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Nick Carter – Band 17 – Das Gefängnis auf dem Meeresgrund – Kapitel 10

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Das Gefängnis auf dem Meeresgrund
Ein Detektivroman

George Dunbars Schicksal

Wäre Nick Carter mit seinem Rettungswerk auch nur eine Stunde später gekommen, hätte er Mr. Fillmore nur noch tot angetroffen. Auch so lag der Fall schlimm genug, denn die schnell herbeigerufenen

Die Ärzte waren sich unschlüssig, ob es ihrer Kunst gelingen würde, den Millionär wieder ins Leben zurückzurufen.

Man hatte Fillmore natürlich schleunigst in einer Ambulanz zu seinem eigenen Wohnhaus überführt und einen nach dem anderen der berühmtesten Ärzte Chicagos herbeigerufen, um das Leben des Millionärs zu retten.

Sie drückten dem Meisterdetektiv ihre höchste Anerkennung aus und erklärten, dass sie den ersten Beistand nicht besser hätten leisten können, als er es getan hatte.

»Glauben Sie, dass Mr. Fillmore bis morgen früh wieder bei Bewusstsein sein wird?«, erkundigte sich Nick Carter interessiert.

»Unter allen Umständen, wenn er überhaupt wieder zum Bewusstsein zurückkehrt!«, lautete die ausweichende Antwort.

»Dann will ich hier bleiben und abwarten, bis Sie mir Ihre Entscheidung mitteilen können!«, erklärte der Detektiv. »Ich muss Mr. Fillmore entweder tot wissen oder unter allen Umständen als Erster mit ihm sprechen!«

Chick schaute den Meister ziemlich verblüfft an, denn er hatte angenommen, Nick würde sich zunächst um die Verhaftung von George Dunbar kümmern.

»Nein«, erklärte Nick kopfschüttelnd auf eine Frage seines Gehilfen, »ich ziehe es vor, zunächst Patsys Bericht abzuwarten. Wir können George Dunbar selbstverständlich ohne Weiteres verhaften, doch er hat einen Bruder.«

»Und einen Vater!«, setzte Chick bedeutsam hinzu.

»Wir müssen zunächst abwarten, wie Mr. Fillmore, falls er überhaupt wieder zum Leben zurückerwacht, über die ganze Sache denkt!«, erklärte Nick Carter. »Wir wissen, dass die Dunbars ihn auf keinen Fall ermorden wollten, wenn sie auch ihr Vorhaben, den gefährlichen Geschäftskonkurrenten beiseite zu schaffen, auf die unverständigste und verbrecherischste Weise ins Werk gesetzt haben. Immerhin hängt es von Mr. Fillmore ab, ob die Dunbars bestraft werden sollen oder nicht!«

»Aber das wäre doch himmelschreiend, wenn derartige Niedertracht unbestraft bleiben sollte!«, ereiferte sich Chick.

»Allerdings!«, erklärte der Meister. »Doch vergiss nicht, dass Mr. Fillmore und der alte Dunbar von Kindesbeinen an vertraute Freunde waren und trotz aller Konkurrenz bis heute Freunde geblieben sind. Mag sein, der alte Dunbar ist nicht besser als seine Söhne – doch vorläufig zweifle ich daran, dass er von deren verbrecherischer Tat wusste oder weiß. Ich habe die Vermutung, dass die Brüder Dunbar über den Kopf ihres Vaters hinaus eigenmächtig gehandelt haben.«

»Nun verstehe ich dich«, bemerkte Chick, der wenig erfreut wirkte. »Du meinst, es könnte Mr. Fillmore widerstreben, Anklage gegen seinen alten Freund oder dessen Söhne zu erheben.«

»Gut, warten wir Patsys Bericht ab«, entschied der große Detektiv.

»Mir auch recht«, brummte Chick. »Doch wenn Fillmore wirklich auf die Bestrafung der Schurken verzichtet, die ihn zumindest an den Grabesrand gebracht haben, um ihm eine geschäftliche Niederlage beizubringen, dann halte ich ihn nicht etwa für einen großmütigen, herzensguten Menschen, sondern für einen Narren.«

Nick lachte nur gelassen, was nicht gerade zur Besänftigung seines aufgebrachten Gehilfen diente.

»All right, Nick«, versetzte Chick. »Willst du, dass ich auch gleich hier mit in den Schoß gefalteten Händen warte?«

»Nur Ruhe, mit der Ruhe macht man alles!«, beschwichtigte der Detektiv. »So sehr mir deine Gesellschaft auch gefällt, du kannst gehen, denn Patsy möchte Bericht erstatten und das Gleiche mag bei Ida der Fall sein. Begib dich deshalb zum Auditorium-Hotel und sieh zu, ob Neuigkeiten vorliegen. Sollte dies der Fall sein, so kehre hierher zurück und erstatte mir Bericht.«

Chick begab sich auf dem schnellsten Weg zum Auditorium-Hotel, wo er aus den bereits bekannten Gründen von Patsy nichts sah oder hörte. Dagegen traf er Ida und hörte ihre Abenteuer.

Kurz vor Mitternacht kehrte Chick ins Fillmore’sche Wohnhaus zurück. Kaum hatte er dem Meister Bericht erstattet, erklärten die Ärzte freudig, dass der Millionär bereits weit genug wiederhergestellt sei, um mit Nick Carter sprechen zu können.

»Warte auf mich, Chick«, erklärte Nick Carter und erhob sich hastig von seinem Sessel. »Ich werde nur wenige Minuten lang weg sein.«

Damit begab er sich zum Schlafgemach des Millionärs.

»Dieser Herr hier«, meinte der Hausarzt, während er den Detektiv an das Bett des schwach und angegriffen daliegenden Mannes führte, »wünscht, Ihnen einige Fragen zu stellen, Mr. Fillmore. Doch Sie dürfen sich dadurch nicht erregen lassen.«

»Mich kann nichts erregen«, erklärte der Millionär mit schwacher Stimme. »Wer ist der Herr?«

Während er noch fragte, wandte er den Kopf.

»Was?«, rief er mit stärkerer Stimme. »Kann ich meinen Augen trauen? Es ist Mr. Nicholas Carter!«

»Der bin ich allerdings, Mr. Fillmore«, entgegnete der Detektiv, schüttelte dem Patienten herzlich die Hand und fragte: »Wie geht es Ihnen, ein wenig besser?«

»Ich habe das Gefühl, als hätte man mich durch ein Nadelöhr gezogen.«

»Das kann ich Ihnen nachfühlen«, unterbrach ihn der Detektiv lachend. »Ich möchte darauf wetten, Mr. Fillmore, Sie können mir nicht sagen, was überhaupt mit Ihnen vorgefallen ist.«

»Nicht ein Sterbenswort!«, erklärte der Millionär. »Ich weiß nur, wie man mich im Cab überfallen hat. Der Schurke presste mir ein Tuch mit Chloroform auf die Nase, und ich wurde bewusstlos, ehe ich mich zur Wehr setzen oder um Hilfe schreien konnte.«

»Das ist alles, was ich zu erfahren wünschte.«

»Wirklich? Sie sind also mit der Untersuchung der Angelegenheit beauftragt?«

– »Allerdings. Ihr Teilhaber, Mr. Ladman, erteilte mir den Auftrag.«

»Ladman ist ein lieber Kerl. Wo wollen Sie beginnen? Welchen Tag haben wir heute?«

Mr. Fillmore wurde zusehends lebhafter, und seine Augen begannen aufzuleuchten.

»Wäre Mr. Carter nicht gewesen«, fiel der Hausarzt ein, der die ganze Zeit über neben dem Bett gestanden hatte, »so würden Sie sich nicht mehr unter den Lebenden befinden, Mr. Fillmore!«

»Wie!«, verwunderte sich Fillmore und setzte sich mühsam im Bett auf. »Sie waren also schon an der Arbeit, Mr. Carter?«

»Allerdings, dank der Geistesgegenwart von Mr. Ladman, der meine Hilfe unverzüglich in Anspruch nahm.«

»Darüber wollen wir uns nicht weiter unterhalten«, mahnte der Arzt. »Bleiben Sie hübsch still liegen, Mr. Fillmore, und teilen Sie Mr. Carter ohne alle Erregung mit, auf welche Weise man Sie entführt hat.«

»Nun gut«, begann der Millionär unter einem Seufzer. »Ich verließ mein Büro, um einen wichtigen Geschäftsgang zu erledigen. Vor dem Haus hielt ein leeres Cab, und der Kutscher rief mich mit Namen an und fragte, ob er mich fahren solle. Ich dachte mir nichts Böses dabei, obwohl ich den Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Da ich es eilig hatte, war ich froh, so rasch einen Wagen bekommen zu können, und stieg ein. Gerade als wir losfuhren, versuchte ich, eines der verdunkelten Fenster zu öffnen.«

»Und in diesem Augenblick«, unterbrach ihn Nick Carter, »merkten Sie, dass Sie sich im dunklen Wageninneren nicht allein befanden?«

»Allerdings«, gestand der Millionär mit schwacher Stimme. »Der Kerl stürzte sich blitzschnell auf mich. Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er mir das mit Chloroform getränkte Tuch vor Nase und Lippen gepresst und mich mit Riesenkraft auf den Sitz gedrückt.«

»Sie wissen nicht, wer Ihr Angreifer war?«

»Nein, es war viel zu dunkel, und ich war auch schon betäubt, ehe sich der Wagen richtig in Bewegung gesetzt hatte.«

»Können Sie sich an irgendetwas seitdem erinnern?«, erkundigte sich der Detektiv.

»Nur im Dämmerlicht. Ich entsinne mich, in einem kleinen Zimmer gewesen zu sein, das von einer Ecke aus durch elektrische Birnen erhellt wurde. Darin befanden sich ein Tisch, Stühle, eine Ottomane und an den Wänden Regale mit Büchern. Als ich meine Besinnung zurückkehren fühlte, versuchte ich, die Tür zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Als ich mich wieder umwandte, sah ich ein kleines, merkwürdiges Büffet, eine Art Anrichte, die ich zuvor nicht erblickt hatte. Darauf stand eine Flasche mit Rotwein, von dem ich ein Glas trank, um mich zu stärken. Gleich darauf muss ich wieder bewusstlos geworden sein, denn ich kann mich an nichts erinnern.

»Kein Wunder, im Wein befand sich ein Betäubungsmittel!«, brummte der Detektiv. »Sonst erinnern Sie sich an nichts?«

»Ja, man hat mich wieder woanders hingefahren. Mir kam es sogar so vor, als würden wir über den Michigansee fahren, doch ich war wirklich zu betäubt.«

»Nun, Mr. Fillmore, es ist gut ausgegangen und Sie haben durch den Ihnen gespielten Streich kaum einen einzigen Tag aus Ihrem Leben verloren«, erklärte nun Nick Carter. »Noch ist die Mitternachtsstunde Ihres Entführungstages nicht angebrochen.«

»Ah, das ist vortrefflich! Sie arbeiten ja so schnell wie der Blitz, Detektiv. Haben Sie eine Ahnung, wer die Schurken waren?«, erkundigte sich der Millionär interessiert.

»Möglicherweise – eigentlich hoffte ich, Sie selbst würden die Schuldigen benennen können.«

»Es ist mir unmöglich. Ich habe keine Ahnung, was man mit diesem Bubenstreich bezweckte. Noch weniger kann ich mir vorstellen, wer eine solche Schlechtigkeit begangen hat!«

»Wünschen Sie zu erfahren, wer dahintersteckt?«, fragte der Detektiv.

Fillmore blickte ihn scharf an und nickte eifrig.

»Soll ich es ihm sagen?«, fragte Nick Carter den hinter ihm stehenden Arzt über die Schulter.

»Es ist besser, wenn Mr. Fillmore volle Gewissheit erhält«, stimmte der Doktor zu.

»Gut, dann will ich es ihm sagen: Es handelt sich um die Mitglieder der Firma Dunbar & Sons.«

»Bob hat die Hand dabei nicht im Spiel gehabt!«, rief Fillmore hastig.

Bob (Robert) war der Vorname des Seniorchefs der Bankfirma.

»Seinen ungeratenen Söhnen traue ich das Schlimmste zu«, fuhr der Millionär sich ereifernd fort. »Doch mein alter, treuer Bob beteiligte sich an keiner solchen Schändlichkeit!«

»Meiner Ansicht nach haben Sie recht, Mr. Fillmore«, bemerkte der Detektiv bedeutsam.

»Aber warum sollten diese abscheulichen Burschen – doch halt!« Fillmore unterbrach sich plötzlich, richtete sich im Bett auf und sagte: »Ja, jetzt begreife ich. Sie wollten mich aus dem Weg schaffen, um mich an dem Abschluss mit der Southwestern Surety Co. zu hindern. Ha, die Schurken! Sie wollten sich die Aktien der Texas-Ölminen sichern!«

»Darum wird es sich wohl gehandelt haben!«, bemerkte der Detektiv trocken.

»Diese Idioten!«, ereiferte sich der Millionär erneut. »Sie wollten mir natürlich nicht ans Leben. Aber was fingen sie mit mir an?«

Der Detektiv informierte ihn kurz über den Sachverhalt und fragte ihn schließlich, ob er die Gebrüder Dunbar verhaftet sehen wollte.

»Natürlich, was diese Burschen anbelangt, so möchte ich am liebsten Ja und Amen dazu sagen!«, erklärte Fillmore unverzüglich. »Doch meinem alten Freund Bob würde das wehtun. Ich weiß selbst nicht, Mr. Carter, was ich sagen soll. Meiner Ansicht nach müssten solche Bösewichte bestraft werden, doch das lege ich vertrauensvoll in Ihre Hände. Sie wissen, wie ich darüber denke!«

»Sehr gut!«, erklärte der Detektiv. »Ich bin vollständig befriedigt.«

Damit verabschiedete er sich von dem Millionär und verließ dessen Haus in Chicks Begleitung.

»Ich bin sehr froh, mit Mr. Lillmore Rücksprache genommen zu haben«, meinte der Detektiv auf dem gemeinsamen Rückweg zum Auditorium. Nun wollen wir hören, was Patsy zu melden hat, und dann unsere Entscheidung treffen.«

Nachdem sie ins Auditorium zurückgekehrt waren, fanden sie den jungen Detektiv bereits vor, und dessen abenteuerlicher Bericht erstaunte sie beide nicht wenig.

»Nein, solche verzweifelten Schurken gehören hinter Schloss und Riegel!«, erklärte Nick Carter energisch. »Chick, du begibst dich zum Haus von Mrs. Violet Harding. Es würde mich sehr wundern, wenn Percy Dunbar nicht seine Geliebte aufsucht, ehe er aus Chicago flüchtet. Ich denke, er wird dir direkt in die Arme laufen. Ich werde mich inzwischen mit Patsy zu den Dunbars begeben. Es tut mir um den alten Herrn leid, doch seine ungeratenen Söhne müssen hinter Schloss und Riegel!«

Nick Carter hegte nur schwache Hoffnungen, die beiden jungen Dunbars im väterlichen Haus anzutreffen, denn er glaubte, dass diese, sobald sie ihr Spiel durchschauten, versuchen würden, sich persönlich in Sicherheit zu bringen.

Als sie klingelten, machte sich hinter der Tür ein Dienstmädchen bemerkbar, das aber zähneklappernd erklärte, unter keinen Umständen während der Nacht öffnen zu wollen.

»Ich will Mr. Dunbar benachrichtigen«, meinte sie schließlich.

»Sagen Sie ihm, Polizeibeamte wären hier, um mit ihm wegen des Mannes, der in seinem Haus gewesen ist, Rücksprache zu nehmen.«

Wenige Minuten später befanden sich die beiden Detektive im Parlor Dunbar sen. gegenüber.

Der Greis hatte noch nicht wieder einschlafen können und sah zum Erbarmen mitgenommen und hinfällig aus.

So schonend wie möglich informierte ihn der Detektiv über das Geschehene und die seine Söhne treffende Schuld.

Der alte Mann saß mit versteinerter Miene da, und seine Augen blickten hart und streng.

»Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Teilnahme, Herr«, stieß er schließlich rau hervor. »Doch erfüllen Sie Ihre Pflicht. Die beiden Burschen sind leider nicht zu Hause. Verhaften Sie sie und sperren Sie sie ein!«

Die Detektive wussten genug und entfernten sich.

Nick nahm natürlich an, dass George Dunbar sich zum Bergungsprahm begeben hatte, um Fillmore so schnell wie möglich unter der Bedingung in Freiheit zu setzen, dass dieser den ihm gespielten Streich verschweigen und ihm verzeihen würde.

So verhielt es sich denn auch in Wirklichkeit. Als Nick Carter mit Patsy gerade dabei war, ein Polizeiboot zu besteigen und nach dem Prahm zu fahren, erblickten sie den gleichen kleinen Dampfer, der ihnen am vergangenen Abend so viel Ärger bereitet hatte. Dieses Mal befand sich George Dunbar allein in dem schmucken Fahrzeug.

Offensichtlich kehrte er von dem verlassenen Prahm zurück und hatte entdeckt, dass die Taucherglocke aufgewunden und der darin Gefangene in Freiheit gesetzt worden war. Beim Licht der am Kai stehenden elektrischen Lampen konnte der Detektiv erkennen, wie der entlarvte Verbrecher an allen Gliedern wie Espenlaub zitterte.

Er stand wie ein Nachtwandler, der aus einem bangen Traum nicht zu erwachen vermag.

Mechanisch machte er das Dampfboot am Kai fest und begab sich an Land. Er schien die beiden Männer, die in seiner Nähe standen, nicht zu bemerken.

Dann blieb er stehen und starrte wie geistesabwesend auf den See.

Hin und wieder ging ein Frösteln durch seine matten Glieder.

Nick Carter trat an ihn heran.

»Well, George«, begann er ruhig, »sind Sie noch immer der Ansicht, dass jemand draußen bei dem gesunkenen Schoner einen verbotenen Fischzug gewagt hat?«

Mit einem Ruck wandte sich der Angesprochene nach ihm um.

»Wer sind Sie?«, brachte er heiser hervor.

»Man nennt mich Nick Carter!«

Entsetzt fuhr George Dunbar zurück.

»Nein!«, schrie er mit überschlagender Stimme. »Nein, nein! Es gibt keinen solchen Mann! Ich will es nicht glauben! Wenn es einen solchen Mann gäbe, würde mich das an den Galgen bringen!«

Plötzlich packte er mit angstvoller Gebärde Nick Carter am Arm.

»Ich will Ihnen etwas über Nick Carter gestehen«, flüsterte er mit dumpfer Stimme und blickte dabei scheu um sich, als wolle er sich vergewissern, dass sich kein Lauscher in der Nähe befand. »Ich hatte Nick Carter in ein Zimmer eingeschlossen, aus dem kein Mensch von Fleisch und Blut entkommen kann. Er verschwand durch die Mauer, als wäre er ein X-Strahl! Ich will den Professoren an der Universität davon Kunde geben. Vielleicht können sie ihn einfangen, sonst kann es niemand!«

Die beiden Detektive wechselten bezeichnende Blicke.

Es war offensichtlich, dass die Furcht den Verbrecher um den Verstand gebracht hatte.

»Kommen Sie, ich werde Sie zur Universität begleiten«, erklärte der Detektiv und schob sanft seine Hand unter den Arm des anderen.

»Danke, ich kann allein gehen«, entgegnete George Dunbar und stieß ihn zurück.

Einen Augenblick stand der große Detektiv unschlüssig da. Seine vielfache Erfahrung hatte ihm gelehrt, dass es leichter war, sich einem Kampf mit zwölf starken Männern zu stellen, als es mit einem einzigen Wahnsinnigen aufzunehmen.

Er gab deshalb Patsy schnell einen Wink, ihm nachzufolgen, und eilte George Dunbar nach.

»Sie gehen besser mit mir«, versuchte er, diesen zu überreden. »Ich habe einen Wagen …«

»Nein!«, heulte der Wahnsinnige, »ich will nichts von einem Wagen wissen! Lassen Sie meinen Arm los! Ich kenne Sie. Sie wollen mich betäuben. Sie wollen mich fortschleppen … Sie sind von der Southwestern Surety Co. Ich soll die Aktien nicht auf den Markt bringen. Hilfe, Hilfe!«

Damit begann er, sich gegen den Detektiv zu wehren, der ihn gewaltsam fortziehen wollte. Wie von diesem vorausgeahnt, entfaltete der Irre im folgenden Ringen unheimliche, schier übernatürliche Kräfte.

Ohne Patsys Hilfe wäre es selbst Nick Carter auf die Dauer unmöglich gewesen, den Wahnsinnigen zu überwältigen. Dessen durchdringendes Geschrei hatte nämlich eine Anzahl Wächter und andere Männer von den benachbarten Docks herbeigezogen, die nicht übel Lust verspürten, sich zugunsten des jungen Dunbar in den Kampf einzumischen.

Indessen kamen zum Glück auch schon Polizeimannschaften vom Dampfer herbei, welche die angesammelte Menge beschwichtigten und es den beiden Detektiven ermöglichten, mit ihrem inzwischen gefesselten Gefangenen einen Wagen zu besteigen, der sie schnell zum Polizeihauptquartier brachte.

 

*

 

Als Chick vor dem Haus der jungen Witwe ankam, sah er einen Mann unter der geöffneten Haustür stehen. Der Mann erkundigte sich nach Mrs. Violet Harding. Das Mädchen erklärte ihm, während Chick sich näherte, dass ihre Herrin mit einer fremden Dame am vergangenen Nachmittag fortgefahren sei und seither nicht zurückgekehrt sei.

»Mr. Dunbar«, mischte sich der junge Detektiv im selben Augenblick ins Gespräch, »ich kann Sie zu Mrs. Harding geleiten.«

Percy fuhr herum, wie von einem Schlag getroffen.

Verstört starrte er den Detektiv an, und für einen Moment schien es, als wolle er sich an diesem vergreifen. Dann ließ er die schon erhobene Faust wieder schlaff niedersinken.

»Sind Sie Nick Carter?«, fragte er schroff.

»Ich bin sein Stellvertreter!«, entgegnete Chick bestimmt.

»Was ist Mrs. Harding zugestoßen?«

»Sie befindet sich als Gefangene im Polizeihauptquartier.«

Die Wirkung dieser Worte auf Percy Dunbar war so überwältigend, dass er sich ohne zu zögern zum Hauptquartier geleiten ließ.

Dort brach er zusammen und legte ein umfassendes Geständnis ab.

Er war hoffnungslos in Mrs. Harding verliebt, die eine kokette und gewissenlose Modedame war. Diese hatte zuvor den alternden Mr. Fillmore wegen seiner Millionen in ihre Netze ziehen wollen. Da sie dabei eine empfindliche Niederlage gegen den ehescheuen Hagestolz erlitt, war ihre Rachsucht gegen diesen entflammt. Sie hatte Percy Dunbar zugesichert, seine Frau zu werden, wenn er sich von seinem Vater lossagte und in kurzer Zeit ein großes Vermögen erwarb.

Da auch George, mit dem sein Vater nicht minder unzufrieden war, sich auf eigene Füße stellen wollte, waren die Brüder schnell zu einer Verständigung gelangt. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, um mit der Einführung der Aktien jener Texas-Ölminen beauftragt zu werden.

Doch zu ihrem Schrecken mussten sie in Fillmore ihren siegreichen Konkurrenten erkennen und beschlossen daraufhin, ihn unter allen Umständen unschädlich zu machen.

Violet Harding war es gewesen, die den abenteuerlichen Plan ausgeheckt hatte, der ohne Nick Carters Einmischung sicherlich gelungen wäre. Ursprünglich sollte der unglückliche Millionär nur in einer Abteilung des Warenhauses so lange in betäubtem Zustand gefangen gehalten werden, bis die Brüder den wichtigen Geschäftsabschluss zu ihren Gunsten erledigt hatten.

Doch als ihr ahnungsloser Vater ihnen mitteilte, dass Nick Carter mit der Erforschung des geheimnisvollen Verschwindens seines Jugendfreundes beauftragt worden war, verloren beide Brüder den Verstand und entschieden sich für den verzweifelten Ausweg, ihren Gefangenen auf dem Seegrund unter der Taucherglocke gefangen zu halten.

Der rasch wiedergenesene Millionär setzte durch, dass die ganze Angelegenheit vertuscht wurde. Denn so sehr sein Jugendfreund auch auf die Bestrafung der Schuldigen bestand, so würde es ihm doch das Herz gebrochen haben, seine Söhne im Zuchthaus und dadurch seinen guten Namen geschändet zu wissen.

George hatte seine Strafe ohnehin bereits erhalten, denn später erklärten ihn die Ärzte für gemeingefährlich wahnsinnig und er wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, in der er bis an sein Lebensende bleiben sollte.

Percy Dunbar, von dem sein Vater sich lossagte, verschwand bald darauf von der Bildfläche. Auch Mrs. Violet Harding, die ihm bald die kalte Schulter zeigte, suchte sich einen anderen Ort, um dort mit mehr Erfolg nach einem reichen Lebensgefährten zu fischen.

Natürlich gingen auch die Mannschaften des Bergungsprahms straffrei aus, da sie nur Befehle ihres Vorgesetzten ausgeführt hatten.

Mr. Fillmore ging wenige Tage darauf in dem Wettbewerb um die Aktien der Texas-Ölminen endgültig als Sieger hervor und ließ es sich in seiner Dankbarkeit nicht nehmen, dem Meisterdetektiv einen Scheck mit fünf Nullen als Zeichen seiner Anerkennung zu überreichen.

Nick Carter beschloss, bereits am nächsten Morgen die Rückfahrt nach New York anzutreten. Doch es gab noch eine Kleinigkeit für ihn und seine Getreuen in Chicago zu erledigen: Ein neuer Fall, der dem berühmten Detektiv um ein Haar das Leben gekostet hätte, hielt sie noch in der Stadt am Michigansee zurück.

Ende

Der nächste Band Nr. 18 enthält:

Ein Dynamitattentat

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