Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 8
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 8
Patsy auf der richtigen Fährte
Nach Aussage des Meisterdetektivs kam bei der zähen und geschickten Verfolgung eines Beschatteten keiner seinem Jüngsten gleich.
Ebenso unermüdlich war Patsy, wenn es darum ging, durch Befragung und eigene Beobachtung irgendwelche verborgenen Fährten aufzuspüren. So auch bei seinem jüngsten Auftrag, den Urheber des Dynamitattentates ausfindig zu machen.
Als Patsy den Schauplatz erreichte, war die Aufregung in der Nachbarschaft längst verflogen und das Alltagsleben hatte wieder Einzug gehalten. Straßenreiniger hatten die halb verbrannten Trümmer des Cabs beseitigt, ebenso war der Pferdekadaver weggeschafft worden. Nur die zahlreich zertrümmerten Fensterscheiben in den benachbarten Häusern ließen noch darauf schließen, dass eine Explosion stattgefunden haben musste.
In der chinesischen Wäscherei ließ sich Patsy das verdächtige Waschbündel vorzeigen. Es enthielt lauter Kragen, Manschetten und Taschentücher. Da nicht zwei davon demselben Besitzer gehören konnten, schloss der junge Detektiv, wie zuvor auch sein Meister, ohne Weiteres, dass der Überbringer der Wäsche in einem besseren Boardinghaus leben musste. Er hatte keine Zeit zum Herrichten der Bündel gehabt, sondern alles musste in großer Eile geschehen sein. Deshalb hatte er wahrscheinlich alles ins Bündel gerafft, was ihm unter die Finger gekommen war. Es erschien ausgeschlossen, dass der Unbekannte, in welchem der Bombenwerfer sicherlich zu suchen war, nochmals an den Schauplatz seiner verbrecherischen Tätigkeit zurückkehren und sich durch Abholung des Wäschebündels selbst verdächtigen würde.
Nunmehr begab sich Patsy an eine systematische Durchsuchung der Wohnungen, eine Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nahm. Es ging darum, durch Geduld und Ausdauer herauszufinden, ob jemand der zahlreichen Bewohner kurz nach der Tat einen verdächtigen Unbekannten bemerkt hatte.
Patsys Unermüdlichkeit wurde von Erfolg gekrönt.
Endlich erinnerte sich eine Frau, die der Wäscherei gegenüber wohnte, dass sie unmittelbar nach der Explosion einen Mann aus der Ladentür habe treten sehen. Er habe sich, wie es Neugierige eben tun, während des Weitergehens förmlich den Hals verrenkt, um sich die Schreckensszene anzuschauen, bis er schließlich um die nächste Straßenecke bog.
Die Frau beschrieb den Mann, der ihrer Ansicht nach in der Nachbarschaft fremd war, da sie sich nicht entsinnen konnte, ihn je zuvor gesehen zu haben, als einen etwa 1,83 m großen, stämmigen Menschen mit auffallend starkem, schwarzem Schnurrbart. Er habe einen braunen, steifen Hut und einen locker hängenden, grauen Rock getragen.
»Der Rock passte ihm nicht, folglich handelte es sich um einen ausgeborgten Rock, der einen Teil der Verkleidung des Burschen ausmachte«, schloss Patsy sofort. »Er kann sich nicht kleiner machen – wohl aber kann er sich den Schnurrbart abnehmen lassen, falls dieser überhaupt echt war!«
Von der Annahme ausgehend, dass auch der abgebrühteste Mensch nach Verübung eines derartigen Verbrechens nervös erregt sein musste, also der Täter höchstwahrscheinlich in einen der zahlreichen Saloons getreten war, um einen beruhigenden Schluck Whisky zu trinken, durchwanderte der junge Detektiv alle Wirtschaften der Nachbarschaft, bis er schließlich einen Saloon erreichte, dessen Bartender sich an einen Kunden erinnerte, der kurz vor der Mittagsstunde das Lokal betreten, einen Brandy gefordert und ihn hastig hintergegossen hatte. Es handelte sich um einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann in einem auffällig schlecht sitzenden grauen Rock, einem braunen Filzhut und einem buschigen, bis über die Lippen reichenden Schnurrbart.
Das war Patsys Mann! Er hatte den Schnurrbart noch getragen – ein Zeichen, dass dieser echt war; denn sonst hätte er sich dessen auf dem Weg bis zum Saloon längst entledigen können.
Der Unbekannte, der seines Wissens den Saloon zum ersten Mal betrat, hatte auf den Bartender einen unheimlichen Eindruck gemacht. Er hatte ihn deshalb im Auge behalten und wahrgenommen, wie er unmittelbar vor der Wirtschaft eine Car einer bestimmten Straßenbahnlinie bestieg.
Das war alles, was der mitteilsame Bartender sagen konnte. Natürlich hatte er sich die Nummer des Straßenbahngesellschaftsfahrzeugs nicht gemerkt.
Doch Patsy besaß die Geduld eines sich auf dem Kriegspfad befindlichen Indianers. Unermüdlich fuhr sie die Garstrecke auf und ab, bei jeder neuen Haltestelle einen frischen Wagen nehmend, den sie bisher noch nicht bestiegen hatte. So traf Patsy schließlich den Schaffner, der sich erinnerte, einen ähnlichen Mann wie den ihm Beschriebenen am frühen Mittag in seiner Garnitur gehabt zu haben. Ja, er glaubte sogar, ziemlich genau sagen zu können, wo der hochgewachsene Mann mit dem starken, überhängenden schwarzen Schnurrbart und dem schlecht sitzenden grauen Rock ausgestiegen war.
Es war ungefähr vier Uhr nachmittags, als Patsy in jener Gegend herumspähte und vorsichtig herumfragte.
Er musste sehr auf der Hut sein, denn sein Mann lebte in diesem Stadtteil und er konnte bei seinen Fragen an einen der Freunde des Verfolgten geraten, was natürlich unter allen Umständen vermieden werden musste.
Die Gegend selbst war vornehm und still. Es gab lauter herrschaftliche Residenzen, die nur von reichen Leuten bewohnt sein konnten.
Es gab keine Geschäfte in der Nähe, in denen der junge Detektiv hätte fragen können. Endlich sah er nicht weit entfernt ein kleines Hotel, dessen Angestellter ihm vielleicht Auskunft geben konnte. Der schwarze Schnurrbart des Unbekannten war Patsy übereinstimmend als so auffallend stark und in die Augen fallend beschrieben worden, dass, falls er echt war und der Mann wirklich in der Nachbarschaft lebte, ihn schon deswegen jedes Kind kennen sollte.
Der junge Detektiv stand noch abwartend an der Ecke eines kleinen Seitengässchens, das unmittelbar neben dem Hotel in die Hauptstraße mündete und diese mit einer anderen, größeren Verkehrsader verbinden mochte, als er etwa in der Mitte des Gässchens plötzlich einen Mann aus der Hintertür eines angrenzenden Hauses kommen sah. Der Mann schien zu suchen und blickte dabei rechts und links.
Der Mann war barhäuptig und trug anscheinend die Dienerlivree eines vornehmen Hauses.
Patsy hätte dem Mann kaum Aufmerksamkeit geschenkt, wäre ihm nicht aufgefallen, dass er einen starken schwarzen Schnurrbart trug.
Das interessierte den jungen Detektiv sehr, sodass er durch das Gässchen schritt, um sich den Suchenden näher betrachten zu können. Dieser war so in seine Beschäftigung vertieft, dass er Patsy gar nicht bemerkte, selbst als dieser umkehrte und ein zweites Mal an ihm vorbeiging.
Als der junge Detektiv wieder beim Hotel angelangt war und sich umkehrte, verschwand der Diener – oder was er sonst war – in derselben Tür, aus der er einige Minuten zuvor getreten war.
»Ich möchte wissen, ob er gefunden hat, was er gesucht hat!«, brummte Patsy vor sich hin.
Damit begab er sich selbst auf die Suche. Er zählte die hinteren Haustüren auf einer Häuserseite sorgfältig ab, merkte sich, dass der Diener mit dem schwarzen Schnurrbart in der sechsten Tür verschwunden war, und begab sich daraufhin zur Hauptstraße, an der sich die Fassaden stolzer Privathäuser erhoben.
Wieder zählte er sechs Türen ab, und bei der sechsten blickte er scharf auf das glänzend polierte Metallschild an der Eingangstür, auf dem der Name Gerard stand.
»Hm!«, brummte Patsy. »Ich möchte wissen, ob der Mann aus dem Seitengässchen Gerard heißt. Übrigens ist das ein merkwürdig feines Haus für einen Bombenwerfer. Und doch wette ich meinen Kopf darauf, dass der Diener der Mann mit dem starken schwarzen Schnurrbart ist!«
Schnell begab er sich zur nächsten Straßenecke, von wo aus er das Haus der Gerards beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden, und wartete geduldig.
Es dauerte nicht lange, da kam ein Polizist auf seinem Rundgang die Straße herauf.
Als der biedere Gesetzeshüter dicht an Patsy vorbeigehen wollte, wisperte ihm dieser zu: »Ich bin einer von Nick Carters Leuten. Bleiben Sie am Rinnstein stehen und sehen Sie sich um, sodass es nicht aussieht, als sprächen wir miteinander.«
Ein Ruck an seinem Jackett genügte, um dem Polizisten sein silbernes Amtsschild zu zeigen. Gefügig stellte sich der Mann, augenscheinlich überrascht, auf, während er nach Schutzmannsart die Hände auf dem Rücken zusammenlegte und sich anschickte, einen prüfenden Blick zum Himmel zu werfen, um die Wetterprognose für den nächsten Tag feststellen zu können.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er leise.
»Ich möchte Auskunft über die Bewohner eines Hauses im Block haben, an dessen Tür der Name Gerard verzeichnet steht«, gab Patsy ebenso leise zurück.
»Allerdings, das möchte unser Polizeichef auch wissen«, brummte der Polizist. »Er ist sogar höllisch neugierig.«
»Soll das heißen, die Polizei vermag nicht dahinterzukommen, um was für Leute es sich handelt?«, erkundigte sich Patsy weiter.
»Nun, ich kann Ihnen ja sagen, was die Nachbarn davon halten – und die haben fast immer mit ihrer Meinung recht! Sie sagen, die Dame wäre in Ordnung, sie hätte nur etwas zu viel Herrenbesuch, was hier in dieser hochvornehmen Nachbarschaft stets etwas verdächtig ist. Das macht den Chef argwöhnisch. Sonst gibt es keinen Grund zur Klage, in diesem Haus ist noch nie etwas passiert!«
»Und was ist Mr. Gerard eigentlich für ein Mann?«, wollte Patsy wissen.
»Der Mann ist eine Frau – oder vielleicht auch ein Mädchen – das weiß keiner so recht. Sie sieht großartig aus, ist zum Verlieben und hat Geld wie Heu. Sie hält sich feine Equipagen und kostbare Pferde – kurzum, alles tiptop. Aber alles nur Talmi, denn sie hat keine befreundete Dame, nur Herren, und auch die sind nicht das, was man eigentlich als Gentlemen bezeichnet.«
»Lebt sie schon lange hier?”
»Seit einigen Monaten.«
»Was hält die Polizei davon?«
»Wir glauben, sie hat einen feinen, aber gefährlichen Spielsalon oder dergleichen, wo die Lebemänner ihr Geld mit Eleganz loswerden. Das ist natürlich nur eine Vermutung, wir haben keine Beweise, sonst wäre der Captain schon längst eingeschritten. Was haben Sie vor, Freund?«
»Nichts gegen die Lady selbst. Ich bin hinter einem Mann her. Er ist etwa 1,80 m groß, hat einen auffallend starken Schnurrbart und schwarze Haare. Vor einer halben Stunde sah ich ihn ins Haus treten.«
»Wahrscheinlich ist er ein Diener von ihr. Ich habe jedenfalls schon häufig einen solchen Mann neben dem Kutscher auf dem Bock sitzen sehen, wenn die Lady ausfuhr.«
»Ist Ihnen sein Name bekannt?«
»Ich denke, sie nennen ihn Henry.«
»Danke für die Auskunft. Gehen Sie übrigens die Straße hinunter?«
»Gewiss, sie gehört zu meiner Runde.«
»Wenn Sie Henry sehen, sagen Sie ihm bitte, dass hier an der Ecke ein Mann auf ihn wartet.«
»Im Ernst?«, erkundigte sich der Polizist erstaunt.
»Natürlich. Hat der Mann ein reines Gewissen, so kommt er ganz sicherlich hierher. Dann wird er mich aber nicht finden. Im anderen Fall macht er sich aus dem Staub – und dann weiß ich genau, dass es mein Mann ist. Verstanden?«
»Aha, nun weiß ich Bescheid. Ich kann ja am Haus klingeln und ihn rufen lassen.«
»Nein, nur, wenn Sie ihn auf der Straße treffen, sonst nicht!«
»All right, ich will sehen, was sich machen lässt. Einstweilen Good bye!«
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