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Der Detektiv – Band 30 – Der Stern von Siam – Kapitel 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Stern von Siam

4. Kapitel
Unser Versteck

Wir hatten es nun behaglich. Wir saßen eng beieinander, rauchten und hatten auch nicht über Mangel an frischer Luft zu klagen, denn Jobster ließ den Deckel des Kessellochs etwas offen.

»Dass in diesem Eisenzylinder jemand steckt, darauf kommt so leicht niemand«, erklärte er. Wir erfuhren nun auch, weshalb er als blinder Passagier auf dem STERN VON SIAM reiste.

Jobster spürte noch immer dem Mörder des Admirals Stevenpole, des Hafenkommandanten von Singapur, nach. Er hatte nun einen der Stewards des Raddampfers verdächtigt, einen übel beleumundeten Franzosen namens Pegrier, der angeblich sehr gerissen sein sollte. Jobster hatte sich bereits dreimal in einer Verkleidung an Pegrier herangemacht, jedoch jedes Mal die Enttäuschung erlebt, dass der Franzose ihn sehr bald erkannte und ihm höhnisch bedeutete, ihn nicht weiter zu belästigen.

Deshalb hatte sich Jobster entschlossen, sich unbemerkt an Bord des Dampfers zu schleichen, um nachts Pegrier beobachten und belauschen zu können. Er ging davon aus, dass Pegrier noch Komplizen unter der Besatzung hatte, die an der Ermordung Stevenpoles beteiligt waren. Er war nach Lakon gereist, hatte den Dampfer erwartet und dann die Gelegenheit genutzt, den Kessel für seine Zwecke zu verwenden, der einem Zuckerfabrikbesitzer in der Nähe von Lakon gehörte. Für dieses Unternehmen hatte er zwei Begleiter mitgenommen: seine Frau und einen Chinesen, der der Polizei in Singapur Spitzeldienste leistete, aber zuverlässig war. Diesen Chinesen hatten wir ja in Lakon am Hafen beobachtet. Und die Frau, die Harst in der vergangenen Nacht auf dem Kessel belauscht hatte, war natürlich Jobsters Gattin gewesen.

Jobster teilte uns dann noch mit, dass er, als wir vorhin in den Kessel hinabgestiegen waren, notwendigerweise annehmen musste, es mit Pegrier und einem seiner Helfershelfer zu tun zu haben. Hierauf begann Harst zu erzählen, was wir in Bangkok alles erlebt hatten, wobei er damit den Anfang machte, was ich im vorletzten Band dieser Sammlung veröffentlicht habe.

Jobster lauschte mit steigender Spannung. »Donner – das ist ja ein ganzer Roman!«, meinte er, als Harst fertig war. »Was nun, Master Harst? Natürlich habe auch ich die Schüsse und das Geschrei gehört. Wir befinden uns also jetzt auf einem Dampfer, der sich in der Gewalt chinesischer Piraten befindet.«

»Allerdings«, meinte Harst plötzlich zerstreut und starrte ins Licht der Lampe, ohne sich zu bewegen. »Allerdings«, wiederholte er ganz geistesabwesend. »In der Gewalt der Kulis. Aber – wer hat diese Kulis befreit? Wer hat die beiden Wachen überwältigt, die vor deren Gefängnis Posten standen? Ich habe mir den Raum angesehen. Die Tür war mit Blech benagelt und hatte ein Schloss sowie zwei Riegel. Kapitän Tompson hatte die Wachen so ausgesucht, dass sie absolut zuverlässig waren. Sie können also nur hinterlistig überwältigt worden sein. Wer tat dies – wer?!«

Jobster und ich schwiegen.

Es gibt Momente, in denen Harsts Gesicht einen so durchgeistigten Ausdruck zeigt, der so ganz und gar intensivste Geistesarbeit verrät, dass man sich scheut, ihn mit einer vielleicht unzutreffenden Bemerkung in seinen Gedanken zu stören.

Wir schwiegen und warteten. Ohne seine Stellung zu verändern, wie ein Automat mit fast ungelenken Bewegungen, nahm er nun sein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche und schob eine Mirakulum zwischen die Lippen.

Jobster reichte ihm ein brennendes Zündholz. Er langte danach. Aber – die Hand sank plötzlich herab. Ebenso fiel ihm die Zigarette aus dem Mund. Er murmelte nun, und obwohl er halb flüsterte, klang es mit jedem neuen Wort lebhafter und bestimmter: »So kann es nur sein! Es kann nicht anders sein! Ich hätte mir gleich sagen sollen, dass nichts besser geeignet war, dieses Spiel hier weiterzutreiben, als dieser Trick!«

Wir lauschten. Aber Harst fügte nichts mehr hinzu. Er schien nun zu erwachen, strich sich über die Stirn, beugte sich vor, hob die Zigarette aus seinem Schoß auf und bat Jobster um ein neues Zündholz.

Nach den ersten Zügen und den ersten tadellosen Rauchringen schaute er uns mit einem kaum merklichen Lächeln an und sagte: »Bitte entschuldigen Sie meine Geistesabwesenheit. Ich habe Eugenie Malcapier nachgespürt und bin ihr wieder auf die Spur gekommen. Wir werden noch sehr aufregende Stunden hier an Bord erleben.«

Eine kurze Pause. Wieder einige Rauchringe. Dann sagte er: »Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass der STERN VON SIAM sehr bald der Prau des Chinesen Ling-Tuan, dem Tschi Makra, dem Mond, begegnen wird. Es handelt sich hier um ein neues Räuberstück der Malcapier. Nachdem der Überfall auf unseren Dampfer im Menam-Delta missglückt war, hat dieses Weib es jetzt verstanden, sich mithilfe der Kulis zur Herrin dieses Schiffes zu machen. Natürlich hat sie dem Tschi Makra vorher genaue Verhaltensmaßregeln gegeben. Ich wette, dass schon in der …«

Ich konnte nicht anders, ich unterbrach Harst.

»Verzeih, aber ich muss dich etwas fragen: Die Malcapier ist also doch hier an Bord?«

»Ja, mein Alter! Sie ist an Bord! Sie war es, die die Wachen überwältigte, als der Brand der Baumwollballen die Besatzung in Atem hielt. Sie muss diesen Brand gelegt haben, um sich die Gelegenheit zu schaffen, die Chinesen zu befreien. Doch weiter, zurück zu meinen Ausführungen. Ich wette, dass schon in der kommenden Nacht – denn am Tage wird sich die Piratenprau aus Angst, von einem anderen Schiff beobachtet zu werden, nicht an den STERN VON SIAM herantrauen – Der Tschi Makra wird neben dem Dampfer erscheinen, dessen Ladung übernehmen und ihn dann samt den noch darauf befindlichen Passagieren und Schiffsmannschaften versenken.

Jobster nickte. »Ganz meine Meinung, Master Harst. Diese Schufte von Piraten tun ganze Arbeit und lassen keinen einzigen Zeugen am Leben.«

»Nun, diesmal werden sie sich verrechnet haben!«, stieß Harst drohend hervor. »Sehr verrechnet! Wir drei genügen, um es mit diesem gelben Gesindel aufzunehmen. Übrigens: Ob dieser Steward Pegrier vielleicht mit den Chinesen unter einer Decke steckt? Auch das werden wir herausbekommen.«

»Wie ist die Malcapier denn hier an Bord gelangt?«, fragte Jobster. »Doch wohl unter den Passagieren, die sich in Lakon neu einschifften – natürlich verkleidet.«

»Hm – diese Verkleidung hätte – und das sagte sie sich selbst – meinen Augen gegenüber nicht viel genützt. Sie wusste ja, dass ich auf dem STERN VON SIAM war, und sie wird nachher sehr enttäuscht gewesen sein, als sie uns nicht mehr antraf.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz, Master Harst«, meinte Jobster nachdenklich. »Keine Verkleidung?! Dann müsste das Weib ja …«

»Oh, lassen wir das jetzt!«, winkte Harst ab. »Sie müssen sich schon an meine Eigentümlichkeiten gewöhnen. Ich spare mir mindestens eine Überraschung stets bis zur Katastrophe auf! Jedenfalls ist die Malcapier an Bord! Und ebenso sicher soll der STERN VON SIAM in der kommenden Nacht, vielleicht sogar schon heute Nacht, ausgeplündert und als Massengrab in die Tiefe geschickt werden. Jetzt schlafen wir erst einmal. Ein Frühstück vorher könnte uns nicht schaden.«

Wir aßen dann mit gutem Appetit und streckten uns nachher lang hin, indem wir unsere Jacken als Kopfkissen benutzten. Diese Betten waren recht hart, aber was half es!

Ich konnte nicht einschlafen. Der Regen hatte aufgehört. Mich störte der Lärm auf dem Vorschiff. Die Kulis liefen hin und her und riefen sich allerlei zu. Ich wurde die Angst nicht los, dass es einem von ihnen doch einfallen könnte, den großen Dampfkessel von innen zu besichtigen. Gewiss, Jobster hatte den Deckel wieder ganz herabgeklappt. Aber dieser war nun ja nicht verschlossen, sondern lag nur lose auf. Jeder konnte ihn anheben und in den Kessel hineinleuchten.

Aber es geschah nichts, und schließlich senkte sich auch auf meine Lider erquickender Schlummer.

Ich erwachte dann aufgrund des stärkeren Stampfens des Schiffes. Der Wind musste zugenommen haben, denn der alte Raddampfer tauchte seinen Bug oft tief in die Wogen. Wir hörten, wie schwere Brecher auf das Deck platzten. Auch Harst und Jobster waren fast gleichzeitig mit mir munter geworden.

Es war jetzt 14 Uhr. Die Stunden schlichen entsetzlich langsam dahin. Wir aßen wieder, und Jobster erzählte uns nun ganz genau, wie Admiral Stevenpole ermordet worden war. Ich möchte an dieser Stelle bereits anmerken, dass uns dieser Mord in Singapur später noch intensiv beschäftigen würde. Ich habe dieses in vieler Beziehung äußerst merkwürdige Problem im folgenden Heft geschildert.

Der Wind wurde zum Sturm, flaute aber gegen Abend wieder ab. Wir gerieten wieder in einen sogenannten Regenstrich hinein. Ab 8 Uhr goss es wie aus Eimern und es war so finster draußen, dass wir den Kesseldeckel ein ganzes Stück öffneten und Harst mehrmals auf Jobsters Schultern stieg und hinausblickte.

Es war jedoch noch immer zu lebhaft auf Deck, um irgendetwas unternehmen zu können.

So wurde es 10 Uhr. Harst hatte abermals Ausschau gehalten. Es regnete schwächer. Doch die Finsternis blieb.

»Der Stern von Siam führt nur eine Laterne«, meldete Harst. »Ein rotes Licht auf der Brücke.” Das ist wohl ein Signal für die Prau, dass der Streich hier geglückt ist. Ich werde jetzt versuchen festzustellen, was aus der Besatzung und den Passagieren geworden ist und wie die Lage hier ist. Bisher wissen wir ja so gut wie nichts, eben nur, dass die Chinesen die Herren des Dampfers sind. Jobster, haben Sie in Ihrem Koffer einen Leinenkittel dabei, damit ich mich als Chinese verkleiden kann?«

Der Detektivinspektor bejahte. Harst hatte sich so tadellos herausgeputzt, dass er einem Chinesen glich. Dann verschwand er aus unserem Versteck. Wir beide blieben in großer Sorge um ihn zurück. Jobster meinte, Harst riskiere bei dieser Rekognoszierung sein Leben und gefährde die von uns geplante Rettung des Dampfers. Ich konnte ihm nur zustimmen. »Die gelbe Bande ist noch immer so überaus lebhaft!«, sagte ich. »Wie leicht kann er da erwischt werden.«

Wir warteten und warteten. Zwanzig Minuten waren bereits vergangen. Jobster hatte wiederholt von meinen Schultern aus durch das Kesselloch geschaut. Jetzt stand er wieder oben, bückte sich und rief mir leise zu: »Keine Seele ist auf dem Vorschiff. Aber vom Achterdeck schallt undeutlich wüster Lärm herüber. Ich höre auch die Töne eines Klaviers aus dem Speisesaal. Weiß der Himmel, was die Halunken treiben. Vielleicht haben sie Harst erwischt und feiern seine Gefangennahme …«

Der Rest des Wortes blieb unausgesprochen. Über Jobsters Kopf hinweg ertönt von außen Harsts Stimme: »Von Gefangennahme ist keine Rede! Machen Sie Platz, Jobster! Ich habe Eile!«

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