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Dämonische Reisen in alle Welt – Kapitel X, Teil 1

Johann Konrad Friederich
Dämonische Reisen in alle Welt
Nach einem französischen Manuskript bearbeitet, 1847.

Kapitel X, Teil 1

Die französischen Wahlumtriebe Michel und Asmodi lesen dem Ausschuss der Nordbahn-Gesellschaft die Leviten. Eine Exekution im englischen Oberhaus. Michel und Thiers beim Regattafest in Havre

»Nun, zurück in Frankreich«, sprach Michel zu seinem Gefährten und rief dem starren und wohleingeräucherten Reisbimbasch ein »Auf baldiges Wiedersehen« zu, während er davonschwebte. Die beiden Luftsegler ließen sich kurze Zeit später nahe Lyon nieder und begaben sich, um einige Erfrischungen einzunehmen, in ein Café auf dem Place des Terreaux. Dort trafen sie die anwesenden Gäste in einem äußerst lebhaften Wortwechsel an, der in einen förmlichen Zank und Streit auszuarten drohte. Es betraf die neuen Wahlen für die nächsten fünf Jahre, da die Kammer in Paris soeben geschlossen und aufgelöst worden war.

»Wie gesagt«, schrie ein wohlbeleibter Mann, »diesmal heißt es, sich zu rühren, wenn wir nicht noch einmal sechs Jahre der Erniedrigung und Schmach erleben und uns endlich auch der noch übrig gebliebenen Lappen unserer schon durchlöcherten Freiheit beraubt sehen wollen.«

»Aber Thiers’ Partei darf ebenso wenig an die Macht kommen«, versetzte ein hagerer Legionär, »sonst ist es aus. Der schwindelt uns nur etwas vor.«

»Wenn die Opposition die Oberhand erhält, wer wird dann ins Ministerium kommen?«, meinte ein reformierter Bataillonschef.

»Das wird sich schon finden, das Wichtigste ist, dass wir der Opposition zuerst den Sieg verschaffen.«

»Da dürfen wir nicht säumen, denn von Norden und Süden, von Osten und Westen kommen schon die Kandidaten der Ministerialisten in Waggons auf den Eisenbahnen, in den Messagerien und mit Extraposten herbeigefahren, reich ausgestattet mit Gold und Blanketten, um zu werben.«

»Mir sollen sie nur kommen, ich will sie schon heimschicken«, sagte ein Seidenfabrikant.

»Machen Sie sich nur nicht so breit, Herr Ferrère. Wir wissen, dass erst vor ein paar Tagen ein Ministerialer für mehrere Tausend Franken Bestellungen bei Ihnen getätigt hat.

Seit acht Tagen läuft ein Individuum bei allen Wählern herum, die irgendein offenes Geschäft haben. Es kauft bei jedem für ein, zwei und mehrere Hundert Franken ein und macht ihnen Hoffnung auf noch größeren Absatz durch ihn und seine Bekannten, wenn sie den von ihm bezeichneten ministeriellen Kandidaten ihre Stimme geben.«

»Macht es die Opposition besser? Wenn sie nur das Geld dazu hätte, so würden wir bald Wunder erleben, es würde zugehen wie in England«, sagte ein ministeriell Gesinnter.

»O, es geht schon so zu«, versetzte ein anderer dieser politischen Gesinnung. »Heute Morgen erhielt ich Briefe aus Brest, in denen mir mitgeteilt wurde, dass zwei Wähler, die man im Verdacht der ministeriellen Gesinnung gehabt hatte, am Morgen des Wahltags von den Thieristen betrunken gemacht und dann den ganzen Tag in ein Zimmer eingesperrt wurden. Man rüttelte sie erst nach vollbrachten Wahlen aus ihrem Schlaf.«

»Das ist kein Wunder, die Bretonen sind halbe Engländer. Bei uns dürfte man so etwas nicht probieren, meinte ein dicker Lyoner Bauer. Der ganze Unterschied bei den Wahlen zwischen Frankreich und England besteht darin, dass bei uns die Regierung, also die Steuerpflichtigen, das Geld zur Gewinnung ministerieller Wähler hergeben müssen, während es in England die Kandidaten selbst sind, die diese Kosten tragen, sagte ein Krapphändler aus Avignon.«

»Hol der Henker die Guizotisten und Thieristen, sie taugen beide nichts«, versetzte ein anderer Kaffeegast.

»Und die Barrotisten und Rollinisten«, fügte ein Zweiter hinzu.

»Und besonders die Indifferentisten. Diese stiften durch ihre Indolenz das meiste Unheil«, sprach ein Dritter.

»Das wird auch nicht anders werden, bis unser konstitutioneller Augiasstall abermals ausgefegt wird, aber diesmal von Grund auf!«, meinte ein Marseiller.

»Sie wollen abermals eine Revolution, mein Herr? Nein, dafür danke ich. Wir haben genug davon gehabt, und nach jeder ging alles immer hundert Prozent schlechter«, sagte ein Parfümeur aus Orange.

»Aber an wem ist die Schuld?«, fragte der Marseiller.

»An wem sonst als an uns, die wir alles dulden«, fiel jetzt ein Mann von mittlerer Größe mit blitzenden Augen ein.

»Das ist Cormenin«, flüsterte Asmodi Michel zu.

Jener fuhr fort: »Wir lassen die Herren, die in Paris am Ruder sitzen, nach Gefallen schalten und walten, dass es eine Lust ist. Wenn sich unsere 220 000 Wähler daran erinnern würden, dass sie nicht sich selbst, sondern eine 34 Millionen Seelen starke Nation repräsentieren, dass ganz Frankreich hinter ihnen steht, das sein Augenmerk auf ihre Wahlen und ihr Gewissen richtet und sie selbst richtet, so würde es bald anders werden. Aber statt ihre Sendung nach Pflicht und Gewissen zu erfüllen, verfälschen sie das Gesetz, verraten das Land und unterliegen dem Einfluss der Versprechungen oder Drohungen. Der eine verkauft seine Stimme für ein Tabaklädchen, einen Inspektionsdienst, eine Freistudien-Börse für einen Sohn, Enkel oder Neffen, ein rotes Läppchen, das sie ein Ehrenzeichen nennen, bei vielen jedoch nur ein Zeichen der Entwürdigung ist, weshalb es auch wackere Ehrenmänner längst von sich geworfen haben, ein Ämtchen, einen Grad, ein Vorrücken in der Verwaltung, der Magistratur, dem Heer etc., jener verhandelt sein Gewissen für die Erlassung einer zu zahlenden Strafe, zu der er gesetzlich verurteilt ist. Der eine stimmt im Interesse seines Bezirks, seines Kantons oder seiner Gemeinde, um ein Heiligenbildchen, eine Reparatur, eine Geldunterstützung, einen Vizinalweg, ein Stückchen Eisenbahn oder Kanal usw. zu erlangen. Der andere verkauft sich für Geschenke, die er selbst erhält, für Geldvorschüsse, für die Erlassung einer Schuld, für Aktien, Prämien, Versprechungen, Lieferungen, das Austrocknen eines Morastes oder einen Kasernenbau. Kurz: Es gibt für jede Art persönlicher oder lokaler Vergünstigungen einen Abnehmer. Das System der Einmischung der Minister und ihrer Agenten in die Wahlen verfälscht seit dreißig Jahren unsere konstitutionelle Stellvertretung und macht sie zur Chimäre. Sehen wir nicht täglich, wie die meisten unserer Kammermehrheiten frech leugnen, dass es bei Nacht finster und bei Tage hell ist? Diese Majorität nimmt bescheiden einen kleinen Vorteil in Anspruch, zum Beispiel bei diesen vortrefflichen Eisenbahnen, welche die Reisenden verbrennen, zermalmen und ersäufen, bei diesen Zuschlägen von Unternehmen ohne Konkurrenz, bei diesen Lieferungen für unsere arme Armee, bei denen Prämien und Gewinn schon im Voraus gesichert sind, bei diesen Theater- und Konzertsälen, Reitbahn- und Menagerieprivilegien, bei diesen vortrefflichen Kohlengruben erster Qualität, bei diesen umfangslosen Monopolen usw., während die anderen vollkommenen Edelleute nur nach einem Sitz im Luxemburg trachten, auf den Stühlen der Crillons, der La Rochefoucauld und der Montmorency, und mit Freudentränen in den Augen an den Augenblick denken, in dem sie sich den Bauern ihres Dorfes, den Gewürzkrämern ihres Kantons, allen Hampelmännern ihres Bezirks, als Pairs von Frankreich vorstellen können! Auch ist es nur recht und billig, dass unsere Abgeordneten, nachdem sie ihren Wählern versprochen haben, alle ihre Wünsche zu erfüllen, auch an sich denken. Gut überlegt laufen sie in Paris von Vorzimmer zu Vorzimmer, nutzen die Wartesessel ab und schreiben und expedieren noch außer Atem vom Treppensteigen Freistudien, Tabakverkäufe, Anstellungen, Inspektionen, Büsten, Versprechungen aller Art, ja mehr Stellen, als es Ämter in den Departements gibt, mehr Spitäler, als es Kranke gibt, mehr Kasernen, als es Truppen gibt, mehr Schulen, als es Schüler gibt!

Die Briefe werden abgeschickt und erreichen ihre Empfänger. Von Haus zu Haus werden sie von den entzückten Vätern und Großvätern ihren Söhnen, Enkeln, Eidamen, den Verlobten der Töchter, den Oheimen und Großoheimen, Tanten und Großtanten, allen Vettern und Basen bis ins zehnte Glied mitgeteilt. Die ganze Sippschaft der Wähler jubelt und ruft Hosianna! Alles ist im Freudentaumel, jeder will das werte Schreiben sehen, befühlen und sich mit eigenen Augen von dessen Inhalt überzeugen, dass die Dinge wirklich so gut stehen.

Ist es nicht so, so hänge man mich!

Jedermann weiß, dass man als Deputierter mit einem Einkommen von 5000 Franken, mag man auch noch so sehr ein Kammerzinzinatus sein, nicht bestehen kann. Da will man auch außerhalb der Kammer repräsentieren, die Madame will an den Hof gehen – woher die kostbare Toilette nehmen? Und müssen die Söhne nicht in den Pariser Colleges studieren? Wer soll die teure Pension bezahlen? Welche Tugend kann solchen Versuchungen standhalten? Deshalb hat man in den ministeriellen Vorratskammern Kleider für jede Größe und jeden Wuchs, mit mehr oder weniger Stickereien versehen, wie bei den Schacherjuden alter Kleider und Borten. Dieser Advokat möchte sich gerne in das Richtergewand werfen, jener hat einen Eidam, einen vortrefflichen, einen herrlichen Eidam, der als Schwiegersohn unübertrefflich ist, ein anderer möchte für seinen ebenso klassischen Sohn, der die schönsten Hoffnungen weckt, eine Börse für ein Freistudium verlangen. Dieser ist in den Pairsmantel, jener in dicke Epauletten vernarrt, oder er möchte Ritter, Offizier oder Kommandeur der sogenannten Ehrenlegion werden. Ein anderer, der das Positive mehr liebt, möchte Lieferungen machen!

Elende Umtriebe, die aus ganz Frankreich ein armseliges Trödelhaus, eine Schacherbude, einen Judenstaat gemacht haben und ihren Urhebern am Ende am verderblichsten werden müssen. Alles hat seinen Preis. Man will die ministerielle Politik wohl unterstützen, aber um welchen Preis? Man will zuerst seine eigenen Schäfchen scheren und hat wie auf dem Pult eines Bankiers sein Haupt- und Kassabuch vor sich, in das man nach Art der doppelten Buchhaltung das Soll und Haben der Herren Minister einträgt. Da findet sich so und so viel für leises Murren, für lautes Murren, für leise Bravo-Rufe, für starke Bravo-Rufe, für den Beifall der ministeriellen Reden, für die Besprechungen in den Gängen, für die öffentlich vernehmbare Abstimmung! Man erkennt das große Talent, die hohen Tugenden, die außerordentliche Beredsamkeit und das vortreffliche System der Herren Minister an. Aber man ist auch nicht unempfindlich für die Belohnungen, die eine solche Anerkennung verdienen. Diese können eine Requetenmeisterstelle, ein Richteramt erster Instanz, ein paar Oberstenepauletten, ein Zahlmeisteramt oder ein Generalat sein, ohne dass man sich durch besondere Verdienste, wohl aber durch gewisse Dienste dazu berechtigt glaubt. Wenn der Herr Minister sich sogar herablässt, Heiraten zu stiften, und euch dabei hilft, eure Tochter mit der guten Stelle zu verheiraten, die er eurem zukünftigen Schwiegersohn gibt, so verdient dies gewiss den unbegrenztesten Dank und die gewissenloseste Ergebung!

Man hänge mich auf der Stelle, wenn das nicht so ist!

Ein rechter Tor, dieser Minister, der glaubt, dass die Abgeordneten auf den hinteren Bänken mit ihm wandern, während er auf dem französischen See, wie man das Mittelmeer wohl nur spöttisch genannt hat, mit seinen Gedanken herumsteuert. Oder dass sie sich mit ihm in die spanisch-japanischen Heiratsangelegenheiten vertiefen oder auch nur daran denken, ihm sein Portefeuille zu erhalten. Sie haben ganz andere Dinge im Sinn, diese Abgeordneten. Es sind ihre eigenen Angelegenheiten, die sie unaufhörlich beschäftigen. Wähler und Gewählte sollten sich nicht Mühen und Gefahren aussetzen, um etwas zu erlangen, das sie weit billiger erhalten können. Warum dem Yatagan der Araber trotzen, wenn man auf einem Bankett in der Kammer alle militärischen Grade durch ein Abstimmen erlangen kann? Wozu in den Gerichtshöfen unter der Toga schwitzen, damit irgendein Bevorzugter aus der Kammer euch die Früchte eures Schweißes, eurer Arbeit, eurer Erfahrung vor der Nase wegschnappt? Wenn sie es auch nicht sagen, so ist es doch das, was alle Beamten, alle Magistratsmitglieder, alle Offiziere, die keine Deputierten sind und es auch nicht sein wollen, denken. Man hänge mich, ich wiederhole es, nachdem man mich schon gehängt hat! Denn ich werde gehängt werden, ja, ich weiß es. Es bleibt denen, die sich haben bestechen lassen und in dem Gemansche der Beamtenwelt verliederlicht sind, nichts anderes übrig, als mich aufzuknüpfen, um mich zu hindern, die Wahrheit zu sagen. Wenn ich diesen Ort verlasse, müssen sie mich zum Galgen führen und mich dann an den Füßen herabzerren, um den letzten Schrei der Wahrheit und meines Gewissens zu ersticken. Man muss sehen, wie in diesem Wahlteig von 200 Franken herumgeknetet wird! Kein Wähler, der nicht irgendeine Kreatur, Sohn oder Eidam, auch mehrere, zu platzieren hätte, sei es auf seinem Pachthof oder von seinen Einkünften oder Renten lebend.

›Wir müssen für die Ministeriellen stimmen!‹, sprechen sie, denn mit diesen ungeleckten Bären von der Opposition, mit diesen ewig brummenden, nimmersatten Werwölfen erlangt man nichts, gar nichts, nicht einmal ein Heiligenbildchen! So sprechen diese Wähler.

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