Die Gespenster – Vierter Teil – Einleitung zu weiteren 14 Beiträgen
Die Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit von Samuel Christoph Wagener
Allen guten Schwärmern, welchen es mit dem Bekämpfen und Ablegen beunruhigender Vorurteile in Absicht des Geisterwesens ernst ist, liebevoll gewidmet von dem Erzähler Friedrich Maurer aus dem Jahr 1798
Vierter Teil
Vierzehn Beiträge zur Rechtfertigung des Volksglaubens, dass die Toten spuken könnten
Einleitung zu diesen vierzehn Beiträgen
»Niemand erblickt wohl den Tod in einer fürchterlicheren Gestalt«, sagt ein verehrungswürdiger Menschenfreund, »als der Unglückliche, der in das Grab verscharrt wird, während das Leben in seinem Innersten schlummert. Er öffnet die Augen; neue Lebenskraft durchströmt seine Adern; heftiger als jemals, erwacht in ihm die Begierde zu leben – der heiße Wunsch, in seine vorigen Verhältnisse zurückzutreten – im Kreis seines Gatten, seiner Kinder, aller derer, welche die süßen Bande der Seelen oder der Blutsverwandtschaft, so eng an sein fühlendes Herz geknüpft haben – im Kreis dieser Geliebten aufs Rene die Freuden des Lebens zu genießen, und irgendein großes, angefangenes Werk u seinem, seiner Familie und der Menschheit Segen zu vollenden. Aber ihn schreckt die grauenvolle Finsternis, die rings umher sein Auge drückt; mit forschenden Händen überzeugt er sich von der fürchterlichen Gewissheit, dass der Sarg ihn verschließe, mit Höllenwut packt ihn das Entsetzen; laut schreit er auf. Hier liegt er, tief verscharrt in die Erde, in der Gesellschaft der Toten, eingekerkert in ein enges, dumpfes, finsteres Behältnis, dessen bloßer Name manchem schon widrige und schreckhafte Gefühle erweckt. Körperliche Leiden haben ihn entkräftet, und noch lässt ihre Wut nicht nach. Er bedarf Linderung, Hilfe, Trost; aber er sieht sich hinausgestoßen aus dem Reich der Lebendigen. Abgespannt sind seine körperlichen Kräfte, bis auf den äußersten Grad. Zu der starken Seele wütet Verzweiflung. Brennende Sehnsucht nach Rettung und Freiheit – folterndes Gefühl der fürchterlichsten Hoffnungslosigkeit – Verzweiflung von innen; ewige Nacht, Tod und Entsetzen von außen!
Bei Gott! In einer schrecklicheren Gestalt kann der Tod nie erscheinen! Welch ein fürchterliches Ende! Mir ist, als hörte ich das Angstgestöhne der Schmachtenden – der wütenden Verzweiflung grässliches Heulen. Ich sehe die Unglücklichen und schaudere zurück! Sehe, wie sie wütend kämpfen mit den schwachen Nägeln, um den hölzernen Kerker zu durchwühlen und seine Bande zu zerreißen – Furcht und Entsetzen ergreift mich bei diesem Gedanken.
Wer hat euch hinabgestoßen, Elende! In den Ort der grauenvollsten Verzweiflung? Wer sind die Grausamen, die euch den Armen eurer Kinder entrissen; euch, ihr Väter und Mütter, lebendig verscharrten? Sagt, wer tat es? Wer ließ es geschehen? Ha! Brüder taten es, und Lehrer der sanften, menschenfreundlichen Religion Jesu! Sie ließen es geschehen! Sie, die Tugend und Liebe predigen, sie sind es, die euch der Verzweiflung in die Arme werfen, sie sind eure Mörder!
Der Ungenannte zielt auf die, hier und da nicht gewissenhaft befolgten, polizeilichen Verordnungen einiger wohleingerichteten Staaten, nach welchen die Gestorbenen in der Regel eigentlich nicht vor Ablauf von dreimal vierundzwanzig Stunden beerdigt werden sollen, und doch nicht selten viel früher zu Grabe getragen werden, weil die Pfarrer es gutheißen.
Wie lange«, fährt er fort, »wie lange wollt ihr, die ihr Liebe und Gehorsam predigt, fortfahren, grausam gegen eure Nebenmenschen und ungehorsam gegen die Obrigkeit – wäre es auch nur im Einzelnen – zu sein? Ist es nicht ein schrecklicher Gedanke von denen, die ihr zur Gruft begleitet, einige, und wäre es unter Tausenden auch nur einen mittelbar ermordet zu haben? Oder wäre es etwa unmöglich, dass diese scheintot, das heißt lebendig begrabenen Einzelnen in ihrer Verzweiflung euch fluchen, vor ihrem und eurem Richter euch anklagen?
Empörend sind die Beweise der Gefühllosigkeit und des unverzeihlichen Leichtsinnes, welche in dieser Hinsicht freilich so manche Religionslehrer geben. Mag man ihnen den so leicht möglichen Fall des Wiederauflebens noch so lebhaft vorstellen; mag man durch tausend Gründe die Wahrscheinlichkeit in einzelnen Fällen, und durch ebenso viele unwiderlegbare Beispiele die Wirklichkeit beweisen – sie lächeln über solche kleinliche Besorgnisse und meinen, dass dies nicht gerade bei denen geschehen werde, die sie begraben; oder sie behaupten wohl auch geradehin mit kaltem Blut, dass von denen, die einmal im Grab liegen, niemand mehr aufwache.
Vielleicht hält von einer besseren Überzeugung jenes dunkle Gefühl sie ab, welches ihnen zuflüstert:
›Dass Begrabene wieder aufwachen können, darfst du nicht zugeben; sonst würdest du ja eingestehen müssen, dass vielleicht auch du schon bloße Scheintote hast begraben lassen.‹
Falsche Scham vor sich selbst und vor anderen ist also die Ursache, warum Männer, welchen man sonst nichts zur Last legen kann, auf so viele, wider sie zeugenden Beweise und Beispiele nicht achten und ewig fortfahren, nach der einmal angenommenen Gewohnheit, die Menschen, die nicht mehr atmen, begraben zu lassen, unbekümmert um die Zeitlänge, während welcher die herrschaftlichen Verordnungen in der Regel jegliche Beerdigung verzögert wissen wollen. Aber heißt dies nicht, sein reges Gewissen durch beständig wiederholtes Gegenhandeln betäuben und ihm nach und nach alle Reizbarkeit nehmen wollen?
Möchten endlich einmal alle Pfarrer den menschenfreundlichen Entschluss fassen, ihre Verstorbenen in der Regel nicht mehr vor Verlauf von dreimal vierundzwanzig Stunden beerdigen zu lassen! Möchten Männer, welche das Talent besitzen, den gemeinen Mann von Vorurteilen zu heilen, sich die belohnende Mühe geben, ihm diejenigen Vorurteile, womit er Verstorbene zu betrachten pflegt, zu entlocken, und ihm die Abscheulichkeit des voreiligen Beerdigens recht lebhaft und überzeugend vor Augen zu stellen!«
Dies als Einleitung zur nachfolgenden neuen Sammlung von glaubhaften Beispielen, dass Menschen, die man für tot hielt, und unter weniger günstigen Umständen vielleicht unrettbar lebendig beerdigt haben würde, durch ein glückliches Ungefähr unter die Lebenden zurückgekehrt sind, aber auch eben so leicht die Opfer des Leichtsinns oder des Vorurteils ihrer Mitmenschen hätten werden können.
Für diejenigen aber, welche sich vielleicht nochmals wundern, hier unter den Gespenstern diesen, den hilfsbedürftigen Scheintoten gewidmeten ganzen Abschnitt zu finden, die wiederholte Erklärung, dass tausend und aber tausend Spukgeschichten durch das schreckliche Schicksal der Scheintoten veranlasst sein mögen, die entweder noch nicht begraben, in einsamen Leichenkammern oder schon beigesetzt in Familiengewölben und schon eingesperrt in den Schoß der Erde ihre letzten, wiedererwachenden Lebenskräfte polternd, rufend, seufzend, flehend – aber vergeblich zu ihrer Rettung mögen angewandt haben.
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