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Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 4

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 4
Ein wichtiger Fund

Ohne zu zögern, begab sich der Detektiv, der sich einen Weg durch die gaffende Menge bahnte, zum Tatort. Auf sein Klingeln hin öffnete ihm ein Policeman, der ihn sofort einließ, als Nick seinen Namen nannte.

»Alles unverändert am gleichen Ort geblieben«, meldete der Polizist, als sie im Gang standen.

»Recht so. Ist Kenneth Glenn wieder von seinem Ausgang zurück?«

»Jawohl. Er befindet sich mit einem Freund im Parlor.«

Nick betrat das Zimmer. Der Freund war derselbe, der Kenneth Glenn zum Auditoriumhotel begleitet hatte.

»Ich dachte, Sie würden schon vor mir eintreffen, Mr. Carter«, sagte Kenneth zu ihm.

»Das war auch meine Absicht. Doch unterwegs warf irgendein Schurke eine offenbar für einen anderen bestimmte Bombe unter meinen Wagen.«

»Was Sie nicht sagen – ist denn das möglich?«

»Jedenfalls, da es sich ereignete«, gab Nick trocken zurück. »Sie können sich denken, dass ich dem Zwischenfall einige Beachtung schenken musste.«

»Selbstverständlich – aber haben Sie den Burschen entdeckt?«, erkundigte sich Kenneth hastig.

»Leider nein, ich konnte keine Spur ausfindig machen.«

»Schade – doch hier ist mein Freund, Mr. Melville«, stellte Kenneth seinen Gast vor.

»Erfreut«, meinte der Detektiv mit kühler Verneigung. »Führen Sie mich nun bitte durchs Haus, zunächst in das Zimmer Ihres Vaters.«

»Könnte das nicht ein Dienstbote oder ein Polizist tun? Sie können sich denken, wie ein derartiger Anblick auf mich wirken muss!«, stammelte der junge Mann betroffen.

»Sie müssen sich ins Unvermeidliche schicken. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, zumal Sie meine Fragen am besten beantworten können«, erklärte der Detektiv. Die Dienstboten befrage ich später.«

Kenneth unterbrach ihn, als er bemerkte, dass Mr. Melville ihnen folgen wollte: »Nein, bitte, Mr. Melville. Ich wünsche nur Nr. Glenns Begleitung.«

»Wie Sie wünschen, ich will mich durchaus nicht aufdrängen!«, erklärte Melville enttäuscht und gekränkt zugleich. »Ich kam nur in der Absicht, meinen Freund zu trösten.«

Gefolgt von Kenneth begab sich Nick ohne Weiteres in das obere Stockwerk.

»Hier ist Vaters Zimmer«, sagte der junge Mann leise und öffnete eine Tür.

Schweigend trat der Detektiv ein und schaute sich im Schlafgemach um.

Auf dem Teppich, genauso, wie Kenneth es zuvor beschrieben hatte, lag die Leiche des Ermordeten mit dem Gesicht nach unten. Die Todeswunden sprachen eine deutliche Sprache.

Es war offensichtlich, dass Matthew Glenn vor dem Spiegel gestanden hatte, ohne in diesen hineinzublicken, als er von seinem Mörder von hinten beschlichen worden war.

Wahrscheinlich hatte er das Rasiermesser am Riemen gestrichen oder den Seifenpinsel in die Dose gesteckt. Der Hieb in den Hals musste die Wirbelsäule durchschnitten und den sofortigen Tod herbeigeführt haben.

Offenbar hatte der Mörder den Niedergefallenen aufgefangen, um jedes Geräusch zu verhindern. Nachdem das Opfer am Boden lag, spaltete der Mörder ihm zur Sicherheit mit einem zweiten Axthieb den Schädel.

Auf dem Tisch neben dem Bett stand ein Teller mit Früchten, von denen jemand gegessen hatte.

Das Bettzeug lag auf dem Boden umher. Es schien dem Detektiv, als könne ein Mann, der die Decken nur zurückgeworfen hat, um aufzustehen, eine derartige Unordnung nicht bewirkt haben. Es sah beinahe so aus, als hätte ein Kampf zwischen Opfer und Mörder stattgefunden.

»Sind Sie sicher, dass das Bettzeug seit der Entdeckung der Tat nicht berührt worden ist?«, wandte er sich unvermittelt an Kenneth.

Dieser zuckte zusammen, als er sich plötzlich angesprochen hörte. Er antwortete mit heiserer Stimme: »Ganz sicher – so genau sah es aus, als ich das Zimmer zuerst betrat.«

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen so zusetzen muss«, versetzte der Detektiv freundlich. »Rufen Sie ruhig Ihren Freund, Mr. Melville, herbei.«

»Ich danke Ihnen!«, stieß Kenneth erleichtert hervor und verließ hastig das Zimmer.

Im selben Moment, als sich die Tür hinter ihm schloss, war der Detektiv mit einem Sprung am Bett und betrachtete Leintücher, Kissen und Wolldecken äußerst genau. Er handelte mit großer Schnelligkeit, doch es vergingen Minuten, bevor Kenneth in Begleitung seines Freundes Melville wieder ins Zimmer zurückkam.

Nick stand gerade an einem Fenster und betrachtete das blutbefleckte Beil.

»Mr. Melville war schon aus dem Haus, aber ich habe ihn zurückgeholt!«

»Schön. Haben Sie nicht gesagt, das Beil gehört ins Haus?«

»Gewiss, es wurde in der Regel in der Küche verwendet. Die Köchin spaltete damit Holz oder zerkleinerte Kohlen, aber nur im Winter.«

»Wo wurde es verwahrt – in einem Werkzeugschrank?«

»Nein, in einem Schrank, in dem sich auch andere Dinge befinden. Ich will es Ihnen zeigen.«

»Später! Erst muss ich sehen, ob der Mörder auf dem Boden eine Spur zurückließ.«

Das war allerdings nur ein Vorwand, denn in Wirklichkeit hatte sich Nick während Kenneths Abwesenheit längst davon überzeugt, dass keine solchen Spuren vorhanden waren. In diesem Moment beobachtete der Detektiv etwas, das ihn mehr interessierte als all diese Fährten.

Kenneth saß mit dem Rücken zu ihm und hatte das Kinn in die Hand gestützt.

Sein Freund Melville dagegen näherte sich dem Bett.

»Haben Sie etwas dagegen, dass ich mir das Bett betrachte, Mr. Carter?«, fragte er zuvor.

»Durchaus nicht«, entgegnete Nick, der anscheinend noch immer mit dem Studium des Teppichs beschäftigt war. »Sollten Sie etwas entdecken, so sagen Sie es mir bitte!”

Melville ergriff die Leintücher, schüttelte sie und schrie dann schwach auf.

»Was gibt es?«, fragte Nick, der sich hastig erhob.

»Ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat«, meinte Melville nun zögernd. »Aber es sieht so aus, als ob ein Stück vom Bettlaken fehlt.«

»Hm«, entgegnete Nick, nachdem er sich den Riss hatte zeigen lassen. »Das lässt auf einen Kampf schließen. Ich nehme jedenfalls an, Mr. Glenn, dass Ihr Vater ganze Bettlaken benutzte?«

»Selbstverständlich«, erklärte der junge Mann unter einem erneuten Schauer.

»Vielleicht ist da irgendeine Spur«, versetzte Nick halblaut, wie zu sich selbst sprechend. »Die Hände des Mörders waren vielleicht blutbefleckt, und er wischte sie an dem Laken ab, ehe er die Tragweite seiner Tat erkannte. Dann hat er wahrscheinlich das jetzt fehlende Stück abgeschnitten und verbrannt.«

»Es sieht so aus, als sei dazu eine Schere verwendet worden«, bemerkte Melville.

»Allerdings – wie befindet sich Ihre Schwester, Mr. Glenn?« wandte sich Nick an diesen.

»Sagen Sie ihr, ich müsste sie im Wohnzimmer sprechen. Inzwischen will ich mich weiter umsehen. Sind Sie mit der Hauseinrichtung vertraut genug, um mich führen zu können? Sehr verbunden. Dann führen Sie mich bitte über die Hintertreppe nach der Küche. Dort finden Sie uns, Mr. Glenn«, rief der Detektiv dem sich Entfernenden nach.

Er inspizierte das Hintergebäude und begab sich auch in den durch einen Bretterzaun eingefriedigten Hofraum. Sorgfältig sah er nach, ob er Spuren eines vielleicht über den Zaun Gestiegenen entdecken konnte, vermied es aber, seinem Begleiter Aufschluss über das hierbei gewonnene Resultat zu geben.

In der Küche ließ er einen Dienstboten nach dem anderen zu sich rufen.

Die Köchin erklärte, wie üblich aufgestanden und ein Feuer gemacht zu haben. Sie hatte das Beil schon seit Wochen nicht benutzt und wusste auch nicht, ob es sich am üblichen Verwahrungsort befunden hatte.

Das Hausmädchen hatte ebenfalls zur üblichen Zeit um sieben Uhr vor jede Schlafzimmertür einen Teller mit Früchten gestellt, dann den Tisch im Speisezimmer gedeckt und anschließend den Korridor gefegt, bis Miss May zurückgekommen war.

»Was soll das heißen?«, fragte Nick. »War die junge Lady so früh schon ausgegangen?«

»Ja, Sir.«

»Wann verließ sie das Haus?«

»Ich kann es nicht sagen. Sie war nicht in ihrem Zimmer, als ich den Fruchtteller brachte.«

Als Nick das Mädchen fragte, ob die junge Lady häufiger so früh das Haus verließ, wollte es sich nicht äußern. Doch Nick gelang es, aus ihr herauszubekommen, dass Miss May ihres Wissens fast jeden Morgen mit ihrem Verlobten zusammentraf, wenn dieser sich zu seinem Arbeitsplatz begab. Da Mays Vater davon nichts wissen durfte, hatten die Dienstmädchen ihre junge Herrin umso bereitwilliger zur Verschwiegenheit verpflichtet, da sie mit ganzem Herzen an ihr hingen.

Wie das Mädchen ferner erklärte, schickte May sie, als sie ins Haus zurückgekehrt war, nach einem Fläschchen Parfüm in den Drogeriemarkt. Vor dessen noch geschlossener Tür musste das Hausmädchen eine Weile warten. Als sie nach einer halben Stunde zurückkehrte, hatte May, vermutlich mit Umkleiden beschäftigt, ihre Zimmertür verschlossen und das Mädchen angewiesen, die Flasche mit Parfüm vor die Türschwelle zu setzen.

Die Aufforderung des Detektivs, auch gegenüber der jungen Herrin über die gestellten Fragen Schweigen zu bewahren, erfüllte das Mädchen mit solcher Bereitwilligkeit, dass Nick überzeugt war, dass sie ihr Wort halten würde.

Der Kutscher wusste nichts von Belang anzugeben, und auch das Zimmermädchen war wie gewöhnlich im obersten Flur beschäftigt gewesen und hatte erst durch den Schreckensschrei ihrer Kollegin von dem außergewöhnlichen Vorgang im Haus erfahren.

»Befindet sich in Ihrem Zimmer ein Ofen?«, fragte der Detektiv.

»Nein, sämtliche Räume im Haus werden durch die Zentralheizung geheizt«, entgegnete die Erstaunte.

»Aber ich sah doch in Mr. Glenns Zimmer einen kleinen Ofen!«, warf Nick ein.

»Ach ja, bei großer Kälte fror der alte Herr leicht. Darum ließ er in jedem der Zimmer im zweiten Stockwerk, wo er sich fast ausschließlich aufhielt, einen kleinen Ofen installieren. Aber darin ist seit mindestens drei Monaten kein Feuer mehr gewesen.«

Kenneth unterbrach sie und teilte dem Detektiv mit, dass seine Schwester auf ihn im Wohnzimmer warte. Damit endete die Befragung.

»Leisten Sie Ihrer Schwester einstweilen Gesellschaft«, entgegnete der Detektiv. »Mr. Melville wird mich vorläufig durch den noch nicht besichtigt gebliebenen Teil des Hauses führen.«

Nick wollte unbedingt das Boudoir des jungen Mädchens in Augenschein nehmen, ehe er mit ihr selbst sprach. Vorläufig ließ er sich zu Kenneths Zimmer führen, was seinen Begleiter zu der spöttischen Bemerkung veranlasste, der Detektiv nähme es ja äußerst genau.

»Man kann in einem solchen Fall nicht gründlich genug verfahren!«, erklärte Nick kurz und machte sich daran, den Raum mit großer Genauigkeit zu durchsuchen. In Wirklichkeit erwartete er jedoch nicht, darin etwas von Belang zu entdecken.

Melville stand mit verschränkten Armen daneben und schaute dem Detektiv zu, wie dieser Schubladen öffnete, Möbel von den Wänden rückte, Bilder umdrehte, um dahinter zu schauen, den Ofen inspizierte und kurzum keinen Gegenstand nicht untersucht ließ.

»Ich habe viel von Ihrem Ruhm gehört, Mr. Carter«, meinte Melville schließlich. »Doch Ihr Gebaren erscheint mir, offen gestanden, unverständlich. Sie vermuten doch nicht etwa, dass Einbrecher hier tätig gewesen sind? Denn mir sieht es zumindest so aus, als suchten Sie Spuren von solchen zu entdecken.«

»Zugegeben, die Möglichkeit besteht – Nr. Glenn war ein reicher Mann.«

»Allerdings. Sie müssen es ja wissen!«, bemerkte der andere achselzuckend. »Aber ich finde Ihre Annahme haltlos, denn im ganzen Haus wurde offenbar nichts gestohlen.«

»Sie werden mir wenigstens zugeben, dass, da ein Mord vorliegt, auch ein Mörder vorhanden sein muss!«, entgegnete der Detektiv, scheinbar durch den Zweifel des anderen gekränkt.

»Warum sprechen Sie immer von einem Mörder? Kann es sich nicht auch um eine Mörderin handeln?«, gab Melville unter einem kühlen Achselzucken zurück.

»Gütiger Himmel!«, rief Nick, anscheinend ganz entsetzt. »Sie wollen doch nicht behaupten, eine Frau könnte …«

»Ich behaupte nichts von einer Frau oder einem Fräulein«, entgegnete Melville unbeirrt. »Gesprächsweise gestattete ich mir die Andeutung, die mir gerade durch den Kopf schoss. Ich dachte eben, dass eine Frau die Tat ganz gut vollbracht haben kann, denn es bedurfte keiner sonderlichen Körperkraft, um mit solchem Beil einen Todesstreich zu führen.«

»Gewiss«, brummte der Detektiv. »Ein Weib, das Nerven und auch die nötigen Beweggründe zur Ausführung einer solchen Schreckenstat hat, ist dazu wohl fähig«, räumte Nick in solch nachdenklichem Ton ein, als erschiene ihm die Sache in ganz anderem Licht als zuvor.

»Das weiß ich nicht – ich dachte nur an das abgeschnittene Stück Bettlaken.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Nick verständnislos.

»Nun, es wurde eine Schere verwendet, oder nicht? Nun pflegen Männer selten Scheren zu besitzen, auch Einbrecher nicht, wie Ihre Erfahrung Ihnen wohl sagen wird.«

»Allerdings«, bemerkte der Detektiv nickend. »Ich habe schon ziemlich viele Einbrecher gefasst, aber keiner der Kerle hatte eine Schere bei sich!« Er lachte kurz auf. »Übrigens mit Unterschied«, setzte er leichthin hinzu. »Einmal erwischte ich einen Kassendieb, der hatte eine Schere bei sich – doch er war Klerk in einem Schnittwarengeschäft.«

Wie Nick von dem Drogenverkäufer erfahren hatte, arbeitete George Stratton als Klerk in einem großen Manufakturwarenhaus. Darum machte er diese Bemerkung, und zwar aus einem bestimmten Grund.

»Da haben Sie recht«, fiel Melville sogleich eifrig ein, »ein Drygoods-Klerk möchte eine Schere besitzen – jedenfalls befand sich in Mr. Glenns Zimmer keine solche.«

»Aber woher wissen Sie das?«, erkundigte sich der Detektiv harmlos.

»Kenneth hat es mir gesagt – außerdem haben Sie sicherlich keine solche im Zimmer entdeckt, oder?«

»Nein, der Mörder hat zwar das Beil zurückgelassen, aber die Schere mitgenommen!«

Damit begab sich Nick Carter in Melvilles Begleitung zum Zimmer Mays, um dort in ähnlicher Weise alles zu durchsuchen. Doch er hielt inne, als Melville die Ofentür öffnete und ihn ansprach.

»In dem Ofen hier ist etwas verbrannt worden!«, erklärte Nick, nachdem er eine Weile in das Ofenloch hineingeschaut hatte. »Da, hier haben wir die Asche – und hier ist noch ein Fetzen.«

Er nahm ihn sorgfältig heraus und betrachtete das winzige Überbleibsel durch seine Lupe.

»Verbranntes Leinen!«, sagte er dann, gerade laut genug, um von Melville verstanden zu werden. »Ich möchte fast behaupten, es stammt von dem Bettlaken des Ermordeten. Jedenfalls muss ich dessen Tochter nun unverzüglich verhören!«

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