Waldmärchen Band 1 – Der Geigenfrieder
M. Friedrichsen
Waldmärchen Band 1
Illustriert von Georg Hinke
Jugend-Verlag Charlottenburg. 1913
Der Geigenfrieder
Es war einmal ein kleiner Junge namens Friedrich. Er wurde aber von allen Frieder genannt. Am bekanntesten war er jedoch als Der Geigenfrieder, denn er zog mit seinem Großvater von Haus zu Haus und spielte den Leuten etwas auf der Geige vor.
Sie waren überall gern gesehen und verdienten sich ihr tägliches Brot redlich.
Seine Eltern hatte Friedrich nicht gekannt.
Solange er sich erinnern konnte, lebte er bei seinem Großvater, der ihm mit großer Herzlichkeit begegnet war. Er hatte ihm das Geigenspiel gelehrt und bis dahin die Höhen und Tiefen ihres Lebens miteinander geteilt.
Eines Tages erkrankte der gute Großvater leider schwer und als er spürte, dass er sterben würde, rief er Frieder zu sich ins Bett und sagte zu ihm: »Unter meinem Bett wirst du einen Kasten finden. Zieh ihn hervor und schließe ihn auf!«
Dabei suchte der Kranke unter seinem Kopfkissen einen Schlüssel hervor und gab ihn seinem Enkel.
Frieder tat, wie ihm geheißen, holte unter dem Bett einen länglichen, braunen Kasten hervor, schloss ihn auf und fand darin zu seiner Freude eine wunderschöne Geige.
Der Großvater ließ sich Geige und Bogen reichen, betrachtete beide ein Weilchen liebevoll und sagte dann zu Frieder: »Dies ist ein Vermächtnis für dich, mein lieber Junge. Es ist nicht nur ein köstliches Instrument, das du ja leidlich zu spielen verstehst, sondern es besitzt auch die wunderbare Eigenschaft, Menschen zum Lachen oder Weinen zu bringen, je nachdem, ob eine lustige oder traurige Melodie darauf gespielt wird. Niemand kann ihr widerstehen!«
Mit Verwunderung hatte Frieder seinem Großvater zugehört, doch der Kranke sprach hastig weiter: »Ja, die Kraft dieser Geige ist wunderbar! Sobald eine heitere Tanzweise auf ihr erklingt, ist jeder, der sie hört, gezwungen, nach ihrem Takt zu tanzen. Ebenso muss jeder, der eine traurige Melodie darauf spielen hört, in Tränen ausbrechen. Benutze dieses Instrument weise, so wirst du mit ihm dein Glück in der Welt machen!«
Und gleichsam, als wollte der Kranke die Glaubwürdigkeit seiner matten Worte bestätigen, nahm er die Geige in den Arm, setzte den Bogen an und begann eine so schwermütige Weise zu spielen, dass Frieder eine tiefe Wehmut überkam. Bald liefen ihm die Tränen über die Wangen. Schließlich brach er in heftiges Schluchzen aus und bat: »Hör auf zu spielen, Großvater! Ich muss zu sehr weinen!«
Doch der Großvater hörte von selbst auf zu spielen, die Geige entglitt seinen Händen, er hatte sich in den Himmel gespielt und Frieder verlor seinen treuesten Freund, er hatte keinen Großvater mehr – er war tot.
Notgedrungen beschloss Frieder, allein mit seiner Wundergeige in die weite Welt zu ziehen und sein Glück zu versuchen.
Bevor er jedoch zum Tor hinauszog, wollte er die Kraft seiner neuen Geige erst in seinem Heimatstädtchen erproben.
Ärmlich gekleidet und barfuß kam er vor die Werkstatt eines berühmten Schusters, der viele Gesellen beschäftigte.
Vor der Tür der Werkstatt stellte sich Frieder auf und wollte spielen.
Der Meister nickte ihm zu und sagte: »Sieh da, der Geigenfrieder ist ja wieder da! Spiele uns etwas vor, aber es muss etwas Hübsches sein!«
Vorsorglich wählte Frieder eine ernste Melodie, denn der Meister war ein ernster Mann und hätte an Lustigem keinen Gefallen gefunden.
Frieder begann zu spielen. Kaum hatte er jedoch einige Bogenstriche getan, liefen dem Lehrling schon die Tränen über die dicken, roten Backen.
Dann folgten die Gesellen. Zunächst wischten sie sich heimlich mit dem Ärmel über die Augen, damit es die anderen nicht sehen sollten.
Bald aber nützte dies nichts mehr, und sie mussten ihren Tränen freien Lauf lassen.
Der Meister bewahrte seine Standhaftigkeit am längsten; er arbeitete gerade an einem Brautschuh aus weißer Seide und unterdrückte seine Rührung so lange wie möglich. Doch schließlich musste auch er anfangen zu schluchzen und alle schluchzten mit.
Plötzlich fiel dem Meister eine Träne auf den kostbaren Schuh. Erschrocken rief er: »Genug, Frieder! Genug, du hast sehr schön gespielt! Sei bedankt, aber wir würden zu traurig werden, wenn wir dir noch länger zuhören.«
Der Meister hatte rasch überlegt, dass er den Tränenfleck auf dem Schuh mit einer Rosette bedecken könnte.
Der Altgeselle schrie den Lehrling, der seine Betrübtheit gar nicht loswerden konnte, heftig an: »Lass doch endlich dein Schluchzen, du Wickelkind.«
»Ihr habt ja alle geweint!«, gab der Lehrjunge trotzig zurück.
»Ruhig!«, fuhr der Meister dazwischen, dann fragte er: »Frieder, warum gehst du denn barfuß?«
»Ach«, erwiderte der kleine Musikant, »mir ist großes Herzeleid geschehen! Mein Großvater ist gestorben, noch bevor er mir die versprochenen neuen Schuhe kaufen konnte.«
»Hm!«, machte der Meister und dachte einen Moment nach. Dann rief er dem Lehrbuben zu: »Hannes, geh hinüber in den Laden. Im Eckschrank links stehen ein Paar verpasste Stiefel. Hol sie her, sie werden Frieder gerade lang genug sein.«
Hannes verschwand und kam bald mit einem Paar guter, neuer Stiefel zurück.
»Ziehe sie einmal zur Probe an, Frieder«, sagte der Meister.
Frieder ließ sich nicht lange bitten. Obwohl die Stiefel hier und da etwas zu lang und zu weit schienen, war er doch mit dem Meister einig, dass sie ihm passten.
»Behalte sie zum Lohn für dein schönes Spiel und vertrage sie mit Gesundheit«, sagte der Meister.
Mit einem dankbaren »Vergelt’s Gott!« schied der kleine Geiger, um, neu beschuht, sein Glück weiter zu versuchen.
Die vollständige Story steht als PDF, EPUB, MOBI und AZW3 zur Verfügung.
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