Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 5
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 5
Der Daumenabdruck
»Ich nehme an, Sie möchten Miss Glenn unter vier Augen sprechen?«, fragte Melville gespannt.
»Selbstverständlich. Bitte sagen Sie ihrem Bruder nichts von unserer Wahrnehmung!«
»Unbesorgt, Mr. Carter – ich brächte es nicht über das Herz, den armen Kerl von solch niederschmetternder Entdeckung in Kenntnis zu setzen!«, versicherte Melville.
Als sie sich dem Wohnzimmer näherten, trat Kenneth mit der Meldung auf sie zu, dass ein Mann namens Gleason darin auf sie warte, der Mr. Carter sprechen wolle. Seiner Aussage nach käme er vom Hauptquartier.
»Alles klar, er wird ein Bote des Polizeichefs sein, der sich nach unseren bisherigen Fortschritten erkundigen soll«, meinte der Detektiv leichthin. »Er ist im Wohnzimmer?«
»Ja, wir haben uns mit ihm unterhalten, aber nicht mit ihm gesprochen. Da ich glaubte, der traurige Fall habe ihn zu uns geführt, habe ich versucht, mit ihm zu sprechen, doch der Mann starrte mich nur verständnislos an – er scheint noch gar nichts zu wissen!«, bemerkte Kenneth.
»Nun, ich werde schon herausbringen, was der Mann will«, entgegnete der Detektiv und bedeutete Kenneth dann, sich mit Melville einstweilen zur Bibliothek zu begeben, da er mit seiner Schwester allein reden wollte.
Kenneth sah noch aufgeregter aus als zuvor. Halb willenlos ließ er sich von seinem Freund fortziehen. Als dieser ihm vorschlug, eine Zigarre zu rauchen, schüttelte er wie vom Ekel überwältigt heftig den Kopf.
Als Nick das Wohnzimmer betrat, fiel sein Blick auf Gleason, der in einer Fensternische stand und in einer Zeitung las. Natürlich war es Chick, der sich wundervoll verkleidet hatte. Am Tisch inmitten des Zimmers saß eine reizende Blondine, die die Hände vor das totenbleiche Antlitz geschlagen hatte. Doch als Nick an sie herantrat, ließ sie die Hände sinken und stand auf.
»Ich bin der Detektiv Carter«, stellte er sich kurz vor. »Bitte setzen Sie sich. Ich möchte Sie nicht lange behelligen, sondern ich möchte Ihnen gerne helfen!«
Das Mädchen schüttelte unter bitterem Schluchzen nur den Kopf. »Mir kann niemand helfen!«, hauchte sie schließlich.
»In einem Sinne haben Sie gewiss recht«, fuhr Nick fort. »Doch in Ihnen muss doch der Wunsch leben, den Mörder Ihres Vaters zu finden?«
»Ach, das gibt ihm sein Leben nicht zurück!«, stellte May Glenn tonlos fest. Dann, von neuem Jammer überkommen, drückte sie sich das Taschentuch vor die Augen und schluchzte bitterlich.
Nick wandte sich taktvoll von ihr ab und dem Zeitungslesenden zu.
»Sie heißen Gleason und sind vom Hauptquartier geschickt worden?«, erkundigte er sich.
»Gewiss – wenn Sie Mr. Carter sind, so …«
»Der bin ich. Legen Sie Ihre Zeitung fort. Sie können ebenso gut hören, was Miss Glenn mir zu sagen hat, und nachher können Sie mir Ihren Auftrag ausrichten.«
»Ich kann nichts sagen, gar nichts«, hauchte das Mädchen, das wieder aufgeschaut hatte.
»So erscheint es Ihnen natürlich«, besänftigte Nick. »Doch meine Pflicht schreibt mir das Stellen von Fragen vor. Ich muss wissen, was jeder der Hausbewohner heute früh zwischen sieben und neun Uhr getan und unternommen hat.«
»Sie meinen, was ich seit meinem Aufstehen getan habe, womit ich mich beschäftigt habe?«, fragte das Mädchen, den Sinn seiner Frage wohl erfassend, doch nicht völlig begreifend. »Ich stand um halb sieben auf und verließ bald darauf das Haus. Um Viertel vor neun kam ich zurück, wechselte meine Kleider und begab mich zum Diningroom. Dort blieb ich bis … bis zur Entdeckung!«
»Wie gewöhnlich nahmen Sie den Hausschlüssel mit, nicht wahr?«
Dann, als May ihn befremdet und gekränkt anschaute, trat er begütigend näher an sie heran.
»Missdeuten Sie meine Worte nicht, sondern beantworten Sie meine Fragen, die ich stellen muss. Ich kenne die Natur Ihrer frühen Ausgänge und weiß, dass Sie den Schlüssel mit sich führten, um bei der Rückkehr nicht läuten und die Aufmerksamkeit Ihres Vaters auf Ihre Morgenspaziergänge lenken zu müssen. Sie brauchen darum nicht so erschreckt zu blicken, Miss. Und noch weniger brauchen Sie Furcht vor mir zu haben!«, setzte er freundlich hinzu.
»Ich brauche keinen Menschen zu fürchten!«, entgegnete das Mädchen stolz. »Ja, es ist wahr, ich machte diese häufigen Morgenspaziergänge nur, um mit meinem künftigen Gatten zusammenzutreffen. Ich schäme mich eines solchen Bekenntnisses nicht und hätte meinen Vater auch davon unterrichtet, hätte mich nicht die kindliche Ehrfurcht davon abgehalten. Nur um ihm nicht zu nahe zu treten, hielt ich meine Ausgänge vor ihm geheim – Gott weiß, wie schwer mir das fiel!«
»Bitte, Miss May, Sie sind mir keine Rechtfertigung schuldig. Ich möchte nur wissen, ob Sie die ganze Zeit heute Morgen mit Ihrem Verlobten zusammen waren.«
»Die ganze Zeit, ausgenommen natürlich die Minuten, während derer ich mich zum Rendezvous und von diesem wieder nach Hause begab. Es handelt sich um wenige Blocks Entfernung.«
»Eine weitere Frage: Zündeten Sie heute in dem kleinen Ofen in Ihrem Schlafzimmer ein Feuer an, Miss Glenn?«, wollte Nick Carter plötzlich wissen.
»Wie sollte ich um diese Jahreszeit dazu kommen!«, entgegnete May erstaunt.
»Roch es bei Ihrer Rückkehr, als sei Tuch oder dergleichen im Ofen verbrannt worden?«
»Aber nein, durchaus nicht!«, meinte die immer befremdeter Blickende.
»Ich danke Ihnen. Vielleicht habe ich nach meiner Rückkehr noch einige Fragen an Sie, vorläufig werde ich mit Mr. Gleason hier einen kleinen Spaziergang unternehmen.«
Die Detektive verneigten sich höflich vor dem jungen Mädchen und verließen das Zimmer.
Draußen im Korridor blieb Nick wieder stehen und zog einige Papiere, von denen nur wenige beschrieben waren, aus seiner Tasche. Chick lächelte, als er dies bemerkte, als wüsste er bereits, was nun kommen würde.
»Ich werde die Fragen für Ihren Chef aufschreiben«, erklärte der Detektiv nun mit möglichst lauter Stimme. »In der Bibliothek werde ich wohl einen Platz zum Schreiben finden.«
Wie auf Kommando erschien Kenneth unter der von ihm geöffneten Tür zum Bibliothekszimmer.
»Sie können sämtliches Schreibmaterial hier drinnen finden, Mr. Carter«, erklärte der noch geisterhafter als zuvor Dreinschauende mit klangloser Stimme.
»Danke, damit bin ich selbst versehen – ich brauche nur für einige Minuten einen Tisch.«
Damit betraten Nick und sein Gehilfe das Zimmer und begaben sich sofort zu dem äußersten Ende des langen Bibliothekstisches. Er legte einige Formulare vor sich hin, zog eine Füllfeder aus der Tasche und begann zu schreiben.
»Wollen Sie einen Haftbefehl ausstellen?«, fragte Kenneth heiser, der ihm aus einiger Entfernung zugeschaut hatte.
»Nein«, entgegnete Nick, sich im Schreiben unterbrechend und den jungen Mann direkt ansehend. »Der bisherige Tatbestand berechtigt mich vielleicht schon zu einer Verhaftung, doch ich möchte so lange warten, bis ich gleichzeitig auch den mutmaßlichen Mitschuldigen belangen kann.«
»Einen Mitschuldigen?«, hakte Kenneth nach und wurde schneeweiß im Gesicht. Auch Melville trat interessiert näher.
»Ja, es scheint mir, als steckte hinter diesem Verbrechen noch ein anderer. Vielleicht wurde die Bluttat auf dessen Geheiß begangen«, meinte der Detektiv nachdenklich. »Oh, Mr. Glenn«, setzte er rasch hinzu, als der junge Mann zusammenzuckte. »Sie brauchen keine Angst zu haben, dass mir einer der Schuldigen entgeht. Ich möchte nur vor einer Verhaftung das gesamte Beweismaterial in Händen haben.«
»Übrigens, sagen Sie, Mr. Glenn«, meinte er verbindlich, »kennen Sie vielleicht die Adresse eines Mr. George Stratton – oder Stratham?«
»Stratton, wahrscheinlich!«, entfuhr es Kenneth.
»Ja, so lautet der Name!«, stimmte Nick zu. »Könnten Sie mir den Namen bitte buchstabieren?«, fragte Nick, nachdem er den Namen in ein Formular eingetragen hatte. »Gehört er zu Ihren Freunden?«
»Durchaus nicht!«, sagte Kenneth rasch. »Ich kenne ihn nur oberflächlich und weiß zufällig, dass er bei Siegel Toppers beschäftigt ist.«
»Danke Ihnen – oh weh!«, unterbrach sich Nick, denn durch eine ungeschickte Bewegung hatte er das Formular, in das er gerade etwas eintragen wollte, vom Tisch gestoßen. Es flatterte auf die Seite zu, auf der Kenneth stand, und dieser bückte sich, um das Blatt aufzuheben.
»Wirklich zu liebenswürdig!«, erklärte Nick, der zu langsam gewesen war, um ihm bei dieser Bemühung zuvorzukommen. Er schrieb nun den Namen des Warenhauses ebenfalls auf und erhob sich.
»Kommen Sie mit, Mr. Gleason. Ich kann Ihnen unterwegs mitteilen, was Sie dem Polizeichef mitteilen sollen!«, forderte er den angeblichen Polizeibeamten auf.
»Wenn Sie hier sprechen möchten, verlassen wir gern das Zimmer«, meinte Kenneth.
»Nein, danke – ich muss ohnehin zu Siegel Looper«, erklärte Nick und hielt dann rasch inne, als hätte er zu viel gesagt.
Er verabschiedete sich hastig und verließ das Haus. Er und Chick verhielten sich still, bis sie nach einigen Minuten ein kleines Hotel erreicht hatten. Dort ließ sich der Detektiv ein Zimmer zeigen, von dessen Fenstern aus sie die Straße überblicken konnten.
Nick stellte sich einen Moment ans Fenster, um auf die Straße zu blicken, und Chick schaute ihm in gleicher Absicht über die Schultern. Sie gewahrten eine elegante Kutsche mit zwei prächtigen Apfelschimmeln davor, die von einem wohlgenährten Kutscher in Livree gelenkt wurde. Die Kutsche passierte gerade in sanftem Trab die Straße am Haus vorbei. Ob sich im Wagen jemand befand, war unmöglich festzustellen, da die Fenster des Wagens dicht verhängt waren.
»Merkwürdig«, brummte Nick. »Diese Equipage stand keinen Block entfernt vom Glenn’schen Hause, als wir es verließen.«
»Gewiss, ich habe die Kutsche auch wahrgenommen«, erwiderte Chick.
»Na, das ist vielleicht Zufall. Lass uns hinsetzen, alter Junge, und plaudern!«
Nick rückte sich einen Stuhl an den in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch heran und ließ sich nieder. Chick folgte seinem Beispiel und schaute ihn erwartungsvoll an. Der Meister versäumte denn auch nicht, ihm in lichtvoller Weise all das mitzuteilen, was er selbst gesehen und beobachtet hatte, sodass Chick schließlich vollkommen unterrichtet war.
»Natürlich«, meinte dieser nachdenklich, »es sieht ganz so aus, als sei der Mord nur von einem Familienmitglied verübt worden – doch hast du Anhaltspunkte für eine solche Vermutung?«
»In Fülle – dabei alle falsch – bis auf höchstens eine Spur!«, bemerkte der Detektiv trocken.
»Nun, da wäre ich doch begierig!«, erwiderte Chick.
»Höre nur zu, Chick!«, fuhr Nick Carter fort. »Zunächst ist Miss Glenn mit einem Mr. George Stratton verlobt, der bei Siegel Looper als Verkäufer arbeitet und dem ihr Vater das Haus verboten hat. Das Mädchen hat jedoch ihren eigenen Kopf und will ihren Liebsten heiraten. Zu ihren Gewohnheiten gehörte es, sich jeden Morgen mit ihrem Bräutigam zu treffen, bevor ihr Vater aufstand. Dieser hat ihr nun gedroht, sein Testament zu ändern und sie zu enterben, falls sie ihre ihm nicht genehme Liebschaft nicht aufgibt. Sicher ist, dass der Tod des Vaters es dem Mädchen ermöglicht, den Mann ihrer Wahl ohne Vermögenseinbußen zu heiraten. Jedenfalls waren ihre Beziehungen mit dem Vater die denkbar schlechtesten. Dies vorausgeschickt, höre, was ich gefunden habe.
Sie ist das einzige Mitglied unter sämtlichen Hausbewohnern, das von seinen Bewegungen heute früh keine genaue Rechenschaft geben kann. Sie stand früher als die anderen auf, verließ heimlich das Haus und kehrte erst lange vor der Zeit zurück, in der ihr Vater – wie wir wissen – ermordet wurde, während er sich rasierte. Nicht geleugnet werden kann, dass Miss Glenn ohne Weiteres die zur Ausführung der Tat notwendigen körperlichen Kräfte besitzt.
Ferner scheint es, als hätte sich der Mörder bei Begehung seiner Tat die Finger beschmutzt, diese am Bettlaken seines Opfers abgewischt und den verunreinigten Zipfel mit einer Schere abgeschnitten und in dem Ofen verbrannt, der in Mays Schlafzimmer steht. Nun sage mir: Sind das gute Schuldbeweise – ja oder nein?«
»Nick, mich kannst du nicht zum Narren halten!«, brauste Chick fast entrüstet auf. »Für all deine Beweise gebe ich noch nicht einmal einen falschen Cent. Das Mädchen war es nie und nimmer!«
»Selbstverständlich – das arme Mädchen ist so unschuldig wie du oder ich. Doch höre weiter. Kenneth Glenns intimster Freund Hermann Melville hat mich durch das Haus geführt. Ich ließ ihn alle Verdachtsmomente allein entdecken: das zerrissene Leintuch, die Feststellung, dass der Schnitt am einen Zipfel des Tuches mit einer Schere bewirkt worden zu sein scheint, die Tatsache, dass Scheren zumeist in Frauenhand sind, und das Häuflein frisch verbrannten Leinentuchs im Ofen in Mays Schlafzimmer …«
»Du erwartest Ähnliches von diesem braven Mr. Melville?«, fragte Chick sarkastisch.
»Selbstredend, alter Junge. Die Sache klappte programmgemäß, wie ich es mir gedacht habe, und Melville hat auch recht: Der Mörder hat sich wirklich die blutbesudelten Hände an einem Zipfel des Bettlakens abgewischt und diesen dann abgeschnitten. Doch die Nähe seines verröchelnden Opfers mag ihm zugesetzt und ihm die Augen getrübt haben. Er schnitt nicht alles hinweg, sondern ein kleiner Blutfleck blieb zurück. Und den trennte ich unbemerkt ab, weil ich zufällig auch immer eine Schere mit mir trage – hier ist der schmale Fetzen!«
Als Chick sich den Blutfleck durch das Mikroskop betrachtete, rief er: »Ein Daumenabdruck, wie man ihn sich nicht schöner wünschen kann! Doch ob es sich um einen weiblichen oder männlichen Daumen handelt, das zu unterscheiden, geht über mein Vermögen!«
»Das sollst du auch nicht, lieber Junge. Hast du bemerkt, wie mir in der Bibliothek mein Papierblatt zufällig vom Tisch fiel und von Kenneth Glenn aufgehoben wurde?«
»Gewiss, ich dachte mir gleich, dass dahinter ein besonderer Trick steckt!«
»Allerdings ließ sich Kenneth natürlich nicht träumen, dass das Blatt, auf dem ich unnütze Eintragungen gemacht hatte, mit einer dünnen Gummischicht bestrichen war. Schau es dir nun durch das Mikroskop an und sage mir, ob du einen Daumenabdruck erkennst!«, gebot der Detektiv.
»Selbstverständlich!«, rief sein Vetter. »Brillant sogar! Jede Linie kann man deutlich sehen!«
»Nun, du weißt, dass es auf der Welt nicht zwei vollkommen übereinstimmende Daumenabdrücke gibt?«, fuhr Nick mit erhobener Stimme fort.
»Selbstverständlich. Die Londoner Polizei nimmt nur noch die Daumenabdrücke der Verbrecher und verzichtet auf Bertillon’sche Maße und Verbrecheralben.«
Plötzlich stieß Chick einen schwachen Schrei aus.
»Zug um Zug, Linie um Linie, Nick!«, versicherte er in großer Erregung. »Der Daumen, der in das Blut des Gemordeten getaucht wurde, und der Daumen, der dabei half, das gummierte Blatt hier aufzuheben und sich dabei ebenfalls abprägte, gehören demselben Mann!«
»Damit ist der Mörder entlarvt!«, erklärte Nick Carter gelassen. »Der beklagenswerte Mr. Matthew Glenn wurde von seinem verkommenen Pflegesohn Kenneth ermordet!«
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