Die letzte Fahrt der FLYING SCUD – Kapitel 9
Die letzte Fahrt der FLYING SCUD
Eine spannende Geschichte aus alten Freibeuterzeiten
Von einem alten Hasen geschrieben
Kapitel IX.
Das Ende von Uriah, dem Zimmermann
Kidd stand auf dem Achterdeck und blickte mit besorgter Miene aufs Meer hinaus. Er hatte beschlossen, dass die FLYING SCUD ihm gehören sollte – und das sollte nicht mehr lange dauern.
Es war zwar möglich, dass die FLYING SCUD einen südlicheren Hafen ansteuern würde, aber es war kaum wahrscheinlich, denn Kidd wusste, dass ihr Kapitän so schnell wie möglich Bericht über seine Reise erstatten wollte.
Stunde um Stunde verging, doch von dem Schatzschiff fehlte jede Spur. In seiner Aufregung hatte Kidd seinen jungen Gefangenen Oliver völlig vergessen, bis Dragon ihn daran erinnerte, dass das Wetter gerade richtig für eine neue Ablenkung sei.
»Welche schlägst du vor?«
»Warum lässt du Oliver nicht in die Takelage tanzen?«
»Gut! Schick ihn her.«
Dragon war viel zu erfreut über den Auftrag, um zu hinterfragen, wie der Junge seine Freiheit erlangt hatte. Er wusste nur, dass einer seiner verhassten Feinde in wenigen Minuten jede Macht verlieren würde, ihm Schaden zuzufügen.
»Der Kapitän will dich sprechen«, sagte er mit rauer Stimme.
»An Deck?«
»Natürlich. Du glaubst doch nicht, dass er dich in seine Kabine einlädt. Wenn es das Mädchen gewesen wäre, hätte er wohl ein ruhiges Gespräch in der Kabine bevorzugt, aber …«
Dragon beendete den Satz nicht, denn er lag auf dem Deck, seine Fersen hoch über dem Niveau seines Körpers. Er wusste nicht, was ihn getroffen hatte, aber einige der Crew hatten gesehen, wie ein schneller Arm ausschlug und Dragon im nächsten Moment auf dem Rücken lag.
Als Dragon sich aufsetzte, sah er Oliver über sich stehen. Er hatte die Fäuste geballt und die Zähne fest zusammengebissen.
»Steh auf, du Hund!«, rief er, als er Dragons Überraschung sah. »Steh auf, und ich werde dir beibringen, dass eine Dame jemanden hat, der ihren Namen schützt – selbst auf einem infernalischen Schiff wie diesem!«
Dragon hatte es nicht eilig, aufzustehen, denn er war so unerwartet gefallen, dass er den Sturz nicht abfangen konnte.
»Steh auf! Ich kann dich nicht schlagen, während du am Boden liegst. Was, du willst dich nicht bewegen? Dann werde ich dich dazu bringen.« Oliver legte seine Arme um Dragons Taille und zog ihn in eine aufrechte Position.
Kaum stand Dragon auf den Füßen, sprang Oliver einen Schritt zurück, um mehr Kraft zu bekommen. Er schlug erneut aus und wieder lag der große Pirat auf dem Rücken.
»Gib mir eine Chance!«, rief Dragon. »Und ich werde dich töten!«
»Nimm ein Schwert, denn du oder ich werden diesen Streit heute beenden.«
Dragon hatte keine Lust, sich zu duellieren. Er konnte ohne Gewissensbisse morden und dachte nie daran, dass sein Opfer leiden könnte. Aber ein Duell war eine andere Sache, denn dabei konnte er verletzt werden.
»Ich werde nicht gegen einen Landrattenhund kämpfen!«, rief er zornig.
»Wenn du dich nicht verteidigst, werde ich dich wie Ungeziefer durchbohren, das du bist!«
Oliver hatte einen Säbel aufgehoben und stand bereit, sich in ein tödliches Duell zu stürzen. Dragon wollte sich davonstehlen, doch dann tauchte Kapitän Kidd auf und beobachtete das Manöver.
Er schritt auf Dragon zu, legte ihm einen Säbel in die Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Kämpfe und töte ihn, es wird eine neue Aufregung sein.«
»Aber er ist jünger und könnte mich töten …«
»Die RED RAVEN kann auch ohne dich segeln. Kämpfe, sage ich, und befreie mich von diesem jungen Hund.«
»Ja, kämpfe! Kämpfe!«
»Er ist zu feige«, sagte Oliver höhnisch.
»Dragon, ein Feigling?«
»Ja, er kann Mädchen und Gefangene ermorden, aber er hat Angst vor einem offenen Kampf.«
Der Spott des Jungen war zu viel für den großen Piraten. Er ergriff die Waffe und stürmte auf Oliver zu, als könnte er ihn durch seine Kraft überwältigen. Doch Oliver trat zur Seite und Dragon fiel kopfüber auf das Deck. Sein Fuß rutschte genau in dem Moment, als sein Säbel keinen Widerstand fand.
Es gab ein lautes und herzhaftes Gelächter von der Crew, und selbst Kidd stimmte in die Heiterkeit ein. Das war zu viel für Dragon, dessen Blut nun in Wallung geraten war.
Er sah, dass er nicht zu ungestüm sein durfte. Also maß er die Distanz ab und wartete auf Olivers Angriff.
Die Kämpfer waren gleichwertig, denn was Oliver an Gewicht verlor, machte er durch seine Geschicklichkeit mit dem Schwert mehr als wett, als Dragon ruhig war.
Die Schwerter kreuzten sich erneut und der große Pirat setzte all seine Kraft ein.
Es gab einen schnellen Wechsel von Stoß und Parade zum mächtigen Abwärtshieb, der besonders tödlich ist, wenn der Säbel als Waffe gewählt wurde.
Sie kämpften einige Momente lang mit nahezu gleichem Erfolg, gaben und erhielten leichte Wunden. Als Dragon bei einem heftigen Angriff auf Oliver ausrutschte, drohte der Säbel des Jungen herabzufallen.
Wäre dieser Schlag gefallen, hätte Dragon nie mehr ein Enterkommando geführt oder eine Kanone unter der Totenkopfflagge abgefeuert. Doch das Schwert fiel nicht, denn Olivers Hand wurde von hinten gepackt und in einem stählernen Griff gehalten. Der Bucklige hatte den Kampf gestoppt, denn Kidd nahm den Hinweis auf und rief: »Genug! Genug!«
Dragon wollte nicht aufgeben. Hätte sich Kidd nicht vor ihn gestellt, hätte er Oliver getötet – selbst, während er vom Buckligen festgehalten wurde.
»Ein Segel, Sir!«, kam es vom Ausguck.
»Wo?«
»Backbord, südöstlich von uns.«
Dragon wurde befohlen, das Segel im Auge zu behalten, und Oliver wurde vergessen.
»Warum hast du mich aufgehalten?«, fragte er den Buckligen.
»Dragon ist zu schlecht für einen solchen Tod. Er muss über die Planke gehen oder einen lustigen Tanz in der Luft aufführen, wenn er stirbt.«
»Du sagst das, und du bist Teil der Crew?«
»Ich hasse ihn! Ich würde ihn mit eigenen Händen töten, bevor die Hundewache, wäre da nicht die Hoffnung, ihn gehängt zu sehen.«
»Was für eine liebevolle Crew das ist! Man könnte meinen …«
»Wir sind alle Mörder, das ist wahr. Wir kümmern uns nicht um das Leben und für Gold würden wir sogar Kidd töten.«
»Also ist das das Band, das euch zusammenhält?«
»Ja, und was ist besser als Gold? Ohne Gold würden wir verhungern. Alles in dieser Welt wird für Gold getan.«
»Nein, nein, Menschen arbeiten aus Liebe zur Menschheit.«
»Engel vielleicht, aber Gold ist es, nach dem alle streben: Der Geizhals will es behalten, der Großzügige will es verschenken, Frauen wollen es für schöne Kleider und Männer brauchen es für Macht. Der Entdecker steckt seine Nase in den Boden, nicht um neue Schönheiten zu entdecken, sondern um Gold zu finden – alles ist für Gold!«
»Aber wahre Männer morden nicht für Gold, nur die Verdorbenen tun das.«
»Einige werden einen Mann verleumden und ihm seinen guten Namen nehmen, wenn sie genug dafür bezahlt werden. Ein König wird für Gold Krieg führen und Tausende seiner Leute töten. Ha, ha, ha! Wir versenken Schiffe und lassen den Kapitän über die Planke gehen, nur um an Gold zu kommen.«
»Alle Mann auf Station!«
Der Befehl des Bootsmanns beendete die philosophischen Betrachtungen des Buckligen, denn auch er musste den anderen gehorchen.
Miriam hatte das Gespräch miterlebt und auch das Duell. Sie schaffte es, zu Oliver zu schlüpfen und ihm zuzuflüstern: »Ich hatte solche Angst, er könnte dich töten.«
»Hattest du?«
»Ja, denn wenn er das getan hätte, hätte ich gedacht, es wäre alles meine Schuld.«
»Wie könnte das sein?«
»Ich habe die Fesseln gelockert und dir die Gelegenheit gegeben, diesen schrecklichen Dragon zuerst anzugreifen.«
»Aber er hat dich beleidigt, ich meine …«
»Ich habe alles gehört. Ich danke dir, dass du meinen Namen verteidigt hast. Aber, Oliver, ich wünschte, ich könnte etwas von dem Zeug bekommen, das die Neger in meinem Land haben. Dann hätte ich keine Angst mehr.«
»Welches Zeug ist das?«
»Nun, sie kauen ein wenig davon, schlafen ein, vergessen all ihre Sorgen und wachen nie wieder auf. Sie wissen nur, dass sie einschlafen.«
»Und du willst etwas davon?«
»Ich würde alles, was ich besitze, dafür geben. Denn sollte es dir nicht gelingen, mich zu befreien, könnte ich meine Ehre retten und mein Leben ohne Schmerz verschlafen.«
»Sprich nie wieder so, Miriam. Ich werde dich retten und Thad …«
»Wo ist er?«
»Wir werden ihn wiederfinden, da bin ich sicher. Er wird nie vergessen, dass du gerettet und zu deinem Vater zurückgebracht werden musst.«
»Möge der Himmel mir diesen Segen bald senden.«
»Geh in deine Kabine. Halte deine Pistole geladen und hab keine Angst, sie zu benutzen, sollte jemand dich stören. Ich hoffe allerdings, dass du nie gezwungen sein wirst, selbst einen mörderischen Piraten zu verletzen.«
Auf dem Deck war alles in Bewegung. Oliver musste Miriam verlassen und sich den Aufgaben widmen, die ihm zufielen.
Es war offensichtlich, dass Vorbereitungen für einen Kampf getroffen wurden, obwohl die RED RAVEN gut getarnt war und selbst bei genauer Untersuchung als Handelsschiff durchgehen würde.
Ihre Kanonen wurden überprüft und mit schweren Kugeln geladen. Die Pulverknechte brachten Munition an solche Stellen, dass jede Kanone schnell und ohne Verzögerung bedient werden konnte. Das Deck war mit Sägemehl bestreut, um zu verhindern, dass jemand ausrutschte, sollte der Kampf auf kurze Distanz stattfinden und Blut vergossen werden.
»Segel losmachen, schnell jetzt! Wir müssen dieses Schiff schnell überholen!«, rief Kidd.
Sofort waren die Wanten mit flinken Gestalten bedeckt, die sich in die Takelage begaben, wo die Rahen weit über die Seiten des Schiffes und über das Meer hinausragten.
Die Crew war gut gelaunt, denn ihre Vorstellungskraft war durch Geschichten über den reichen Schatz, den die FLYING SCUD transportierte, beflügelt worden. Außerdem wussten sie, dass sie in einen Kampf mit einem Feind verwickelt waren, der sich rühmen konnte, noch nie besiegt worden zu sein. Es gab nichts – vielleicht abgesehen von Gold selbst –, das diese Männer mehr liebten als einen Kampf.
Sie sprangen voller Eifer, um die Befehle des Kapitäns auszuführen. Als das schwere Segeltuch von den Rahen fiel, legten sich die Männer in die Takelage. Schoten und Fallen wurden bedient und das gute Schiff RED RAVEN glitt so anmutig wie ein Schwan, aber mit der Schnelligkeit eines Rennpferdes, durch das Wasser.
»Es ist die FLYING SCUD«, sagte der Mann, der sich bereit erklärt hatte, Kidd bei der Eroberung des Schatzschiffs zu helfen.
Kidd schaute in die angegebene Richtung und sah eine elegant aussehende, leicht bewaffnete Brigg westwärts segeln.
»Sie ist eine Schönheit.«
»Ja, und wären wir fünfhundert Meilen weiter östlich, würde ich sagen: ›Rette sie!‹, denn sie wäre wertvoll.«
»Gute Idee. Halte sie als Teil einer Flotte von Freibeutern. Ich nehme an, du hättest nichts dagegen, als Kapitän zu fungieren?«
»Du brauchst nicht zu spotten, Kapitän Kidd. Ich habe schon viele so feine Schiffe wie die RED RAVEN gesegelt und wer weiß, vielleicht habe ich sogar ein Schiff namens ADVENTURE navigiert.«
Beim Erwähnen dieses Namens zuckte Kidd plötzlich zusammen und schaute den Mann scharf an.
»Wer zum Teufel bist du?«
»Ha! Ha! Ha! Ein Piratenkönig sollte ein gutes Gedächtnis haben. Erinnerst du dich nicht an einen gewissen Zimmermann, der sich weigerte, ein so gutes Schiff wie jenes, das je unter spanischer Flagge gesegelt ist, zu versenken?«
»Uriah! Nein, das kann nicht sein. Und doch schien ich dein Gesicht zu erkennen, selbst als ich dich zum ersten Mal sah.«
»Ja, sie nannten mich damals Uriah, aber jetzt …«
»Ja, jetzt? Unter welchem Namen bist du bekannt?«
»Das spielt keine Rolle, Kapitän Kidd. Ich habe dein Spiel ausprobiert und war ziemlich erfolgreich, aber ich sehne mich nach größeren Siegen. Vielleicht möchte ich auch ein gutes Schiff kommandieren, die FLYING SCUD zum Beispiel.«
Kidd zitterte, denn er war nervös. Er erinnerte sich daran, dass Uriah geschworen hatte, ihn zu ruinieren. Jetzt waren sie beide auf demselben Schiff und Kidd begann zu fürchten, er sei in eine Falle gelockt worden und die FLYING SCUD sei in Wirklichkeit ein Kriegsschiff der Regierung und kein mit Schätzen beladenes Schiff.
»Dragon, hier!«, sagte er.
»Aye, aye, Kapitän.«
»Schick fünf der besten Männer, die du hast. Ich habe eine wichtige Aufgabe für sie.«
»Aye, aye«, murmelte Dragon und fügte hinzu: »Ich frage mich, was er jetzt vorhat.«
In wenigen Minuten erreichten Dragon und fünf halb wilde Piraten das Achterdeck.
»Ergreift ihn!« Dragon zeigte auf Uriah.
Sofort wurde Uriah, der Zimmermann, gepackt und zu Boden geworfen.
»Habt Erbarmen! Was habt ihr mit mir vor?«, schrie der Mann in Agonie.
»Was? Was ich hätte vor zwei Jahren tun sollen – dich erschießen oder über die Planke gehen lassen.«
Uriah schrie nach Erbarmen. Seine Schreie erfüllten die Luft, aber niemand kam ihm zu Hilfe. Oliver hatte eine Abneigung gegen den Kerl entwickelt und war daher nicht besonders interessiert. Hätte er jedoch geglaubt, dass das Leben des Mannes tatsächlich in Gefahr war, hätte er eingegriffen.
Ein Brett wurde über die Heckreling hinausgeschoben und ein schweres Gewicht an die Beine des unglücklichen Uriah gekettet.
»Rettet mich! Rettet mich! Männer, ich war ein alter Kamerad an Bord der ADVENTURE. Rettet mich, und wir werden dieses Schiff erobern, und ihr sollt den ganzen Schatz an Bord haben.«
Die Männer schauten Kidd an und lachten nur.
»Jetzt, dann, schnell«, rief Dragon. »Schade, dass ich keine Kapelle an Bord habe, sonst könnte sie den Schurkenmarsch spielen. Aber wie es ist, werde ich Cyrus pfeifen lassen, wenn du denkst, dass es dir Trost spendet.«
»Erbarmen! Erbarmen! Rettet mich, und ich werde euch zeigen, wo ein Teil des Schatzes des Kapitäns versteckt ist.«
»Schnell!«, rief Dragon erneut und gab dem Mann gleichzeitig einen scharfen Stoß mit dem Säbel, sodass ein kleiner Blutstrom durch sein Gewand lief. »Jetzt, dann, schnell, über mit ihm!« Und wieder gab es einen Stoß, die Spitze ging ein wenig weiter hinein.
Der Rand der Reling wurde erreicht und der Mann stieß einen letzten, durchdringenden Schrei nach Erbarmen aus. Im nächsten Moment gab es ein Platschen, das Wasser strudelte kurz und Uriah, der ehemalige Zimmermann, war auf dem Grund des Meeres.
»So geht man mit solchen Leuten um«, rief Kidd, als er in seine Kabine zurückkehrte und sich auf seine luxuriöse Couch warf.
Der Mann war ein wertloses Mitglied der Gesellschaft, aber das war keine Rechtfertigung für seinen Mord. Oliver machte sich eine Notiz über alle Umstände, um sie in Zukunft gegen den Kapitän verwenden zu können, dem er offiziell diente.
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