Die Abenteuer des Harry Dickson – Band 1 – Kapitel 8
Die Abenteuer des Harry Dickson
Band 1
Einem schrecklichen Tod entkommen
Kapitel 8
Die Enthüllung des Geheimnisses
Harry Dickson schritt nervös in seinem Zimmer auf und ab. Es waren bereits mehrere Tage vergangen, ohne dass er etwas von Tom oder dem Prinzen gehört hatte. Hatten sich alle seine Berechnungen als falsch erwiesen? Hatte er die Russin umsonst verschont, und war sie ihm entkommen?
In diesem Moment überreichte ihm sein Kammerdiener einen Brief, der am Morgen eingetroffen war und das Wappen des Prinzen Nischkoff trug. Der Inhalt lautete wie folgt:
Mylord
Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben. Keiner meiner Bediensteten ahnt, in welcher Gefahr ich in der Nacht des Festes geschwebt habe.
Die betreffende Dame schlief bis sieben Uhr morgens; dann wurde sie von einem meiner Diener höflich zur Tür begleitet.
Die Tatsache, dass ich heute einen Brief von einem Italiener erhalten habe, der mir anbietet, seinen bemerkenswerten Spielautomaten bei mir zu Hause vorzuführen, beweist eindeutig, dass die verdächtigten Personen nicht davon ausgehen, dass wir ihr Geheimnis gelüftet haben.
Alles läuft also wie von Ihnen vorgesehen; ich bewundere Ihre psychologischen Fähigkeiten und vertraue auf Ihre Scharfsichtigkeit, die mir bereits einmal das Leben gerettet hat.
Mit freundlichen Grüßen und Dankbarkeit, Nischkoff
Harry Dickson dachte lange nach. Er schmiedete einen Plan, um die ganze Bande in seine Fänge zu locken, ohne die Öffentlichkeit zu beunruhigen. Dann begab er sich zum Prinzen, um mit ihm darüber zu beraten.
»Nun habe ich alles Menschenmögliche getan, um ihnen einen herzlichen Empfang zu bereiten«, sagte er, nachdem er eingetreten war, und rieb sich die Hände. »Mit etwas Glück gehört der Fall Sadetzky bald der Vergangenheit an.«
Die Villa des Prinzen Nischkoff war erneut in ein Meer aus Licht getaucht; eine Kutsche nach der anderen brachte eine Flut von Gästen.
Diesmal fand der Empfang nicht in dem großen Saal statt, in dem fünf oder sechs Tage zuvor der Ball gegeben worden war, sondern in einem der privaten Kabinette des Prinzen. In der Mitte des Raumes, umgeben von einer Balustrade, thronte das rätselhafte Gerät, das wir bei Gräfin Sadetzky kennengelernt hatten. Der Impresario war jedoch kein Mann mit schwarzem, krausem Bart, sondern ein elegant gekleideter Herr mit kurzgeschnittenem Schnurrbart und feurigen Augen, ein echter Italiener. Er sprach Französisch mit einem so kehlig klingenden Akzent, dass niemand an seiner Nationalität zweifelte. In seiner Suite befand sich ein junger Diener mit kurz geschnittenem Haar und kleinen Koteletten; durch seine Galanterie gegenüber den anwesenden Damen eroberte er alle Herzen im Sturm.
Die Vorführung begann. Wie vor zwei Wochen bei Gräfin Sadetzky gab Tu Tsjing auch diesmal zu jedermanns großem Erstaunen auf alle Fragen die richtigen Antworten.
Er wusste so viele Einzelheiten aus dem Privatleben des Prinzen Nischkoff und der Gäste zu erzählen, dass sein Wissen an Unglaubliches grenzte.
Der Besitzer des Automaten stand, genau wie in London, steif neben seinem Gerät, als interessierten ihn die Fragen und Antworten nur mäßig. Nur von Zeit zu Zeit ließ er einen prüfenden Blick über die Anwesenden schweifen. Es war, als würde er jemanden vermissen. Plötzlich hellte sich sein finsterer Blick auf. Ein alter Herr mit fröhlicher Miene näherte sich dem Gerät. Er hörte dem Automaten mit wachsendem Interesse zu, während Tu Tsjing eine treffende Antwort nach der anderen gab.
»Ich würde gerne auch ein paar Fragen an Ihr geniales Gerät stellen«, sagte er und lächelte den Italiener freundlich an.
»Wenn Sie möchten, Monsieur, nur zu.«
»Zunächst eine ganz einfache Frage: Wie alt schätzt mich Tu Tsjing?«
Sofort schrieb der Automat auf seine Tafel: »55-60 Jahre«.
Der alte Herr rieb sich die Hände, glücklich, als hätte man ihm wertvolle Informationen gegeben.
»Sehr gut, sehr gut«, betonte er und wandte sich an den Prinzen, »die chinesische Puppe ist wirklich allwissend.«
Alle waren überrascht über die leichte Zufriedenheit des Fragestellers. Nach so vielen komplizierten Fragen, die Tu Tsjing gelöst hatte, war dies nur eine Kleinigkeit.
»Was bin ich und wie heiße ich?«, fragte nun der freundliche alte Herr.
»Sie sind ein Freund des Prinzen Nischkoff und Sie heißen Lord Roseberry.«
»Wunderbar!«, rief der Pseudolord; »ich hätte nie gedacht, dass Tu Tsjing mich in meiner Verkleidung erkennen würde.« Und er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass die Gäste von der Veränderung überrascht waren, und fuhr fort: »Kann Tu Tsjing mir sagen, ob beim letzten Tanzabend etwas Besonderes in diesem Haus passiert ist?«
»Eine Dame ist in Ohnmacht gefallen und musste hinausgetragen werden«, lautete die Antwort.
»Erstaunlich, mein lieber Tu Tsjing«, lobte der Lord und ließ seinen Blick über den Kreis der Gäste schweifen.
War es Zufall oder Vorsatz? Der Prinz nickte ihm fast unmerklich zu.
»Weiß Tu Tsjing auch, was die Absichten der besagten Dame waren?«
»Sie wollte sich ein wenig in Gesellschaft ihrer Landsleute vergnügen«, kritzelte der Chinese.
Das Lächeln war aus allen Gesichtern verschwunden. Man begann zu spüren, dass dieser alte Herr den Automaten um jeden Preis bloßstellen wollte. Alle Blicke spiegelten die Erwartung wider.
»Diesmal irrt sich Tu Tsjing«, behauptete Lord Roseberry und sah den Italiener an.
»Tu Tsjing irrt sich nie«, verteidigte sich der Italiener, dessen Gesichtsfarbe ein wenig blass wurde.
»Das ist ja lustig!«, rief der Lord lachend. »Ist Tu Tsjing der Meinung, dass ein Attentat auf das Leben von Prinz Nischkoff Teil des Unterhaltungsprogramms dieser Dame war? Dann könnte er recht haben!«
Die Gäste waren verwirrt, standen alle von ihren Plätzen auf und schauten den Italiener an, der seinem Gesprächspartner einen tragischen Blick zuwarf.
»Kann Tu Tsjing mir den Namen dieser Dame nennen?«, beharrte dieser.
»Tu Tsjing kennt diesen Namen, weigert sich jedoch, ihn preiszugeben«, schrieb der Automat.
»Diesmal spricht er die Wahrheit«, urteilte der Lord lächelnd. »Meine Damen und Herren«, wandte er sich an die Anwesenden, »da sich der Automat zurückhält, werde ich seine Antwort vervollständigen: Es war die bekannte Anarchistin Aglaja Fedorsky, die den Prinzen töten wollte.«
»Wo versteckt sich Aglaja Fedorsky derzeit?«, fragte der Lord weiter.
Ein knackendes Geräusch war aus dem Gerät zu hören, als wäre eine Feder gebrochen, und im selben Moment wurden Tu Tsjings steife Arme weich.
»Meine Damen und Herren, die Uhrwerkmechanik ist am Ende«, erklärte der Italiener, »Tu Tsjing kann nicht mehr antworten.«
»Dann werde ich seine Aufgaben übernehmen«, warf Lord Roseberry ein. »Aglaja Fedorsky, die gefährliche Anarchistin, ist niemand anderes als die hübsche Dienerin des Besitzers, die sich zu Beginn der Vorstellung so geschickt bei den Damen beliebt gemacht hat. Seien Sie unbesorgt, meine Damen und Herren«, fuhr er fort und erhob seine Stimme, als er sah, dass mehrere Gäste fliehen wollten. »Sie ist bereits unschädlich gemacht worden!«
Tom Wills, der von den Russen mitgebracht worden war, um das Gerät zu tragen, hatte sich auf seine Herrin gestürzt und sie so fest gefesselt, dass sie ihre Waffe nicht benutzen konnte. Gleichzeitig traten mehrere Polizisten, die sich in den ersten Reihen der Zuschauer befanden, vor und umringten das Gerät, sodass niemand entkommen konnte.
»Und nun, meine Damen und Herren«, verkündete der vermeintliche Lord, der nach wie vor so unerschütterlich war wie zu Beginn der Szene, »kommen wir zum Ende der Vorführung. Wer ist Tu Tsjing? Was ist diese allwissende Maschine des automatischen Schachspielers?«
Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Gerät und entfernte mit einer abrupten Bewegung den Kopf der chinesischen Statue.
»Sehen Sie diesen Gnom, der mit gekreuzten Beinen im Schränkchen sitzt? Er ist das Geheimnis des Automaten. Er ist das gefügige Werkzeug dieses Komikers, der sich Ihnen heute Abend als Italiener vorgestellt hat, aber niemand anderes ist als der berühmte Anarchistenführer Domitcheff, der seit Langem von der russischen Polizei gesucht wird. Diese beiden Männer sind auch die Mörder der Gräfin Sadetzky.«
Und mit einer geschickten Handbewegung holte er den zitternden Zwerg aus seinem Versteck und fuhr fort: »Aus seiner Tasche sehen wir einen kleinen Hammer, der an einer Seite spitz zuläuft. Mit diesem Instrument sollte Prinz Nischkoff in dieser Nacht betäubt werden, denn der sogenannte Impresario hatte bereits um die Erlaubnis gebeten, die Uhrwerkmechanik seines Automaten, also den hier anwesenden Zwerg, für die Nacht in den Privatgemächern unseres Gastgebers unterbringen zu dürfen, genau wie bei Gräfin Sadetzky, wo die Gesellschafterin, Aglaja Fedorsky den Korb in ihrem Bett versteckte.«
Während dieser Ansprache hatten die Beamten den Italiener mit den Händen auf dem Rücken gefesselt und seine Taschen durchsucht. Sie fanden einen geladenen Revolver mit großem Kaliber und eine flaschenförmige Bombe. Er würdigte sie keines Wortes.
Plötzlich ertönte am anderen Ende des Raumes ein schrecklicher Schrei.
»Lasst mich herein«, donnerte eine Frauenstimme, »ich will den Lord ein letztes Mal sehen. Ihr Flegel, ihr wisst doch, dass ich nichts mehr tun kann, ihr habt mich wie ein Paket gefesselt.«
Auf ein Zeichen des Prinzen wurde Aglaja hereingelassen. Sie blieb zwei Schritte vor Lord Roseberry stehen, der gerade unter dem Kronleuchter stand und den Zwerg, der am ganzen Leib zitterte, immer noch am Kragen festhielt.
Sie begann wie eine Närrin zu lachen, so sehr, dass man tatsächlich glaubte, sie sei augenblicklich verrückt geworden.
»Ah!«, rief sie aus, »das ist also meine Belohnung dafür, dass ich Sie aus dem Keller der Patrioten gerettet habe, als Domitcheff Sie in die Luft sprengen wollte. Ich war unverantwortlich blind, als ich Sie nicht im Stich gelassen habe, Mr. Harry Dickson! Aber ich glaubte zu fest an Ihren Tod, den mir Ihr feiger Schüler angekündigt hatte. Als Sie im letzten Moment meinen Anschlag auf den Prinzen vereitelten, indem Sie mir ein Schlafmittel zu trinken gaben, kam mir der Verdacht, dass ich es mit Harry Dickson zu tun hatte. Aber alles, was mir die Patrioten über den Schuss im Garten und den Anruf beim Arzt berichtet hatten, veranlasste mich, Ihren Tod als Tatsache anzunehmen. Ja, Sie waren schlauer als ich, Mr. Dickson. Sie haben Ihr Ziel erreicht; man wird uns dem englischen Henker ausliefern, damit wir gehängt werden. Aber unsere Sache wird uns überleben …«
Der berühmte Detektiv hatte Bart und Perücke abgenommen; er sah sich von allen Seiten von den Gästen umringt. Die meisten kannten ihn nur dem Namen nach und wollten ihm die Hand schütteln.
In diesem Moment kam es hinter diesem Kreis zu einer Unruhe und ein Triumphschrei ertönte. Aglaja Fedorsky, die sich von ihren Fesseln befreit hatte, stürzte sich auf einen Polizisten und entriss ihm seinen Revolver. Wie eine Tigerin sprang sie zur Tür, um zu fliehen, doch aus Vorsicht war diese verschlossen worden.
Mit dem Revolver in der Hand lehnte sie sich an die Wand und trotzte allen Anwesenden. Die Männer waren vor Emotionen sprachlos, die Frauen waren fast alle vor Angst in Ohnmacht gefallen.
Aglaja Fedorsky warf allen einen trotzigen Blick zu und begann erneut zu kichern.
»Beruhigt euch«, warf sie ihnen provokativ lachend entgegen, »mein Rachehunger erstreckt sich nicht auf feige Idioten wie euch. Ich habe es nur auf die Blutsauger abgesehen, auf die Henker meines armen, unterdrückten Volkes. Schade, dass der Vampir Nischkoff seinen Mut woanders hingebracht hat, es wäre das letzte Vergnügen meines Lebens gewesen, ihn mit mir ins Nichts zu nehmen. Ich sehe, dass ich verloren habe, und ich kann mich nur auf eine einzige Weise vor der erniedrigenden Berührung eurer niederträchtigen Lakaien schützen. Adieu, Mr. Dickson, ich hege keinen Groll gegen Sie, obwohl Sie der Urheber meines Untergangs sind. Aber zumindest sind Sie ein Mann im wahrsten Sinne des Wortes, und selbst in diesem letzten Moment empfinde ich aufrichtige Bewunderung für Sie.
Ein Schuss hallte, und mit zerschmettertem Gehirn sank Aglaja Fedorsky tot auf den Boden.
ENDE
Heft 2 trägt den Titel
Das Shady Hotel in Kairo
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