er in Kenneths Begleitung wieder zum Vorschein.
Die beiden stiegen in das wartende Cab und fuhren davon.
Chick folgte ihnen bis zu einem schönen, stattlichen Braunsteinhaus, dessen Türplatte den Namen Gerard aufwies.
Wie Patsy hätte auch dessen älterer Kollege sich bei einem Polizisten nach den Trägern des Gerard’schen Namens erkundigt, wäre ein solcher zu sehen gewesen. Doch einen Polizisten aufsuchen, das wollte Chick schon deshalb nicht, weil er das Wohnhaus, solange Melville sich darin befand, nicht aus den Augen verlieren wollte.
Nach einer Weile verließ Kenneth das Gebäude allein und schlug eine Richtung ein, die ihn wahrscheinlich zum väterlichen Haus zurückführte.
Nicht lange dauerte es, dann tauchte auch Hermann Melville auf. Er bezahlte den Kutscher und entfernte sich zu Fuß in entgegengesetzter Richtung.
Mit all der Geschicklichkeit, die ihm zu Gebote stand, schloss Chick sich seinem Mann an, um unter allen Umständen zu verhindern, dass er verfolgt wurde.
Melville ging planlos seines Weges.
Mal betrat er einen Zigarrenladen, mal einen Saloon.
Kurzum, er zeigte durch sein Verhalten, dass er wahrscheinlich nur erproben wollte, ob er verfolgt wurde oder nicht.
Sofort wendete Chick sich zum Haus der Gerards zurück, denn er wusste, dass Melville unterwegs nur einen etwaigen Verfolger von seiner Fährte abschütteln wollte, um dann sofort wieder zu jenem Gebäude zurückzukehren.
Dass Chick richtig schlussfolgerte, stellte sich noch vor Ablauf einer Stunde heraus, denn da kam Herman Melville zurück, schaute argwöhnisch nach allen Seiten und huschte schließlich in das Haus der Gerards, das er mit einem eigenen Schlüssel öffnete.
Eigentlich hatte Chick große Lust, den Burschen sofort zu verhaften, denn sein Verstand sagte ihm, dass Melville von beiden Verbrechen wusste, wenn er auch nicht deren Triebfeder war. Doch dann beschloss er, lieber noch zu warten und sich erst mit dem Meister zu verständigen, der vielleicht inzwischen handgreiflichere Schuldbeweise ermittelt haben mochte.
Als Chick sich jedoch zum Auditorium-Hotel begab, musste er dort erfahren, dass Nick Carter sich seit dem Vormittag nicht mehr dort hatte blicken lassen. Auch an anderen Orten, an denen der Detektiv vielleicht gewesen sein mochte, hatte er keine Botschaft für seine Gehilfen hinterlassen.
Das verschlug Chick jedoch wenig; er nahm an, dass Nick, in der Verfolgung einer wichtigen Fährte begriffen, noch keine Zeit gefunden hatte, sich mit seinen Getreuen zu verständigen.
Kurzentschlossen begab sich Chick zum Haus der Gerards zurück. Er war der Überzeugung, dass Melville oder Kenneth, die beide dort wie zu Hause zu sein schienen, ihm einen unfreiwilligen Hinweis geben würden.
Kurz vor dem Haus sah Chick den Meister stehen.
Er wusste wenigstens, dass es dieser sein musste, denn der Detektiv hatte sich vortrefflich verkleidet; selbst Chick hätte ihn kaum erkannt, wäre da nicht der Hut gewesen. Jenen Hut dort hätte Chick aber aus Tausenden als den seines Vetters erkannt.
So schlich er sich schnell an den ahnungslosen Mann heran, versetzte ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter und meinte lachend: »Na, da treffen wir uns ja – nach dir fahndete ich gerade!«
Mit einem leisen Schreckensschrei fuhr der Mann herum, und der junge Detektiv schaute in ein zwar ungewaschenes, doch keinesfalls geschminktes Gesicht. Es war nicht der Meister, sondern ein fremder Mensch, der den Hut des Detektivs trug.
»Na, da habe ich mich geirrt!«, meinte Chick, gewaltsam die in ihm aufsteigende Unruhe und Besorgnis unterdrückend. »Ich hielt Sie für einen Bekannten, den ich zu einem Whisky einladen wollte.«
»Na«, meinte der andere, ein unverfälschter Sohn der grünen Insel, lachend, »dann tut es mir nur leid, dass ich Ihr Freund nicht bin – so ein Schluck echter Rye Whiskey hätte mir ganz gut getan.«
Ein Wort gab das andere, und schließlich fasste Chick den neuen Bekannten beim Arm und zog ihn zum nächsten Saloon, um ihn dort zu treaten, wie der Amerikaner sagt.
Unverfänglich brachte Chick das Gespräch auf den Hut.
Der Mann erschrak und erklärte schließlich stotternd, nachdem Chick ihn lachend beruhigt hatte, er habe den Hut in einer Gasse gefunden und gedacht, er sei weggeworfen worden. Da habe er ihn, ohne sich Böses dabei zu denken, angeeignet, zumal er ein armer Teufel gewesen sei und sein eigener Hut in trauriger Verfassung gewesen sei.
»Sie können mir glauben, Mister, ich zeige Ihnen gern die Stelle, wo ich den Hut gefunden habe!«, versicherte er treuherzig.
Das wollte Chick natürlich, und sein neuer Bekannter führte ihn zu der kleinen Seitengasse. Dort wies er unmittelbar vor der sechsten Haustür auf das Pflaster.
»Hier war es – kurz nach drei Uhr heute Nachmittag!«
Chick hatte Mühe, seine Erregung zu verbergen.
Natürlich hatte er die Lage der kleinen Gasse längst erkannt und wusste, dass er sich um drei Uhr im Hotel um die Ecke vom Meister verabschiedet hatte.
Er ließ sich die Adresse des Mannes geben und ging dann in tiefem Nachdenken um den Block.
Er befand sich in tausend Ängsten. Nun war es neun Uhr abends und völlig dunkel. Was war inzwischen aus dem Detektiv geworden?
Als Chick sich der Fassade des Hauses der Gerards näherte, in dem verschiedene Fenster erleuchtet waren, sah er, wie Melville das Gebäude wieder verließ und sich eilig entfernte.
Doch Chick ließ ihn laufen.
Was war ihm der Verbrecher, wo es um ungleich Gewichtigeres ging!
Was war mit Nick geschehen? Dass sein Hut in dem Gässchen aufgefunden worden war, deutete auf einen Überfall – vielleicht sogar auf Mord – hin. War der Anschlag vom Vormittag auf andere Weise wiederholt worden und war die feindliche Partei diesmal erfolgreicher gewesen?
So viele Fragen, so viel unerträgliche Qual und Ungewissheit!
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