Mörder und Gespenster – Band 1 – 8. Teil
August Lewald
Mörder und Gespenster
Band 1
Der Werwolf
Kapitel 8
In der Hütte des armen Simon war es dunkel und still. In einem Winkel ruhte er halb ohnmächtig auf seinem ärmlichen Lager, erschöpft vom starken Blutverlust. Unter dem Lager lag die Haut des Werwolfs, die ihm bei der verhängnisvollen Verkleidung geholfen hatte, durch die er die Liebe der schönsten Dörflerin errungen hatte – und durch die er nun solche Schmerzen empfand. Seine von Tränen geröteten Augen vergossen noch immer reichlich Tränen; Schmerzen der Seele gesellten sich zu den Schmerzen des Körpers, um seine Folter endlos zu machen.
Wie kurz war mein Traum vom Glück! Wie selig hätte mich seine Fortdauer gemacht! Ausgestoßen von der Welt, verabscheut von den Menschen, konnte mich das, was sie Glück nennen, ja nicht erfreuen. Meines musste anderer Art sein. Und ich fühlte es in meiner Bedrängnis, dass ich es gefunden hatte. Was aber soll ich nun beginnen? Der Boshafte wird meine abgehauene Hand doch nicht wie ein Siegeszeichen überall herumtragen? Er wird sagen: »Seht da den Beweis, dass Simon der Werwolf ist! Jetzt ist es nicht zu bezweifeln, dass er die schändliche Teufelsmacht von seinen Eltern, den alten Wehrwölfen, geerbt hat. Ich aber habe ihn gezeichnet; er wird niemandem mehr schaden!« Und bin ich denn nicht wirklich ein Werwolf? Verleiht die Hölle die Macht, seine eigene Haut und sein eigenes Fleisch umzugestalten, oder leiht sie uns nur das Gewand zur Vermummung, mit dem uns der Wille und die Macht zugeteilt werden, unseren Mitmenschen Böses zuzufügen? Wurde ich nicht zum Werwolf, zu einem heulenden, nächtlichen, blutdürstigen Ungeheuer, als ich an jenem verhängnisvollen Abend das fürchterliche Gewand fand, in dem meine Väter gewiss schon viele Gräueltaten verübt hatten? Von dem Augenblick an, als ich es anlegte, war ich der Hölle verfallen. Ja, das fürchterliche Erbe ist auf mich übergegangen. Ich bin ein Scheusal, ein Nachtgespenst, vor dem gute Menschen fliehen müssen. Alles, was ich in meiner Unschuld erdulden musste, war die Vorstrafe meiner nun folgenden entsetzlichen Taten!«
Seine Gedanken waren durch dieses innere Selbstgespräch so erschöpft, dass sie sich für einen Augenblick verwirrten und bald dem irren Lauf der Fantasien des Wundfiebers Platz machen mussten, welches den Unglücklichen, der ohne jede Pflege seiner schweren Verwundung dalag, plötzlich ergriff. Dazwischen leuchtete ihm wie ein heller Streifen durch ein kreiselndes, schwarzes Wolkenmeer die Gewissheit: Der Stumpf deines Armes wird sich ergänzen, deine Hand wird dir wieder wachsen, schön mit ihren fünf Fingern. Du wirst Rache nehmen können an dem, der dir die Schmerzen verursacht hat. Du wirst nicht fliehen müssen aus deiner Heimat, wo du schon so viel erduldet hast und wo dir noch glückliche Tage erblühen werden. Dann schrillten wieder Töne wie gellende Pfeifen in seinen Ohren, dazwischen ertönte heiseres, wildes Lachen und er verstand die Worte: Dies ist der Lohn der Hölle, deren Dienst du dich fortan weihen musst und die ihr Wohlgefallen an dir hat.
Halb betäubt lag er da, als sich leise die Tür öffnete, und herein stürzte die weinende Frau des Metzgers mit scheuen Blicken. Das Elend, das sie vor sich sah, erschütterte sie noch tiefer. In diesem feuchten, dumpfen Raum liegt der, den sie liebt, auf Stroh, bleich und entstellt. Sein gebrochenes Auge ist auf sie gerichtet, als sie eintritt, aber er scheint sie nicht zu erkennen. Alle Scheu und Zurückhaltung waren von ihr gewichen. Sie fürchtete keine Zaubermacht und keinen Zorn des beleidigten Gatten. Ein wahrhaft liebendes Weib schwingt sich über die beengenden Schranken hinweg. Ihre Liebe kannte kein Hindernis. Sie fühlte, dass dieser Mann trotz seines Elends und seiner Armut ihre Aufopferung würdig sei. Sie warf sich zu ihm auf die Erde nieder, umschlang ihn, rief ihn mit den süßesten Namen ins Leben zurück, verwünschte ihren Mann, der diese grausame Tat verübt hatte, ergriff den blutigen Stumpf und bedeckte ihn mit ihren Tränen und Küssen.
Dieser Balsam hätte jede Wunde des unglücklichen Simon schnell geheilt, wäre er imstande gewesen, zu empfinden. Doch seine Sinne waren noch immer von der Ohnmacht umfangen, und er träumte nur etwas ruhiger. Anstelle der schrillen Töne der Hölle begannen nun Harfen der Engel um ihn zu säuseln.
Da hört man starke Schritte, die sich der Hütte nähern. Die am Lager kniende Frau horchte auf. Wer kann sich der Hütte Simons, des Werwolfs, nähern?, dachte sie. Sie sprang eilig auf und schaute durch die Ritzen der Tür.
»Mein Mann!«, rief sie entsetzt. Ein schneller Blick, den sie in die Runde warf, zeigte ihr nur einen einzigen Ort, an dem sie sich vor ihm verbergen konnte. Es war kein Entrinnen möglich. Sie wich von der Tür und verbarg sich.
Der Metzger, der meinte, die Tür sei geschlossen, klopfte mächtig mit seinem Knüppel daran. Doch schon beim ersten Schlag sprang sie auf und er stand vor dem Lager seines Feindes. Unter dem Arm hielt er etwas, das in eine Serviette gewickelt und sorgfältig zugeknüpft war. Das Aussehen des Verwundeten erfüllet ihn mit hämischer Freude. Er ließ seinen Blick lange auf ihm ruhen, als wolle er die Macht und Größe der von ihm zugefügten Schmerzen und Qualen ermessen und ihnen bis zu ihrem Ursprung nachspüren.
»He, Simon, wacht auf!«, rief er ihm schließlich mit starker Stimme zu. »Was faullenzt Ihr da, wenn ich komme, um Euch Geld verdienen zu lassen? Keine Antwort! Schlaft Ihr etwa? Seid Ihr etwa schon gestorben? Gebt mir Antwort! Steht auf, Siebenschläfer.«
Als noch immer keine Antwort erfolgte, stieß er mit dem Fuß an das Lager. Da Simon sich immer noch nicht regte, sann der Metzger auf ein Mittel, ihn zu sich zu bringen. Er sah Wasser in einem Eimer und warf schnell die zugeknüpfte Serviette auf die Decke. Dann schöpfte er mit beiden Händen von dem Wasser und schüttete es wiederholt dem Ohnmächtigen ins Gesicht. Dies hatte den gewünschten Erfolg. Simon erschrak heftig, eine konvulsivische Bewegung durchzitterte seinen ganzen Körper, die Spannkraft der Muskeln belebte sich wieder und wie aus einem Traum plötzlich erwachend, setzte er sich jäh im Bett auf.
»Ei, da seid Ihr ja wieder wach und munter!«, warf der Metzger wie scherzend hin. »Ihr habt so sanft geschlafen, als ich hereinkam, dass Ihr nichts gesehen oder gehört habt. Ich komme als Freund zu Euch, um Euch einen annehmbaren Vorschlag zu machen. Ihr wisst, dass ich zu Euren Feinden niemals gehört habe und dass wir in der letzten Zeit sogar ziemlich vertraut geworden sind und unsere Geheimnisse für uns behalten haben.«
Sei es, dass diese Worte Simon wieder zur vollen Besinnung brachten und ihm seine Lage auf einmal klar wurde, oder dass ihn eine Schwäche überkam – genug, er sank auf sein Lager zurück und zog mit seiner gesunden Hand die Decke bis zum Hals empor.
»Es fehlt an Arbeitern in dieser Zeit, die Sonne eilt dem Frühling voran; wir müssen die schönen Tage nutzen. Alle, die Grund und Boden haben, sind draußen und mühen sich in ihrem Eigentum ab. Ich und meine Knechte haben mit dem Vieh und dem Schlachten alle Hände voll zu tun. Tagelöhner sind bei uns selten. Seht nun, Simon, ich setze mich über alles wunderliche Gerede hinweg. Kommt! Ihr sollt auf meinem Acker arbeiten. Ihr seid kräftig und habt ja Eure gesunden Arme. Mehr braucht es nicht.«
Simon knirschte mit den Zähnen, als er den Metzger so sprechen hörte, und sein Auge suchte nach einer Waffe. Hätte er in diesem Augenblick seine gesunden Arme gehabt, wer weiß, ob der Feind die Hütte wieder verlassen hätte. Nach einer Pause, in der er sich gefasst hatte, sprach er leise: »Ich bin krank und kann Euren Antrag nicht annehmen.«
»Ihr seid krank? Und gestern sah man Euch noch ausgehen. Und diese Nacht … Ach, was da! Her mit der Hand! Ich will Euch den Puls fühlen!«
»Was wollt Ihr mit Euren Scherzen?«, sprach Simon, »Ihr seid ja kein Arzt. Lasst mich in Ruhe und zieht Eures Weges.«
»Was wisst Ihr von meinen Kenntnissen und Fähigkeiten? Ich bin ein erfahrener Mann! Ich diente im Feld, und da erlernt man manches. Seid doch nicht so eigensinnig. Lasst mich immerhin Euren Puls fühlen, und seid gewiss, ich werde Euch helfen.«
Der Kranke wusste in seiner Hilflosigkeit nichts anderes, um den Überlästigen loszuwerden, als ihm die Hand hinzuhalten, die er mühsam unter der Decke hervorstreckte.
»Ei, was ist denn das?«, schrie jener, »Ihr gebt mir ja die Linke! Wisst Ihr denn nicht, dass man den Puls an der rechten Hand fühlen muss? Nun, wird’s bald? Ihr tut ja, als wärt Ihr einhändig! Habt Ihr Eure Hand etwa verloren? Soll ich sie Euch etwa geben?«
Als der Kranke die Augen schloss und keine Antwort gab, beugte sich der Metzger zu ihm nieder, packte seine Hand mit wildem Grimm und schrie unter plumpen Verhöhnungen: »Also immer nur diese eine Hand? Soll ich sie Euch denn abhauen, Herr Wolf? Zaudert nicht länger, zeigt mir Eure rechte Hand, ich will Eure rechte Hand, sehen!«
Da tönte es dumpf und gezogen: »Hier!«
Die Stimme schien keinem Sterblichen zu gehören, und ein weißer Arm mit einer gesunden Hand streckte sich dem entsetzten Metzger entgegen.
Er sank auf die Knie, bekreuzigte sich und betete, stammelte verworrene Worte, rappelte sich auf und lief davon.
Das, was er in der Serviette mitgebracht hatte, blieb auf dem Lager des Verwundeten liegen.
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