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Neuerscheinung Das Schiff der verlorenen Kinder von Boris Koch

Geschichten von verlorenen Seelen auf ihrem ungewissen Weg erzählen von Mut und Zusammenhalt inmitten unermesslicher Gefahr. Während die Schatten der Vergangenheit und die Schrecken der Gegenwart sie heimsuchen, müssen Leö und Felix nicht nur gegen die äußeren Monster bestehen, sondern auch gegen die, die in ihren eigenen Herzen wohnen. Nur durch die Kraft der Gemeinschaft und den unbeugsamen Willen, sich nicht dem Dunkel zu ergeben, können sie die Freiheit erreichen, nach der sie sich sehnen.

Boris Koch
Das Schiff der verlorenen Kinder
Fantasy, gebundener Roman, Heyne, München, Veröffentlichung: 29. Oktober 2025, 544 Seiten, 24,00 EUR, ISBN 9783453275102

Klappentext

Als die Brüder Leo und Felix nach einem Streit mit ihren Eltern aus der Welt gerissen werden, finden sie sich plötzlich allein auf einem gewaltigen Schiff in tiefster Nacht wieder. Die verwinkelten Korridore scheinen verlassen, doch schon bald müssen sie feststellen, dass grausame Monster das Schiff beherrschen und Hunderte Kinder und Jugendliche versklavt haben. Und immer noch wissen Leo und Felix nicht, wie sie eigentlich hierhergelangt sind, auf die Rückseite der Wirklichkeit. Eine Reise voller Schrecken beginnt, auf der sich die beiden gemeinsam mit neuen Freunden dem Grauen und der Finsternis stellen müssen, die das Schiff der verlorenen Kinder regieren – immer auf der Suche nach einem Weg zurück, heraus aus der Dunkelheit.

Leseprobe

EINS

NICHTS

1

Nichts deutete an jenem verregneten Oktobernachmittag da­rauf hin, dass in wenigen Minuten zwei Kinder spurlos ver­schwinden würden. Und schon gar nicht, wie dies geschehen sollte.

Sie würden weder von sich aus davonlaufen noch von Ver­brechern oder Verwandten entführt werden – und natürlich würden sie sich auch nicht einfach so in Luft auflösen.

Letztlich könnte man es vielleicht als eine Mischung aus all­dem bezeichnen, doch die Wahrheit würde niemand vermu­ten, nachdem das Verschwinden der beiden endlich bemerkt werden würde. Stunden nachdem sie in ihr Zimmer gegangen waren, um in Ruhe zu spielen, wie der Vater der Polizei mit­teilen würde. Er war angetrunken und wütend auf der Suche nach einem Schuldigen.

Das Zimmer läge verlassen da. Als sei es ohne die Kinder nur halb vorhanden, eine abgestreifte Hülle, eine leblose Kopie ohne Seele.

»Sie waren so ruhig«, würde die aufgelöste Mutter ergänzen. »Ich dachte einfach, heute streiten sie mal nicht und sind brav.«

»Streiten sie oft?«, würde die Polizei nachhaken, aber es wäre mehr ein Stochern im Dunkeln als das Verfolgen einer kon­kreten Spur.

»Es sind Brüder«, würden die Eltern einhellig antworten, als wäre das Erklärung genug. »Aber Felix tut niemandem etwas und Leo seinem Bruder nichts. Sie haben auch keinen Grund, davonzulaufen.«

Man würde davon ausgehen, dass die beiden sich trotzdem rausgeschlichen hatten, eine dumme Idee gelangweilter Kin­der (»Rotznasen«, würde der Vater sie nennen) oder die Lust auf ein Abenteuer. Alle würden sich an die Hoffnung klammern, dass die beiden nicht Opfer eines Verbrechens geworden wa­ren, sondern nur bei irgendeinem verbotenen Spiel die Zeit vergessen hatten.

Entgegen aller Hoffnung würden die Brüder in dieser Nacht jedoch nicht zurückkehren. Und auch nicht am nächsten Tag. Trotz aller Bemühungen würde die Polizei nicht die ge­ringste Spur finden, und alle würden sich ganz langsam an den Gedanken herantasten, dass den beiden das Allerschlimmste zugestoßen war.

 

2

Noch aber waren die beiden nicht verschollen, noch schien es ein ganz normaler stürmischer Samstag zu sein. Der Wind warf den Regen in Böen gegen die Fensterscheiben der Woh­nung, und Leo Pfeiffer trug sein struppiges Bärenfell über den Schultern. Er hatte sich ins Bad zurückgezogen, um in der Wanne nach Lachsen zu fischen.

Eigentlich wusste er, dass er mit seinen zwölf Jahren zu alt für solche Spiele war, das hatte sein Vater ihm oft genug ge­sagt. Doch wenn ihn niemand aus der Schule sah und er Lust dazu hatte, tat er es manchmal trotzdem. Er mochte Bären und liebte das Fell. Es war ein Erbstück seines Opas und echt. Sollte ihn irgendwann jemand beim Spielen erwischen, konnte er jederzeit seinen zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder Felix vor­schieben und behaupten, dass er nur mit ihm spielen würde. Dann wäre es nicht peinlich, sondern Leo wäre ein guter älterer Bruder. Etwas, das er gern und auch meist war.

Obwohl Leo nach dem König der Tiere benannt worden war, wollte er im Spiel immer ein Bär sein – nicht nur, weil er das passende Fell besaß. Er bewunderte die Größe des Grizzlys und sein Geschick beim Fischen, die Wucht eines angreifenden Eis­bären und dessen Unempfindlichkeit gegen Kälte. Egal wie be­häbig Bären wirkten, sie waren flink und konnten trotz ihres Gewichts auf Bäume klettern, das hatte er in Dokumentatio­nen gesehen. Ihre Zähne und Klauen waren mächtige Waffen, und das dichte Fell bot gegen fast alles Schutz, nicht nur gegen die Kälte. Sie waren geschickt genug, um Honig zu stehlen, und zäh genug, die Stiche wütender Bienen auszuhalten. Bären waren oft Einzelgänger und konnten so vieles, während Löwen einfach nur als besonders mutig galten.

Dabei zweifelte Leo diese sprichwörtliche Tapferkeit auch noch an. Denn wer weithin der Stärkste war, der anerkannte König der Tiere, die unangefochtene Spitze der Nahrungskette, der benötigte keinen Mut, um laut zu brüllen und über die Savanne zu herrschen. Jedes Tier auf seiner Speisekarte braucht mehr Mut als er, war Leo überzeugt.

Der Ursprung seiner Faszination für Bären war Opa Erwins altes Fell gewesen, das im Wohnzimmer seiner Großeltern ge­hangen hatte. Als Leo fast vier gewesen war, starb sein Opa, aber Oma Sabine hatte das Fell hängen lassen. Sie wollte an der Wohnung nichts verändern und gab nur heraus, was ihre Kinder mit Vehemenz für sich beanspruchten. Opas sil­berne Taschenuhr, die er selbst von seinem Vater geerbt hatte, die Münzsammlung, die Briefmarken und alles andere, was möglicherweise Wert besaß. An dem alten Fell hatte damals niemand außer Leo Interesse gezeigt.

Bei jedem Besuch hatte er es anfassen wollen, sobald er in die Wohnung gekommen war. Sanft hatte er es gestreichelt, fast scheu, als könnte der Bär jederzeit wieder lebendig wer­den und nach ihm schnappen. Das Fell schien ein Fremdkör­per in dieser sauberen, aufgeräumten Wohnung zu sein, es passte viel eher in eine Abenteuergeschichte aus einer ande­ren Zeit.

Leos Erinnerungen an Opa Erwin verblassten schon bald, er war einfach zu jung gewesen, als dieser gestorben war. Doch während aus der Wohnung der Großeltern bald Omas Woh­nung wurde, aus dem Schlafzimmer Omas Schlafzimmer und aus den Möbeln Omas Möbel, blieb das Fell weiterhin Opas Fell, und damit blieb auch etwas von ihm zurück.

Als Oma Sabine knapp sechs Jahre später, inzwischen ge­beugt und dement, ins Heim gekommen war, und die ver­bliebene Einrichtung verteilt, verkauft oder weggeschmis­sen werden sollte, hatte Leo sich sofort das Fell gegriffen und hoch und heilig geschworen, Oma habe es ihm schon lange versprochen.

»Sie hat es nur vergessen; sie vergisst doch alles! Bitte!«

Da sein Vater das Fell nicht selbst wollte, hatte er mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Meinetwegen.« Ihm war nur wichtig, dass seine Geschwister es nicht bekamen. »Es ist nicht viel wert.«

»Darum geht es doch nicht!«

»Wenn du meinst. Aber du trägst es selbst.«

Glücklich hatte Leo es sich über die Schultern gelegt, wäh­rend Felix noch immer die Bücher und das Spielzeug in der Hoffnung auf einen besonderen Fund durchwühlte.

Das Fell stammte von einem Schwarzbären und war alt und zottig; der Kopf fehlte, seit Leo denken konnte. Da, wo es das Herz bedeckt hatte, prangte ein daumendickes rundes Ein­schussloch. Als Leo alt genug gewesen war, um zu fragen, wie das Fell in Opas Besitz gekommen war, hatte die Vergesslich­keit Oma Sabine schon zu fest im Griff.

Mit einem entschuldigenden Lächeln hatte sie gesagt: »Von seinen Reisen, da war ich nicht dabei.«

Also hatte sich Leo die Reisen ausgemalt, Abenteuer um Abenteuer, und jedes einzelne machte den Großvater zu einem Helden und das Fell zu Leos wertvollstem Besitz, ganz gleich, was ein anderer dafür bezahlt hätte.

Jedes Mal, wenn er es sich überwarf, verwandelte er sich in einen Bären. Nicht in den, den sein Opa vielleicht erschossen hatte, sondern einen, der besonders wild und frei und am Le­ben war. Und egal was die Eltern sagten, Leo wusste, dass er nicht zu alt war, um davon zu träumen, wild und frei zu sein.

Eine vollständige Leseprobe gibt es unter penguinrandomhouse.de.

Autor

Boris Koch, Jahrgang 1973, wuchs auf dem Land südlich von Augsburg auf und leistete Zivildienst in einer Kinderpsychiatrie. Später brach er das Studium von Geschichte und Literatur zugunsten des Schreiben ab und hat seitdem über dreißig Bücher veröffentlicht. Er war Mitbegründer der Berliner Lesebühne Das StirnhirnhinterZimmer und textet Comics. Heute lebt er zusammen mit der Autorin Kathleen Weise und der gemeinsamen Tochter in Leipzig. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Krefelder Preis für Fantastische Literatur 2023.

Homepage des Autors: boriskoch.de

Quellen

  • Pressestelle Heyne Belletristik
  • Fotorechte: Foto von Boris Koch ©Kathleen Weis