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Der Detektiv – Band 30 – Der Stern von Siam – Kapitel 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Stern von Siam

2. Kapitel
Der Dampfkessel

Harst nickte ernst. »Sie war’s! Nun noch etwas sehr Wichtiges, Käpt’n. Die Malcapier schickte gestern an den Chinesen nach Paknam folgende Depesche:

Bei klarem Sternhimmel heute Mond genau beobachten und Bewölkung abwarten. Eumalca

»Blödsinn!« brummte Tompson. »Ganz sinnloses Zeug.«

»O nein, bester Tompson. Durchaus nicht sinnlos. Ich erfuhr vorhin in Paknam, dass Ling-Tuan eine Prau besitzt, mit der er Handel nach Borneo hinüber betreibt. Sie heißt …«

»Der Mond oder Tschi Makra, Gestirn der Nacht«, vollendete Tompson schnell. »Nun geht mir ein Licht auf! Die Depesche enthält in versteckter Form Anweisungen für den heutigen Tag.«

»Ganz recht. Mit Sternhimmel ist fraglos Ihr Dampfer gemeint, Käpt’n, und Mond ist eben die Prau. Ich behaupte, das Telegramm ist nichts anderes als der Befehl zum Überfall auf den STERN VON SIAM, und die chinesischen Kulis auf dem Vorschiff wieder sind – Piraten! Weil ich dies alles als sicher annahm, kaufte ich schnell in Paknam diese Revolver nebst Munition ein. Ich rate nun zu Folgendem: Wir weihen in aller Stille sofort Ihre zuverlässigen Leute ein, ebenso die vier männlichen Passagiere, verteilen die Revolver und die Patronen, umzingeln die Kulis und durchsuchen ihre Bündel. Finden wir bei ihnen Waffen, so ist das Beweis genug, dass die Schufte uns gemeinsam mit der Prau an den Kragen wollten. Die Prau selbst dürfte uns in dem Hauptmündungsarm des Menam erwarten, wo ja das Gewirr der Deltakanäle mit ihren undurchdringlichen Mangrovendickichten hunderte von Schlupfwinkeln bieten. Doch davon später! Nun vorwärts, Tompson wir haben keine Zeit zu verlieren!«

Der Käpt’n eilte davon. Der STERN VON SIAM hatte inzwischen schon das Gebiet jener seltsamen Uferbewaldung erreicht, die sich in den Menam bis fünf Kilometer oberhalb der Mündung hinzieht. Diese Mangrovenwälder mit ihren oft zwei Meter hohen Luftwurzeln, aus denen dann der eigentliche Stamm hervorwächst, bieten einen merkwürdigen Anblick dar, etwa wie Bäume, die man auf ein Gerüst gestellt hat. Die Fahrrinne des Stromes lief nun dicht am Westufer hin. Harst und ich waren wieder auf die Brücke gegangen, wo Harald nun nach der Prau mit dem Glas ausspähte. Es war jedoch nichts von ihr zu bemerken.

Zehn Minuten darauf kam Tompson und meldete, dass alles zur Überrumpelung der Chinesen bereit sei.

Ich will diese Entwaffnung der gelben Bande nicht eingehender schildern. Sie spielt hier nur eine Nebenrolle. Die Hauptereignisse traten erst weit später ein.

Die Kulis, völlig umzingelt und überrascht, wagten keinen Widerstand und wurden sämtlich in einen leeren Verschlag eingesperrt, vor dessen Tür abwechselnd zwei der Matrosen dann Wache hielten.

In ihren Bündeln fanden wir für jeden von ihnen einen Revolver, Patronen, Dolche und – das Belastendste – vier sogenannte Stinkbomben, in deren Herstellung die Chinesen Meister sind.

Es war mithin ganz klar, dass man es hier nicht mit harmlosen Arbeitern, sondern recht gefährlichem Gesindel zu tun hatte.

Der Raddampfer näherte sich nun dem eigentlichen Mündungsdelta. Der Hauptarm des Menam floss, kaum noch 150 Meter breit, zwischen Mangrovenwänden hin. Nun eine Biegung, dann eine weite, gerade Strecke. Nur ein Fahrzeug belebte den Fluss – weit vor uns eine Prau mit zwei sehr hohen Masten! Sie kam uns entgegen, plump, scheinbar schwerfällig, mit hohen Heck- und Bugaufbauten.

Auf dem Raddampfer wusste bereits jeder, was uns bevorstand: ein Kampf mit der Besatzung jener Prau!

Die Spannung an Bord nahm zu. Nun war die Prau nur noch 200 Meter entfernt – nur noch 150 … 120 …

Urplötzlich sanken ihre mächtigen Mattensegel herab; ihr Bug wandte sich dem Ufer zu, wo ein Nebenarm in der Mangrovenmauer eine breite Öffnung freigab.

Und – seltsam: Auch ohne Segel entwickelte die Prau eine überraschende Schnelligkeit, die der des STERN VON SIAM zum Geringsten gleichkam.

»Sie flieht!«, rief Harst. »Da, Käpt’n, sehen Sie das schäumende Kielwasser! Sie führt einen starken Benzinmotor und eine Schraube!«

»Die Pest!«, fluchte Tompson. »Weshalb gibt der Pirat Fersengeld?! Wir hätten doch so gern zwischen die Halunken gepfeffert!«

»Weshalb? Nun, sehr einfach: Die Leute der Prau hatten mit den Kulis hier fraglos ein Signal vereinbart, das anzeigen sollte, alles stehe gut. Das Signal ist ausgeblieben. Also zieht die Prau sich zurück! Daran habe ich leider nicht gedacht, dass die Bande ein Signal verabredet hatte. Jetzt beweisen Sie der Prau mal, Käpt’n dass sie was gegen uns im Schilde führte! Wird Ihnen schwerfallen! Ja die Halunken sind vorsichtig gewesen. Man kann ihnen unter diesen Umständen nichts anhaben. Unsere Kulis leugnen ja jede Gemeinschaft mit irgendwelchen Piraten. Und die Beweise, die wir gegen die Prau haben, dürften keinem Gericht genügen.«

Tompson zuckte die Achseln. »Das ist mir alles sehr gleichgültig. Ich werde die Sache in Lakon melden und dort auch die Chinesen der Behörde übergeben. Dann mögen die hohen Herren machen was sie wollen.«

Harst stimmte zu. Der Raddampfer lief gleich darauf in den Golf von Siam hinaus und fuhr mit südlichem Kurs weiter. Es gab an Bord viele enttäuschte Gesichter. So ein kleiner Strauß mit Seeräubern wäre doch mal eine Abwechslung gewesen.

Als wir dann in unserer Kabine waren, fragte ich Harald: »Weshalb rietest du Tompson nicht, die Prau zu verfolgen und anzuhalten. Wir hätten dann vielleicht die Malcapier fangen können.«

Er lachte kopfschüttelnd. »Lieber Alter – so leicht ist dieses Weib doch nicht zu greifen! Nun – wir werden sie schon erwischen. In Lakon verlassen wir den Dampfer und kehren nach Paknam zurück. Dort werden wir zumindest die Fährte unserer Feindin aufnehmen können.«

Am dritten Abend waren wir in Lakon. Wir hatten uns schon von Tompson vorher verabschiedet, da dieser ja auf der Brücke beim Anlegen zu tun hatte.

Der armselige Hafen wirkte bei bedecktem Himmel und gelegentlichen Regengüssen noch trister und unfreundlicher. Wir standen mit unseren Koffern an der Relingpforte, um sogleich über die Laufplanke eilen zu können. Der Dampfer lag nun still; die Trossen waren an den Kaipfählen befestigt. Zwei elektrische Bogenlampen beleuchteten die Anlegestelle. Wir traten beiseite. Die Matrosen schoben die Laufplanke aus. Kaum lag sie unten auf dem Bollwerk, als ein älterer Europäer hinaufeilte, sich vor uns verbeugte und fragte, ob eine Kabine frei wäre; er müsse seinen schwerkranken Sohn nach Singapore bringen, wo dieser operiert werden solle. Dabei deutete er auf eine Krankenbahre, die an dem Kai stand.

Harst erwiderte, dass unsere Kabine nun leer sei, fasste an die Mütze und schritt die Laufplanke hinab. Ich folgte ihm. Neben der dicht verhüllten Krankenbahre standen zwei hagere irdische Diener. Ein paar Schritte weiter zurück lag auf dem Bollwerk ein großer Dampfkessel. Zu meinem Erstaunen blieb Harst plötzlich stehen, zog mich hinter den Kessel und flüsterte: »Still – vorhin, als wir uns der Anlegestelle näherten, kroch ein Mensch oben durch das große Reinigungsloch in den Kessel hinein! Der Kerl ist nicht wieder herausgeklettert, wie ich genau beobachtet habe. Vielmehr hat ein zweiter Bursche, ein Chinese, sehr hastig die Verschlussschrauben des Deckels etwas angezogen. Wenn der Kessel etwa auf den STERN VON SIAM verladen wird, dann …«

Er vollendete den Satz nicht, drückte das Ohr dicht an die Kesselwandung und lauschte.

Wir standen hier im Schatten, sodass niemand beobachten konnte, was wir trieben.

Harst flüsterte nun: »Verschwinden wir! Der Chinese, der den Deckel zuschraubte, könnte Verdacht schöpfen. Übrigens brannte nur jene Bogenlampe dort, als der Mensch in den Kessel kroch. Die farbigen Kaiarbeiter hielten sich alle drüben an jenem Schuppen auf, wo sie etwas Schutz vor dem Regen hatten.«

Wir gingen ein Stück weiter, bis wir zwischen Stapeln von Fässern genügend gedeckt waren. Hier blieben wir und beobachteten, was unten an der Landungsstelle vorging.

Es regnete wieder. Zum Glück hatten wir unsere Gummimäntel an. Eine Stunde verstrich. Dann wurde der Kessel näher an das Vorschiff des Raddampfers herangerollt; die Dampfwinde kreischte; die Kaiarbeiter brüllten, und der Kessel schwebte langsam hoch, wurde dann auf das Deck niedergelassen.

»Also doch!«, flüsterte Harst. »Der STERN VON SIAM dürfte jetzt Eugenie Malcapier beherbergen – und mit ihr fünf kostbare Diamanten und drei noch kostbarere Smaragde!«

Diese Annahme erschien mir denn doch etwas sehr kühn. Ich erlaubte mir auch, meine Zweifel offen zu äußern.

»Bitte«, meinte Harst, »wenn du nur Folgendes berücksichtigst, dann wird dir diese Art der Flucht der Malcapier durchaus nicht mehr so unwahrscheinlich vorkommen: Erstens – sie hat nicht gewusst, dass wir mit dem STERN VON SIAM damals morgens Bangkok verlassen würden; sie hat sich also, als Kuli verkleidet, nur an Bord begeben, um zunächst mal aus Bangkok hinauszukommen und Anschluss an ihren Vertrauten Ling-Tuan zu finden; gleichzeitig hat sie aber auch, verführt durch eine Habgier, die ein hervorstechender Zug ihres Charakters ist, den STERN VON SIAM mit seiner reichen Ladung, deren Wert mir Tompson auf zwei Millionen angab, kapern wollen. Unser Erscheinen auf dem Dampfer kam ihr überraschend. Nie hätte sie gewagt, dieses Schiff zu benutzen, wenn sie uns an Bord gewusst hätte. Zweitens: Trotzdem sie uns dann bemerkt hatte, musste sie der Prau, wie durch Depesche vereinbart, bestimmte Signale geben. Aber sie beobachtete mich, als sie es tat, sah, dass ich auf sie aufmerksam geworden war, und entweicht durch die Komödie der Schlägerei unter den Gelben. Drittens: Die Prau gibt dann die Absicht eines Überfalls auf den STERN VON SIAM auf, verrät dabei, dass sie über einen Motor verfügt, der ihr meiner Überzeugung nach eine große Geschwindigkeit zu geben vermag. Die Prau kann unseren Dampfer also sehr gut überholt haben, kann die Malcapier mit ein paar Vertrauten hier ausgebootet haben, wo diese dann sich nach einer Gelegenheit umsahen, das Weib unbemerkt an Bord zu schmuggeln. Der Kessel, der zur Reparatur fraglos nach Singapore verschickt wird, erschien der Malcapier für ihre Pläne – ich betone Pläne! – geeignet. Dass niemand sich die Mühe machen würde, ihn auf dem Dampfer innen zu durchsuchen, konnte das Weib mit voller Gewissheit annehmen. Sie darf sich darin also ganz sicher fühlen. Und sie kann – gib acht! – mithilfe dieses Verstecks auch denen ans Leben, denen sie ewige Rache geschworen: uns beiden! Sie ahnte nicht, dass wir hier in Lakon den Dampfer verlassen würden. Nun sitzt sie dort an Bord in ihrem Kessel fest und würde sehr – würde sehr enttäuscht sein, wenn sie uns nicht mehr auf dem STERN VON SIAM fände! Aber – sie wird uns finden, oder besser – wir sie! – Bist du von dieser Ergänzung meiner Schlüsse, die ich vorhin Tompson entwickelte, befriedigt?«

»Ja – bis auf einen Punkt: Die Malcapier muss an Bord des Raddampfers doch mindestens einen Vertrauten haben, der ihr, wenn nötig, den Verschluss des großen Deckels öffnet.«

»Aber natürlich macht ein guter Freund von ihr die Reise mit – natürlich! Wir werden uns jetzt einen Nachen suchen und von der Wasserseite aus an den STERN VON SIAM heranschleichen. Der Regen begünstigt dieses Vorhaben. Tompson wird sehr erstaunt sein, wenn wir ganz heimlich bei ihm in seiner Kajüte die Fahrt mitmachen wollen. Noch erstaunter aber dürfte die Kesselreisende sein! Ich freue mich schon auf die Brillanten und die drei Smaragde und auf das Gesicht unserer rotblonden Feindin, wenn wir den Kessel uns näher ansehen werden!«

Nun – die Überraschten waren diesmal wir! Alles kam ganz, ganz anders, als wir es uns so schön zurechtgelegt hatten.

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