Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 9
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 9
Ein zweites Dynamitattentat
Der Policeman setzte seinen Rundgang fort.
Bevor er das Haus der Gerards erreichte, hielt eine Equipage, die an der Ecke, an der Patsy stand, vorbeigerollt war, vor dem Gebäude.
Ein elegant gekleideter Mann verließ den Wagen, eilte die Freitreppe hinauf, schloss die Haustür auf und verschwand im Inneren.
»Na, die Lady hat wenigstens einen Besucher, der einen Hausschlüssel hat!«, brummte Patsy spöttisch vor sich hin.
Dass der ins Haus getretene Mann Hermann Melville war, wusste Patsy natürlich nicht. Selbst wenn er es gewusst hätte, hätte es für ihn keine Bedeutung gehabt, da er nicht ahnen konnte, dass es sich um Kenneth Glenns intimsten Freund handelte. Übrigens dachte Patsy auch kaum an den Glenn’schen Mordfall. Zwar wusste er, dass sein Meister sich mit einem solchen beschäftigte, doch hatte er selbst einen ganz anderen Auftrag zu erledigen. Ebenso wie Nick wurde ihm nicht bewusst, dass zwischen beiden Verbrechen ein innerer Zusammenhang bestand.
Die Equipage, mit der Melville gekommen war, fuhr weiter. Etwa eine Viertelstunde später verließ ein Mann das Haus der Melvilles.
Er trug einen langen, modischen Gehrock und einen hohen Zylinderhut.
In eine dem jungen Detektiv entgegengesetzte Richtung eilte er hastig die Straße hinunter.
Patsy hatte bemerkt, dass das Gesicht des Mannes glattrasiert war, doch er lachte nur darüber.
»Ach nein, mein Wertester!«, brummte der junge Detektiv spöttisch vor sich hin. »Dein Name ist Henry – und du verstehst, ein Rasiermesser zu handhaben. Alle Achtung! Doch um mich an der Nase herumführen zu können, musst du früher aufstehen!«
Damit begann Patsy eine Verfolgung, die ihn stundenlang in Anspruch nahm.
Hätte er ahnen können, dass sein Meister im selben Haus gebunden und geknebelt in hilflosem Zustand war, hätte er sich um keinen Bombenwerfer der Welt gekümmert, sondern wäre mit Aufopferung des eigenen Lebens dem Detektiv zu Hilfe gekommen. Doch das ließ sich Nick Carters Jüngster wenig träumen, und so entfernte er sich in der Verfolgung des Mannes ohne schwarzen Schnurrbart immer mehr von dem Wohnhaus der gefährlichen Abenteurerin.
Beim Beginn der Verfolgung war Patsy sich sicher, dass der Beschattete derselbe Mann war, den er in der Seitenstraße nach etwas hatte suchen sehen. Doch er war sich nicht sicher, ob dieser identisch mit dem Bombenschleuderer war.
Er glaubte, dies annehmen zu dürfen, doch ehe er zu einer Verhaftung schritt, wollte er sich mehr Gewissheit verschaffen.
Aus diesem Grund gab er sich keine Mühe, dem Mann vor ihm zu verbergen, dass er ihn verfolgte. Fühlte sich dieser Henry schuldig, so ließ er sich vielleicht in steigender Unruhe und Angst zu irgendeinem unbedachten oder verzweifelten Schritt hinreißen – und dann war er so gut wie überführt.
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als Henry sich auch schon umzuschauen begann, um festzustellen, ob er verfolgt wurde.
Warum hatte Henry seinen Schnurrbart geopfert und das Haus so plötzlich verlassen?
Fast schien es, als habe der Kutscher der Equipage oder deren Insasse den jungen Detektiv im Gespräch mit dem Polizisten an der Ecke stehen sehen und sei auf die Vermutung gekommen, dass es sich um die bevorstehende Verhaftung des Dynamitverbrechers handele.
Wenige Blocks weiter unten bestieg Henry eine offene Straßenbahn. Natürlich folgte ihm Patsy; der Verfolgte setzte sich vorn in die Kutsche, während der Detektiv sich mit einem Platz auf der Rückbank begnügte.
Henry ließ sich nicht anmerken, ob ihm bewusst war, dass er verfolgt wurde oder nicht. Zumindest schaute er kein einziges Mal nach Patsy aus. Als er jedoch eine belebte Straße erreichte, sprang er plötzlich von der Kutsche ab und flüchtete förmlich in ein leeres Cab.
Zum Unglück für Patsy war gerade an der Straßenecke eine Wagenblockade entstanden, und der Kutscher des Cabs, in das Henry eingestiegen war, hatte gerade noch durch eine sich im nächsten Moment schließende Lücke drängen können.
Als der junge Detektiv sich ebenfalls durchgewunden hatte, konnte er den Wagen noch sehen. Als er ihn erreichte, war jedoch kein Fahrgast darin und der Kutscher fluchte über die Prellerei. Wie sich herausstellte, war Henry in das Cab gesprungen und hatte die günstige Gelegenheit genutzt, den Wagen eine Minute später wieder zu verlassen.
Von Henry war weit und breit keine Spur zu entdecken, und es schien, als habe er es geschafft, sich der weiteren Verfolgung zu entziehen.
Patsy hätte seine Wut herausschreien mögen, doch dann fiel sein Blick auf ein kleines Dampfschiff im Fluss nahebei, das gerade seinen Anlegeplatz verließ.
Patsy eilte zum Dock.
Als er es erreichte, hatte der Dampfer die Strommitte erreicht. Der Blick des Detektivs fiel auf einen Mann, der sich in einem Boot hatte nachrudern lassen und gerade an einer Strickleiter an Bord des Dampfers ging.
Es war Henry!
»Wohin fährt der Dampfer?«, erkundigte sich Patsy bei einem Dockarbeiter.
»Nach South Haven, Michigan«, lautete die Antwort.
Unverzüglich lief Patsy den ganzen Kai entlang, bis er einen kleinen, behändigen Schlepper erspähte, der unter Dampf lag.
»Wollen Sie ein bisschen Geld verdienen?«, rief er dem Kapitän zu.
»Mit Vergnügen!«, brummte die alte Teerjacke.
»Sie kennen das South-Haven-Boot?«
»Äh, ja.«
»Ist der Dampfer so schnell wie Ihr Schlepper?«
»Na, damit hapert es wohl«, brummte der Kapitän und beförderte mit Eleganz seinen Kautabak ins Wasser.
»Können Sie den Dampfer überholen, bevor er South Haven erreicht?«
»Das wäre schon denkbar!«
»Dann los!«, drängte Patsy. »Bringen Sie mich mitten im See an Bord, dann zahle ich doppelt!«, setzte er hinzu und zog eine dicke Banknotenrolle hervor.
Dieser Anblick verfehlte seine Wirkung auf den Schiffer nicht.
»All right!«, sagte er kurz.
Es war fünf Uhr nachmittags, und der Dampfer hatte zwei Meilen Vorsprung, als der Schlepper in See stach.
Als er die Mündung des Stroms erreichte, war der Dampfer im Michigansee noch zu sehen. Patsy nahm das Fernglas des Schiffsführers, doch unter den Passagieren konnte er Henry nicht entdecken. Jedenfalls hatte dieser die Kajüte aufgesucht, um sich besser zu verstecken.
Langsam, aber sicher schob sich der Schlepper an den Dampfer heran. Endlich, als die Sonne sich zur Küste neigte, war er ihm so nahe gekommen, dass ein spielender Junge mit Leichtigkeit einen Ball von einem Verdeck zum anderen hätte werfen können.
»Soll ich signalisieren, damit der Dampfer stoppt?«, erkundigte sich der Schiffer.
»Noch nicht – es ist vielleicht auch unnötig!«, entgegnete Patsy, der neben ihm in fieberhafter Erregung stand.
Die Passagiere des Dampfers hatten größtenteils die Wettfahrt wahrgenommen und versammelten sich nun neugierig auf dem Achterdeck, um zu erfahren, was vor sich ging.
Patsy glaubte, unter der Menge die hochgewachsene Gestalt Henrys zu erblicken, und machte sich augenblicklich aktionsbereit.
Er wollte auf alle Fälle gerüstet sein, denn er hatte es sicher mit einem verzweifelten Burschen zu tun, der zu allem fähig war.
Der Schlepper rückte immer näher an den Dampfer heran.
Plötzlich bemerkte der junge Detektiv, wie Henry sich von den übrigen Passagieren absetzte, an die Reling herantrat und den Schlepper scharf beobachtete. Dann hob er plötzlich den Arm, als wolle er etwas schleudern.
Sofort flog ein Gegenstand aus seiner Hand und kam in einem weiten Bogen auf den Schlepper zugeflogen.
Doch im selben Moment fuhr auch Patsys Arm in die Höhe. Ohne zu zielen, schoss er auf das Wurfgeschoss. Dass er getroffen hatte, verkündete ihm im nächsten Moment eine ohrenbetäubende Explosion.
Das Wasser zischte und kochte, eine mächtige Welle erhob sich fünfzig Fuß hoch, und dann schaukelten beide Fahrzeuge auf den erregten Fluten, als befänden sie sich mitten in einem verheerenden Sturm. Henry hatte eine Dynamitbombe geschleudert, die Patsy in der Luft zerschoss und dadurch vorzeitig zur Explosion brachte, ehe sie weiteres Unheil anrichten konnte.
Die Passagiere auf dem Dampfer schrien in unbeschreiblicher Bestürzung gellend auf, und auch die Besatzung des Schleppers zeigte lebhafte Unruhe.
Doch Patsy wusste, dass keine Gefahr mehr bestand. Blitzschnell hob er den Revolver wieder und feuerte zum zweiten Mal.
Henry hatte sich weit über das Geländer gebeugt, um die Wirkung der Explosion deutlich beobachten zu können.
Nun fuhr er sich mit einer Schmerzgebärde an die Schulter, verlor den Halt und stürzte kopfüber vom Dampfer in die kochenden Fluten des Sees.
Patsy griff nach einem langen Bootshaken, und eine Minute später hatte er, unterstützt von der Mannschaft des Schleppers, den verwundeten Verbrecher aus dem Wasser aufs Verdeck gezogen.
Inzwischen hatte der Dampfer seine Fahrt verlangsamt und sein Kapitän brüllte herüber, was in Teufels Namen denn eigentlich los sei.
»Wir haben keine Zeit, ihm das alles zu erklären!«, rief Patsy dem Schiffer zu. »Ich bin Detektiv – hier ist mein Amtsschild – und der von mir verwundete Mann ist ein Schwerverbrecher, den ich hiermit verhafte. Umgedreht und mit Volldampf zurück nach Chicago!«
Henry, der schnell gefesselt wurde, ehe er sich von seinem unfreiwilligen Bad im See erholen konnte, war nur leicht verwundet.
Patsy verband die Wunde des Bombenwerfers selbst. Noch vor Mitternacht wusste er ihn sicher in seiner Zelle des Polizeiquartiers eingesperrt, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass Henry mit dem Fall Glenn irgendetwas zu tun hatte.
Dann machte er sich auf, um dem Meister Bericht zu erstatten.
Schreibe einen Kommentar