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Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 6

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 6
Nick Carters Gefangennahme

»Aber warum hast du den Burschen nicht verhaftet?«, erkundigte sich Chick unter einem tiefen Atemzug.

Nick schien ihn nicht zu hören, sondern deutete stattdessen zum Fenster.

»Die Equipage mit den Apfelschimmeln fuhr gerade wieder am Hotel vorbei«, bemerkte er.

»Ich bitte dich, Nick!«, versetzte der andere ungeduldig. »Welchen stärkeren Schuldbeweis willst du noch? Bevor wir das Haus verließen, wusstest du, dass das gummierte Papier diesen Elenden überführen musste. Warum hast du ihn nicht auf der Stelle verhaftet? Ich merkte wohl, wie du ihn und diesen Melville glauben gemacht hast, dein Argwohn sei gegen Miss May gerichtet. Doch nie und nimmer dachte ich, du würdest den Kerl in Freiheit belassen!«

»Ich sagte, die Equipage mit den Schimmeln fuhr gerade wieder vorüber«, bemerkte Nick ruhig.

»So?«, fragte Chick stutzig, »dann scheint die Sache doch noch tiefer zu liegen, als ich bisher vermutete, denn ich kenne dich doch, Nick!«

»Nun verstehst du mich, Chick«, meinte der Detektiv gewichtig. »Wir haben es mit einem tief angelegten Plan zu tun, von welchem die Ermordung des alten Glenn nur ein Bruchstück ist. Wir müssen Licht in das ganze Schuldgewebe bringen, Chick!«

»Du meinst, es sind noch andere Personen beteiligt?«, erkundigte sich Chick.

»Gewiss, zumal heute Morgen unter meinen Wagen eine Bombe geworfen wurde.«

»Allmächtiger!«, stammelte Chick und fasste besorgt Nicks Hand. »Eine Bombe – und für dich bestimmt?«

»Gewiss«, bemerkte der Detektiv gemütsruhig. »Zuerst dachte ich nicht an einen Zusammenhang, sondern glaubte, irrtümlich die für einen Dritten bestimmte Medizin verordnet erhalten zu haben. Immerhin setzte ich Patsy auf die Fährte und bin begierig, was er zu melden haben wird. Was mich anbelangt, so glaube ich jetzt, dass Melville entweder die Bombe selbst geschleudert oder einen Strolch zu diesem Zweck gedungen hat.«

»Die Sache ist einfach genug«, setzte er nachdenklich hinzu. »Kenneth musste von dem Mord Anzeige bei der Polizei erstatten, wollte er sich nicht von vornherein verdächtigen. Sehr zu seinem Missvergnügen verwies ihn der Polizeichef an mich. Melville wusste das, denn er begleitete seinen Freund nach dem Auditoriumhotel und entfernte sich, sobald Kenneth von mir empfangen wurde. Der Gedanke liegt nahe, dass er, wohl wissend, wie ich mich ungesäumt nach dem Glenn’schen Haus begeben würde, sich in der nahegelegenen Straße aufstellte, die von zehn nach jener Stadtrichtung fahrenden Fuhrwerken neun benutzt wird, weil sie die geradeste und darum kürzeste Verbindung darstellt.«

»Das erscheint mir allerdings auch wahrscheinlich!«, pflichtete Chick bei.

»Nun, alles andere wird uns Patsy sagen. Vorläufig handelt es sich noch um einen anderen, ungleich wichtigeren Fall: die Ermordung des Anwalts Joseph Waller. Der Scharfsinn der hiesigen Zentrale hat zwar bereits ermittelt, dass beide Mordfälle nichts miteinander zu tun haben. Doch wir wissen, dass Waller der Sachwalter des alten Glenn war, dass Letzterer ihn gestern Nachmittag besuchte und seinen letzten Willen aufsetzen ließ. Mit anderen Worten: Er wollte seinen Adoptivsohn, mit dessen Lebensführung er unzufrieden war, enterben. Kam eine solche Willensänderung nicht zum Vollzug, so blieb das alte Testament in Kraft, welches das Erbe in gleichen Hälften an Kenneth und May Glenn gibt.«

»Versteht sich!«, rief Chick. »Natürlich befand sich eine derartige Testamentsänderung in den Händen des Anwalts, der sie bei Gericht zu hinterlegen hatte. Um dies zu verhindern und den abgeänderten letzten Willen aus der Welt zu schaffen, wurden der Anwalt und sein Klient ermordet – und nun sah Kenneth seinen Weg zur Erbschaft offen!«

Er hielt inne und schaute seinen Vetter fragend an.

»Meinst du, Nick, dass dieser Kenneth auch den Anwalt umgebracht hat?«, fragte er zweifelnd.

»Nicht doch! Eine solche Bluttat war für diesen jämmerlichen Schwächling mehr als genug!«, widersprach der Detektiv entschieden. »Es handelte sich um ein Spiel mit verteilten Rollen. Wer den Anwalt ermordet hat, wage ich nicht zu entscheiden. Ich weiß nur, dass der betreffende Mörder durch Kenneths Verhaftung gewarnt werden würde – und darum sah ich von einer solchen ab! Doch wir müssen uns auch um den Fall Waller kümmern. Ich habe bereits eine Mitteilung an den Polizeichef geschrieben, in der ich ihn über mein Vorhaben informierte und ihn bat, die Leitung der Angelegenheit deinen Händen anzuvertrauen. Hier ist der Zettel, Chick!«

»Deshalb muss ich nicht zum Hauptquartier gehen – eine Mitteilung übers Telefon erfüllt den gleichen Zweck!«, warf Chick ein und nahm den Zettel entgegen.

»Du vergisst die Equipage mit den Apfelschimmeln unten auf der Straße«, sagte der Detektiv lächelnd. »Wir werden beschattet, und man muss dich unter allen Umständen weiterhin für Mr. Gleason vom Hauptquartier halten. Darum musst du den Chef ungesäumt aufsuchen!«

»Gewiss, das vergaß ich vollständig! Glaubst du wirklich, wir werden von Mitschuldigen beobachtet?«

»Allerdings, denn Melville ist in das Komplott verwickelt. Hundert zu eins, dass er der Person in der Kutsche unten gesagt hat, wer wir sind. Darum musst du zum Hauptquartier gehen. Ich selbst weiß noch nicht, ob ich dem Wagen nachspüren oder ihm ausweichen soll.«

»Ein gewiefter Verbrecher müsste eigentlich wissen, dass er dich mit einem Wagen, der mit auffälligen Schimmeln bespannt ist, nicht lange beschatten kann, ohne deinen Argwohn zu wecken!«

»Das sagte ich mir auch schon. Das Spiel dieser Leute ist groß angelegt. Stelle ich mich gar zu unschuldig an, so erwecke ich deren Verdacht erst recht!«, meinte Nick.

»Aha, du willst ihnen anscheinend in die Falle gehen, damit du herausfindest, um wen es sich eigentlich handelt!«, entgegnete Chick.

»Stimmt! Nur weiß ich leider noch nicht, wie ich die Geschichte in Szene setzen soll. Jedenfalls ist es besser, Chick, wenn du das blutbefleckte Leinenstückchen und das gummierte Blatt mit dem Daumenabdruck einstweilen verwahrst. Man weiß nicht, was die Leute vorhaben. Das Bombenattentat von heute früh könnte sich wiederholen. Dich lassen sie ungeschoren, weil sie annehmen, dass du dich zum Hauptquartier begibst, um gegen die Tochter des Ermordeten auszusagen. Gib dem Polizeichef die Überführungsstücke – er soll sie gut verwahren!«

»Soll ich ihm sagen, dass …«

»Sage ihm kein Wort, außer dass ich die Sachen sende. Dann nimm dich des Falles Waller an und schenke ihm deine volle Aufmerksamkeit!«, mahnte der Meisterdetektiv.

»All right, alter Junge, dann lebe wohl!«

»Goodbye, Chick!«

Der Detektiv wartete, bis sich Chick aus dem Haus begeben hatte. Dann ging er in das untere Gästezimmer, von dessen Fenster aus er die Straße ebenfalls überblicken konnte.

Als Chick das Hotel verließ, wurden die etwa zwei Straßenblocks entfernten Kutschpferde zunächst angetrieben, dann aber wieder gezügelt.

»Nun haben wir es!«, flüsterte Nick in seinem Versteck. »Der Kutscher glaubte, die Person, die er verfolgen sollte, gesehen zu haben. Doch der Wageninsasse korrigierte seinen Irrtum und ließ wieder anhalten – mit anderen Worten: Die Equipage wartet auf mein Erscheinen!«

Nach kurzem Überlegen beschloss Nick, sich zuerst ungesehen von der Person des Wageninsassen zu überzeugen, ehe er persönlich auf der Bildfläche erschien. Durch ein Hinterfenster im Hotelkorridor entdeckte er ein schmales Seitengässchen, das sich nach einer anderen Verkehrsstraße schlängelte.

Das war genau, was er sich erhofft hatte: Auf diese Weise konnte er das Hotel durch eine Hintertür verlassen, sich durch das Gässchen auf Umwegen zum Standort der Equipage begeben und diese nebst ihren Insassen in aller Ruhe betrachten. Dann konnte er immer noch entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Zunächst war es sein Bestreben, das Hotel unbemerkt zu verlassen. Das gelang ihm glücklich, und auch in dem Gässchen, in das er eine Minute später einbog, war niemand zu sehen. Es wurde wohl nur von Lieferanten benutzt, die ihre Waren durch die Hintertüren der angrenzenden Häuser lieferten.

Langsam bewegte sich Nick voran und kramte in den Taschen, in denen er seine Bärte und Perücken aufbewahrte. Natürlich wollte er sich verkleiden, ehe er das Gässchen verließ.

Plötzlich sprang er mit einem gewaltigen Satz voran. Doch es war bereits zu spät: In demselben Moment wirbelte ein geschickt geschleuderter Lasso über seinem Haupt und die Schlinge verstrickte sich gleich darauf um seine Kehle.

Nick brachte gerade noch eine Hand zwischen die Schlinge, sodass ihm der Hals nicht zu eng zugeschnürt werden konnte. Dann fühlte er sich auch schon seines Halts beraubt. Mit letzter Kraft schleuderte er seinen Hut in einem weiten Bogen von seinem Kopf, dann fiel er der Länge nach nieder.

Doch im selben Moment wurde sein Körper wieder hochgerissen. Der Strick straffte sich und zog ihn an der Häusermauer hoch, bis zu einem Fenster im ersten Stockwerk.

Als der Detektiv sich in dieses gezogen fühlte, fiel sein Blick auf fünf Männer. Drei von ihnen zogen mit aller Kraft am Seil, während die beiden anderen zu beiden Seiten des Fensters standen und offenbar darauf warteten, ebenfalls einzugreifen.

Nick begriff, dass Widerstand in seiner jetzigen Lage töricht gewesen wäre. Die Kerle hätten ihm einfach einen Knüppelschlag auf den Kopf versetzt und ihn bewusstlos gemacht; er zog es jedoch vor, seine fünf Sinne beizubehalten, und ließ sich deshalb ruhig durch das Fenster ziehen. Sofort beugte sich einer der Burschen über seine Knie. Ein scharfes, metallisches Knacken folgte, und der Detektiv spürte, dass stählerne Spangen um seine Kniekehlen gelegt worden waren, die ihn völlig am Gebrauch der unteren Gliedmaßen hinderten.

Der andere hatte inzwischen ebenfalls ein paar stählerne Fesseln um die Fußknöchel des Detektivs schnappen lassen.

Die drei übrigen Männer hatten inzwischen den Körper des Gefangenen vollständig durch das Fenster geschleift. Nun legten sie den Gefesselten auf die Diele. Im Nu waren alle fünf über den Detektiv hergefallen.

Sie rissen ihm die Hände zusammen und legten auch um diese schwere Fesseln, während einer der Kerle Nick gewaltsam das Haupt zurückbog und zwei andere ihm auf der Brust knieten.

Der Eifer, den die Burschen entfalteten, zeugte von so viel Angst vor ihrem Opfer, dass der Detektiv, ganz seine bedrängte Lage vergessend, hell hinauslachen musste, sehr zur Verblüffung der Halunken, die ihn groß ansahen, aber nichts äußerten.

»Ihr macht mich stolz!«, meinte er dann abfällig. »Ich habe schon mit vielen verzweifelten Kerlen zu tun gehabt, doch noch niemals bin ich so stark gefesselt worden wie jetzt von euch.«

Schnell legte nun einer der Burschen ein zusammengefaltetes Taschentuch um die Lippen des Detektivs, zog es scharf an und band es am Hinterkopf zusammen. Dann hoben sie ihn wieder auf und trugen ihn durch einen Korridor in ein hochelegantes Vorderzimmer.

In der den Fenstern entlegensten Zimmerecke setzten die Männer den Detektiv nieder und lehnten ihn wie ein lebloses Bündel gegen die Wand. Nick musste sich in seiner völlig hilflosen Lage gefallen lassen, was die Männer mit ihm machten, mochte er nun wollen oder nicht.

Dann verließen die Burschen wie auf Verabredung gleichzeitig das Zimmer.

Nick musste nicht lange allein in dem Raum warten.

Kaum fünf Minuten waren vergangen, als vor dem Haus eine Equipage anfuhr und anhielt, was der Detektiv deutlich hören konnte.

Aha, die Kutsche mit den Schimmeln davor – nun werde ich ja den Insassen kennenlernen, wenn auch auf eine etwas andere Weise, als ich beabsichtigte, dachte Nick. »Auch die bestangelegten Pläne scheitern zuweilen. Es soll mich wundern, ob die Grube, die mir meine Feinde diesmal gegraben haben, nicht breit genug ist, um auch ihnen das Hineinfallen zu ermöglichen!«

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