Nick Carter – Band 18 – Ein Dynamitattentat – Kapitel 1
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein Dynamitattentat
Ein Detektivroman
Kapitel 1
Die Bombenexplosion
Der berühmte Detektiv befand sich mit seinen Gehilfen in Chicago.
Er hatte in der vergangenen Nacht auf bewundernswerte Weise einen entführten und gefangen gehaltenen Millionär befreit und war gerade dabei, seine Rechnung im Auditorium-Hotel zu begleichen, um anschließend unverzüglich die Rückfahrt nach New York anzutreten.
Da trat ein Hotelpage an seinen Tisch heran. Nick Carter war gerade mit seinem späten Frühstück fertig geworden. Der Page händigte ihm eine Visitenkarte mit dem Bemerken aus, ein Herr wünsche ihn in dringlicher Angelegenheit zu sprechen.
Kenneth Glenn, las der Detektiv auf der Karte, dann bedeutete er dem Jungen kurz, den Besucher in eines der privaten Empfangszimmer des Hotels zu geleiten; er selbst werde auf dem Fuße folgen.
Der Page begab sich in die Lobby zurück und fand dort seinen Auftraggeber in einem Gespräch mit einem Herrn, der etwas älter als er zu sein schien, begriffen.
»Bitte folgen Sie mir«, sagte der Page, »Mr. Carter will Sie empfangen.«
Kenneth Glenn, der dem Meisterdetektiv seine Karte gegeben hatte, bemerkte in leisem Ton etwas zu seinem Gefährten.
»All right«, erwiderte dieser ebenso. »Ich erwarte deine Rückkehr in meinem Haus!«
Damit entfernte er sich, während Kenneth Glenn von dem Knaben in eines der zahlreichen Sprechzimmer des Riesenhotels geleitet wurde.
Nick Carter war dem Boten gefolgt und hatte beobachtet, wie er an die beiden jungen Männer herangetreten war. Diese waren ihm, wie sein erster Blick ihm zeigte, völlig fremd. Er konnte sich nicht vorstellen, in welcher Angelegenheit Kenneth Glenn ihn sprechen wollte – es sei denn, ein neues Verbrechen war begangen worden und man wollte ihn beruflich in Anspruch nehmen.
Glenn schien noch am Anfang seiner Zwanziger zu stehen. Er war ziemlich stutzerhaft gekleidet, doch seine Züge erschienen tiefernst und düster. Mit niedergeschlagenen Blicken und fest aufeinander gepressten Lippen folgte er dem Pagen. Offensichtlich bedrückte ihn irgendein seelischer Kummer.
Sein etwas älterer Gefährte hatte auf den Detektiv den denkbar ungünstigsten Eindruck gemacht. Gründlich missfallen hatten diesem der harte, entschlossene Gesichtsausdruck und die stechenden Augen, deren Blick keine Scheu zu kennen schien.
»Wenn ich einen so jungen Sohn hätte wie diesen Kenneth Glenn, so möchte ich ihn um alles in der Welt nicht in der Gesellschaft eines derartigen Freundes wissen!«, ging es dem Detektiv durch den Sinn, während er sich langsam dem Sprechzimmer näherte.
Bei seinem Eintritt unterbrach der junge Mann seine ruhelose Durchwanderung des Zimmers und trat hastig an den Detektiv heran, der, wie immer in einer fremden Stadt, mit einer geschickt gewählten Maske erschien.
»Sie wünschten mich zu sprechen, Mr. Glenn?«, sagte Nick Carter gemessen. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich weiß nicht, ob mir überhaupt jemand helfen kann. Doch der hiesige Polizeichef meinte, Sie seien der Einzige, der mir helfen könne. Er schickte mich zu Ihnen und gab mir diesen Brief für Sie mit«, entgegnete Kenneth Glenn gepresst, ohne den Blick zu erheben.
Der Detektiv nahm schweigend das Schreiben in Empfang und las:
Lieber Freund Carter! Ich fürchte, Sie haben Chicago schon verlassen! Sollte dies nicht der Fall sein, so würden Sie mir einen wesentlichen Dienst leisten, wenn Sie den Überbringer, Herrn Kenneth Glenn, anhören und sich seines Falles annehmen würden. Es ist dies schon der zweite Mord eines hochgeachteten Mannes, der mir heute Morgen gemeldet wurde. Ich möchte meine Leute ausschließlich mit der Ermittlung des ersten Falles betrauen, bei dem es um die rätselhafte Ermordung eines unserer bekanntesten Anwälte, des hochgeachteten Mr. Joseph Waller, geht. Dieser Fall hat nichts mit der traurigen Angelegenheit des jungen Mr. Glenn gemein. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir die Recherchen im zweiten Fall abnehmen könnten.
»Es handelt sich um einen Mord?«, fragte Nick ernst.
»Um meinen Vater!«, kam es gebrochen über die Lippen des Tiefgebeugten.
»Das ist sehr traurig! Doch fassen Sie sich und geben Sie mir die näheren Umstände an!«
»Ich will es versuchen, obgleich ich selbst nur sehr wenig weiß!«
Geduldig lauschte der Detektiv den zunächst ziemlich verworrenen Angaben. Aus Erfahrung wusste er, dass von jähem Schreck und tiefer Trauer Heimgesuchte nur selten klar zu denken oder zu sprechen vermögen. Es überraschte ihn sogar, dass sein Gegenüber nach Überwindung der ersten Befangenheit klar und zusammenhängend zu sprechen begann.
»Wir leben in einem Privathaus an der La Crosse Avenue«, berichtete Kenneth Glenn. »Unsere Familie bestand aus meinem Vater Matthew Glenn, meiner Schwester May und mir selbst. Wir haben außerdem einen Kutscher, eine Köchin, ein Haus- und ein Zimmermädchen als Dienerschaft. Außer mir selbst waren sämtliche Bewohner des Hauses gestern Abend in ihren Zimmern. Ich kam gegen zehn Uhr abends zurück, als mein Vater sich gerade zu Bett begeben wollte. Wir tauschten noch einen Gute-Nacht-Gruß aus. Meine Schwester hatte ihr Schlafzimmer zu diesem Zeitpunkt bereits aufgesucht.«
»Warten Sie einen Augenblick«, unterbrach ihn der Detektiv. »Sie drücken sich sehr klar aus, und ich möchte deshalb einige Fragen an Sie richten. Verstand ich Sie richtig? Sämtliche Hausbewohner zogen sich gestern Abend frühzeitig zurück?«
»Gewiss!«
»Entspricht dies der Hausgewohnheit?«
»Ja und nein! Wenn wir keine Gesellschaft, kein Theater, kein Konzert oder dergleichen besuchen, gehen wir frühzeitig ins Bett. Unsere Zeit zum Aufstehen ist in unserem Haus etwa um acht Uhr.«
»Auch wenn Sie sich zeitig zurückgezogen haben?«, fragte Nick Carter weiter.
»Nun, wir bleiben wenigstens in unseren Schlafzimmern. Um sechs Uhr stellt das Hausmädchen vor jede Tür einen Teller mit Früchten. Es ist eine Sitte, die mein Vater eingeführt hat. Oft esse ich die Früchte zwei Stunden, bevor ich mich nach unten begebe.«
»Wann begaben Sie sich heute nach dem Diningroom (Esszimmer) hinunter?«
»Heute war es spät geworden – die Hitze während der Nacht hatte mir zugesetzt – es mag so ziemlich neun Uhr geworden sein. Unten fand ich meine Schwester auf mich und meinen Vater zu warten. May wunderte sich, denn mein Vater ist sehr pünktlich. Das Hausmädchen meinte auf Befragen, dass mein Vater etwa eine Stunde zuvor die Tür geöffnet und seinen Fruchtteller ins Zimmer genommen habe.«
»Soll das heißen, dass Ihr Vater um acht Uhr morgens noch am Leben war?«, warf der Detektiv ein.
»Das kann ich nicht sagen, Mr. Carter, denn ich befand mich in meinem Schlafzimmer oben.«
»Sah das Hausmädchen ihn oder sprach sie mit ihm?«, hakte Nick Carter weiter nach.
Zum ersten Mal hob Kenneth Glenn die beharrlich gesenkten Augen.
»Ich weiß es nicht. In der Aufregung dachte ich nicht daran, das Mädchen zu befragen!«, erklärte er schließlich und senkte den Blick wieder.
»Das kann ich nachholen. Doch wie verlief die Sache nun weiter?«
»Ich befahl dem Mädchen, sich zu meinem Vater zu begeben und ihm mitzuteilen, dass wir ihn am Frühstückstisch erwarteten«, berichtete Kenneth Glenn. »Kaum eine Minute verstrich, da hörten wir das Mädchen im Zimmer meines Vaters fürchterlich aufschreien. Natürlich eilte ich sofort dorthin. Unterwegs traf ich das Hausmädchen, welches laut aufschluchzte. Doch umsonst befragte ich sie nach dem Grund ihrer Aufregung. Sie deutete nur auf die geschlossene Schlafzimmertür meines Vaters. Als ich diese in begreiflicher Unruhe öffnete, sah ich meinen Vater auf dem Boden liegen, ein Rasiermesser in der rechten Hand, aus einer tiefen Halswunde blutend.«
Der junge Mann schwieg, als wäre er von seinen Gefühlen überwältigt, und hielt sich die Hand vor die Augen.
»Nun, Mr. Glenn«, meinte Nick, nachdem er seinem Besucher Zeit zur Erholung gegeben hatte, »nach Ihrer Angabe liegt Selbstmord vor – Sie sprachen von einem Rasiermesser …«
»Gewiss, mein Vater muss während des Rasierens vom Tod ereilt worden sein. Auf seinen Wangen befand sich noch Seifenschaum, und sein Rasierbesteck lag offen auf dem Ankleidetisch. Um den Hals hatte er nach seiner Gewohnheit eine Serviette gebunden – und dennoch ist es kein Selbstmord, Mr. Carter!«, setzte er aufstöhnend hinzu. »Auf dem Teppich lag ein blutbeflecktes Beil. Mein armer Vater ist von hinten heimtückisch niedergeschlagen worden. Mindestens zwei Hiebe wurden gegen ihn geführt, einer davon gegen den Hals. Der andere, der den ganzen Schädel zerschmettert hat, wurde nach dem Hinterkopf geführt.«
Diesmal ließ der Detektiv seinem Besucher keine Zeit, sich seinem Schmerz hinzugeben, denn er begriff, dass es sich um einen jener Fälle handelte, bei deren Aufklärung keine Sekunde verloren werden durfte.
»War Ihr Vater ein großer Mann?«, fragte er rasch.
»Nein, etwas kleiner als ich, also mittelgroß.«
»Fühlte sich die Leiche noch warm an?«
»Ich kann nur sagen, dass der Arzt angab, der Tod sei höchstens zwei Stunden zuvor eingetreten.«
»Sie riefen also einen Arzt herbei. Unternahmen Sie noch sonstige Schritte?«
»Als der Hausarzt mir mitteilte, dass mein Vater tot sei, benachrichtigte ich die Polizei«, erklärte Kenneth Glenn mit schleppend klingender Stimme und legte wieder die Hand an die Stirn.
»Sie begaben sich sofort zum Polizeihauptquartier?«
»Allerdings hielt ich es in einem Fall von solcher Wichtigkeit für angemessen, nicht erst die Bezirkspolizei herbeizurufen.«
»Sehr richtig. Der Chef schickte Sie zu mir – und ich übernehme den Fall, Mr. Glenn!«
»Das zu hören, ist mir eine große Erleichterung. Es ist unnötig zu erwähnen, dass meine Schwester und ich für alle Kosten aufkommen, Mr. Carter.«
»Pah, erwähnen Sie nicht die Geldfrage!«, unterbrach ihn der Detektiv mit einer abwehrenden Handbewegung. »Haben Sie sich die mutmaßliche Mordwaffe, also das Beil, angesehen?«
»Nicht sonderlich – immerhin erkannte ich darin unser Eigentum.«
Nick antwortete nichts.
Die nervöse Erregtheit des jungen Mannes ließ es ihm angezeigt erscheinen, das Thema zu wechseln.
»Besaß Ihr Vater Feinde?«, erkundigte er sich weiter.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Lassen irgendwelche Anzeichen auf einen Raubmord schließen?«
»Ich habe nichts dergleichen wahrnehmen können, Mr. Carter«, entgegnete Kenneth Glenn leise.
»Wissen Sie, was Ihr Vater gestern getan und unternommen hat?«
»Ich glaube, er hat seinen Anwalt in Geschäftsangelegenheiten aufgesucht. Mehr weiß ich nicht!«
»Wie heißt dieser Rechtsbeistand?«
»Joseph Waller«, versetzte der junge Mann, der inzwischen seine volle Sammlung zurückgewonnen hatte und dem forschenden Blick des Detektivs nun standhafter begegnen konnte.
Nicks Mienen blieben verschlossen.
»Ich setze voraus, dass Mr. Waller in der Lage sein wird, uns Auskunft über die Angelegenheit Ihres Vaters zu geben und uns vielleicht auch einen Anhalt darüber zu verschaffen, wer sich durch den Tod Ihres Vaters einen Vorteil verschaffen konnte«, bemerkte er leichthin.
»Das ist wohl möglich, Mr. Carter!«
»Natürlich, doch Mr. Waller können wir später befragen. Zunächst will ich mich an den Tatort begeben. Sie erwähnten Ihre Schwester nicht weiter. War sie mit Ihnen im Diningroom?«
Die nervöse Zerfahrenheit des jungen Mannes kehrte zurück und er blickte wieder zu Boden.
»Ich wüsste nicht, was ich dazu sagen sollte«, meinte er zurückhaltend. »May ist natürlich wie erstarrt.«
»Begleitete sie Sie nach dem Schlafzimmer?«
»Mag sein, sie folgte mir, doch ich achtete nicht darauf.«
»Aber Sie sahen Ihre Schwester im Zimmer?«
»Gewiss, vielleicht eine Minute später sah ich May.«
»Die gesamte Dienerschaft weilt im Haus, ja? Wurde die Leiche entfernt?«
»Nein, der Arzt ordnete an, dass alles bis zum Eintreffen der Polizei unverändert bleiben müsse. Wenn Sie jetzt zu unserem Haus gehen, Mr. Carter, kann ich Sie leider nicht begleiten, denn ich muss mich um einen Leichenbestatter kümmern.«
Seufzend wollte Kenneth Glenn sich verabschieden, doch Nick hielt ihn zurück.
»Eine Frage, Mr. Glenn: Suchten Sie mich allein auf?«
»Nein, warum fragen Sie?«, sagte der junge Mann betroffen.
»Wer begleitete Sie? Ein Beamter vom Hauptquartier?«, wollte Nick Carter wissen.
»Nein, es war mein bester Freund. Er ist älter als ich. Als wir uns zufällig trafen, habe ich ihm das schreckliche Geschehen offenbart. Ich lege großen Wert auf seine Erfahrung. Er hat mich immer gut beraten.«
»Wie heißt er und welches Geschäft betreibt er?«, unterbrach ihn der Detektiv eifrig.
»Hermann Melville. Er hat keinen Beruf, sondern lebt von seinem Vermögen.«
»All right, Mr. Glenn. Ich fragte nur, weil ein Detektiv klar sehen muss. Verständigen Sie Ihren Freund, nichts über die ihm bekanntgewordenen Mitteilungen verlauten zu lassen.«
»Natürlich, doch Hermann ist verschwiegen wie ein Grab.«
»In Ordnung, aber in dieser Angelegenheit müssen Sie sich meiner Führung unterwerfen und so handeln, wie ich es Ihnen vorschreibe, Mr. Glenn. Sollten Sie mir entgegen den Ratschlägen Ihres Freundes folgen, würde ich den Fall sofort niederlegen.«
»Sie werden über mich nicht zu klagen haben.«
»Dann good bye, ich muss aufbrechen!«, bemerkte der Detektiv kurz und reichte ihm die Hand.
Über die rasche Verabschiedung schien der junge Mann bestürzt, denn er zögerte mehrere Sekunden, die dargebotene Hand zu ergreifen. Dann schüttelte er sie, verbeugte sich und ging.
Gedankenvoll machte sich Nick Carter zum Ausgehen fertig. Er benachrichtigte seine Getreuen schnell davon, dass aus der geplanten Abreise nichts werden konnte und er sie vielmehr in Bälde zur Mitarbeit in dem neu übernommenen Fall erwartete. Dann verließ er in seiner bisherigen Verkleidung sein Zimmer und bestieg vor dem Hotel ein geschlossenes Cab, um zum Haus des Ermordeten zu fahren.
Doch die Fahrt hatte noch nicht lange gedauert, als der nachdenklich vor sich hinbrütende Detektiv plötzlich aufsprang, eine Wagentür aufstieß und mit Blitzesschnelle auf die Straße sprang.
Das geschah keine Sekunde zu früh, denn schon erfüllte eine betäubende Explosion die Luft.
Das Cab wurde hochgehoben und in tausend Splitter zerrissen, während Kissen und Holzwerk gleichzeitig zu brennen begannen.
Gerade als Nicks Füße das Pflaster erreichten, erfolgte die Explosion. Er wurde mit furchtbarer Gewalt über den Straßendamm gegen die Mauern der Häuserreihe geschleudert. Sein Schädel wäre an diesen zerschmettert worden, hätte nicht zufällig in einem der Häuser ein Umzug stattgefunden. Matratzen, die gegen die Hausmauer gelehnt waren, milderten die Gewalt des sonst verhängnisvoll gewordenen Stoßes, als der Körper des Detektivs gegen sie prallte.
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