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Der Detektiv – Band 30 – Der Stern von Siam – Kapitel 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Stern von Siam

5. Kapitel
Der Trieb der Malcapier

Wir drei standen nun dicht beieinander im Kessel. Harst berichtete im Depeschenstil: »Noch eine Viertelstunde haben wir Zeit für die Ausführung meines Planes. Die Prau ist nämlich schon in Sicht, wenigstens ihre Positionslaternen. Aber ein anderer Dampfer kommt uns mit Kurs auf Lakon entgegen. Den müssen die Piraten erst vorüberlassen. Die Sachlage ist Folgende: Der größere Teil der Besatzung ist im hinteren Laderaum von den Chinesen eingesperrt worden, die die beiden Ausgänge verrammelt haben. Wie viele Opfer der Kampf gefordert hat, kann ich nicht sagen. Die Passagiere sind in ihre Kabinen eingeschlossen. Zurzeit sind die sämtlichen Chinesen bis auf drei im Speisesaal dabei, ein Rumfass zu leeren. Ich vermute, man macht sie absichtlich betrunken. Man will sie eben als lästige Teilhaber an der Beute nachher, wenn sie sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken haben, mit dem Dampfer in die Tiefe schicken. Eine andere Erklärung gibt es für dieses Gelage kaum. Die Maschinen dürften von dem bisherigen Personal bedient werden, das man mit der Waffe dazu zwingt. Ich nehme an, die drei im Speisesaal fehlenden Chinesen spielen im Maschinenraum die Wachen. Auf der Brücke des STERN VON SIAM befinden sich als Kapitän der Steward Pegrier und als seine Gehilfen zwei Matrosen des Dampfers, zwei Siamesen, die also seine Verbündeten sind!«

»Und die Malcapier?«, warf Jobster hastig ein.

»Ja – da bin ich doch auf dem Holzweg gewesen«, meinte Harst sehr langsam und mit jenem zerstreuten Gesichtsausdruck, der bewies, dass seine Gedanken anderswo weilten. »Die Malcapier ist jedenfalls völlig unsichtbar. Aber …«, eine kurze Pause …, »an Bord befindet sie sich bestimmt. Sie hält sich nur zurück.«

»Was heißt das?«, fragte ich achselzuckend. »Wenn sie hier die Oberleitung hat, denn …«

»Oh – ihr Spiel ist vielleicht sehr, sehr fein!«, fiel mir Harald ins Wort. »Nun – das wird sich ja bald zeigen, ob ich recht habe, ob sie nämlich wirklich so überaus vorsichtig ist, dass sie …«

Er machte eine kurze Handbewegung und fügte hinzu: »Lassen wir all die überflüssigen Worte. Wir müssen ans Werk.«

Wir verließen gleich darauf unser Versteck. Der Dampfer führte nun die vorschriftsmäßigen Laternen, um bei dem ihm entgegenkommenden Schiff keinen Verdacht zu erregen. Wir krochen einer hinter dem anderen auf die Treppe der Brücke zu. Vom Achterdeck her ertönte aus dem Speisesaal das Johlen der trunkenen Chinesen. Jobster als Amtsperson hatte nun den Vortritt. Er und Harst hatten sich mit dicken Holzenden bewaffnet, die dem Kessel als Stützen gedient hatten. Die Schusswaffen trugen sie in der Linken.

Die Überrumpelung der drei Leute auf der Brücke gelang vollkommen. Allerdings machte Jobster dabei weiter keine Umstände, schlug Pegrier und einen Siamesen nieder, dass sie sofort umsanken. Der Siamese starb sehr bald. Der Hieb war doch zu kräftig gewesen. Harst hatte den Dritten erledigt. Im Nu waren ihnen Arme und Beine gebunden. Wir warfen sie einfach in das Steuerhäuschen. Dann blieb Jobster, der von uns am meisten vom Seemannshandwerk verstand, als Steuermann am Rad zurück. Wir beide eilten nun zunächst hinab ins Vorschiff und entfernten die Barrikade, die die Kulis vor der einen Tür des Laderaums aus vollen Ölfässern errichtet hatten.

Neun Mann der Besatzung kamen uns entgegen, darunter auch Kapitän Tompson, der eine Revolverkugel in den linken Oberarm erhalten hatte. Bei dem Kampf waren vier Leute getötet worden. Die anderen hatten sich dann vor den Revolverschüssen der gelben Bande in den Laderaum zurückziehen müssen.

Die Leute waren ungeheuer erbittert. Harst konnte sie nur mit Mühe von Unüberlegtheiten zurückhalten.

Ich will die nächsten Ereignisse hier nur kurz streifen. Es kommt mir nicht darauf an, abenteuerliche Szenen zu schildern, sondern mehr die feine geistige Arbeit Harald Harsts zu beleuchten.

Die im Speisesaal um das Rumfass versammelten Kulis waren nicht mehr fähig, sich zur Wehr zu setzen. Diese zwölf Chinesen lernten nun sehr nachdrücklich die Wirkung von Handspeichen kennen. Vier von ihnen vergaßen das Aufstehen. Dann wurden auch die Wächter des Maschinenraums unschädlich gemacht. Der STERN VON SIAM befand sich nun wieder in der Gewalt der rechtmäßigen Besatzung.

Auf Harsts Befehl, dem Tompson alle Anordnungen überließ, wurden die Passagiere noch in den Kabinen gelassen mit Ausnahme der Frau Jobster und des Chinesen Schang – so hieß der Polizeispitzel, der den Inspektor begleitet hatte. Die Besatzung verfügte nun wieder über so viele Revolver, dass jeder Mann sich mit zwei bewaffnen konnte.

Der fremde Dampfer war inzwischen vorübergerauscht. Nun wurde bei uns wieder nur die eine rote Laterne gezeigt. Schräg vorwärts auf der Backbordseite schimmerte das grüne Licht der Prau.

Harst hatte soeben zwei Matrosen leise einen Befehl erteilt. Sie verschwanden im Mittelschiff, wo unter der Brücke die Maatkabinen lagen, von denen wir ja vorher Nr. 1 innegehabt hatten.

Dann steuerte der STERN VON SIAM der Prau entgegen. Alles war bereit. Jobster als englischer Staatsdetektiv war ganz damit einverstanden gewesen, dass wir die Prau, mit deren Besatzung wir uns auf einen Kampf nicht einlassen wollten, rammen sollten. Piraten schont man nirgends. Das internationale Seerecht bestraft Seeräuberei mit dem Tod.

Tompson stand oben auf der Brücke am Maschinentelegrafen. Der Erste Steuermann bediente das Rad. Die Besatzung war hinter der Reling des Vorschiffes so verteilt, dass sie ein Hinüberentern der Leute der Prau leicht verhindern konnte.

Wir drei, – Jobster, Harst und ich – beobachteten gleichfalls von der Brücke das nun folgende Schlussdrama für das Piratenschiff.

Die beiden Fahrzeuge näherten sich schnell. Die See ging nur wenig hoch.

Noch 200 Meter – 100 Meter –, da beschrieb der STERN VON SIAM einen kurzen Bogen. Tompson hatte das Manöver tadellos berechnet. Mit voller Maschinenkraft lief der Dampfer nun auf die Prau zu. Dort mochte man Unrat wittern, wollte dem drohenden Verhängnis noch ausweichen. Es war zu spät.

Wir klammerten uns am Geländer der Brücke fest; ein furchtbarer Krach: der STERN VON SIAM hatte die Prau mittschiffs getroffen; seine Räder schlugen nun rückwärts; gleichzeitig feuerten die Matrosen unablässig auf die dunklen Gestalten, die sich an Deck des Piraten zeigten.

Ein wildes Gebrüll scholl von dort her, wo nun die Prau mit einem Riesenleck schnell voll Wasser lief. In drei Minuten sackte sie weg. Tompson ließ nun mit dem Scheinwerfer die See ableuchten. Fünfzehn Mann fischten wir noch heraus. Ling-Tuan war nicht dabei; er war mit dem Tschi-Makra in die Tiefe gegangen.

Und nun endlich bewies Harst, dass Eugenie Malcapier wirklich an Bord war. Jobster und Tompson mussten mitkommen. Harst führte uns vor die Kabine Nr. 1, klopfte. Es öffnete einer der beiden Matrosen, denen Harst vorhin so leise einen Befehl gegeben hatte.

Wir traten ein. In der Kabine brannte die Deckenlampe. Im rechten Kojenbett lag der kranke Sohn des Plantagenbesitzers Barons von Saint-Lauchere, ein blasser, schwarzhaariger Mensch mit dunklem Schnurrbart. Der Vater saß neben seinem Bett. Der zweite Matrose, den Revolver in der Hand, stand neben der Tür.

Der alte Baron sprang sofort auf, rief Tompson erregt zu: »Kapitän, weshalb wenden wir hier wie die Verbrecher bewacht?! Ich werde …«

»Weil Sie Verbrecher sind!«, schnitt Harst ihm schon das Wort ab. Dann trat er auf das Bett zu, riss dem Kranken die schwarze Scheitelperücke ab.

Eine Fülle rotblondes Haar löste sich nun, umrieselte das Gesicht des angeblich Schwerleidenden, der nun auch plötzlich schnurrbartlos war.

»Eugenie Malcapier!«, sagte Harst. »Ich kann Ihnen nur meine Hochachtung aussprechen: Sie hätten beinahe das Spiel gewonnen. Sie waren sehr vorsichtig. Als Sie an Bord kamen, ahnte nicht mal Ihr Verbündeter Pegrier, dass der junge Baron von Saint-Lauchere ein Weib war. Ich habe Pegrier soeben kurz verhört. Er sagte mir, er hätte alle Befehle auf sehr geheimnisvolle Weise hier an Bord durch Zettel mit Ihrer Handschrift erhalten; er wüsste nicht, wo Sie hier steckten und welche Verkleidung Sie trügen. Ja – sehr vorsichtig waren Sie. Sie wollten erst wieder gesund werden, sich dann erst Ihren Genossen als Eugenie Malcapier zeigen, wenn dieser Anschlag gegen den STERN VON SIAM vollständig geglückt sein würde. Sie fürchteten Zwischenfälle, vielleicht – fürchteten Sie mich, den Sie doch in Lakon hatten von Bord gehen sehen! Als ich Sie hier nicht als Herrin des Schiffes fand, wie ich angenommen hatte, als ich Pegrier als den Führer der Piraten hier feststellte und Sie unsichtbar waren, da ging ich in Gedanken die Ereignisse bei der Landung in Lakon nochmals durch, und da – hatte ich Sie entdeckt: Nur der junge kranke Baron konnte Eugenie Malcapier sein, nur Ihr erfinderisches Hirn konnte diese schlaue Krankenkomödie ersonnen haben! Es musste eine Komödie sein, wie ich mir gleichzeitig überlegte, denn welcher Vater wird einen schwerkranken Sohn von Lakon nach Singapore zur Operation bringen, wo er doch in dem bequemer und schneller zu erreichenden Bangkok genau so gute Ärzte findet! Dieser Umstand, eben dass der Kranke gerade nach Singapore geschafft wurde, machte mich stutzig. Und von diesem ersten Argwohn bis zu völligen Gewissheit war nur ein Schritt!«

Dann wandte Harst sich an den angeblichen Vater.

»Ich erkenne Sie wieder, Charles Malcapier!«, sagte er rasch. »Sie müssen aus dem Bangkoker Gefängnis entwichen sein, wobei wohl Bestechung Ihre Flucht erleichtert hat.«

Der graubärtige Herr senkte den Kopf und schwieg.

Jobster verhaftete die beiden. Bei der Durchsuchung ihres Gepäcks wurden auch die acht Edelsteine gefunden, die nun wieder den Baldachin der Buddha-Statue des P’hrabat–Klosters schmücken.

Fünf Tage später waren wir in Singapore. Hier nun beschäftigte sich Harst mit der Aufklärung des Mordes an Admiral Stevenpole. Was dabei herauskam, mag erzählt werden in:

Die Matsoa-Spinne.

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