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Der Detektiv – Band 30 – Der Stern von Siam – Kapitel 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 30
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Stern von Siam

1. Kapitel
Borderlebnisse

Die Sirene des STERN VON SIAM heulte ihren Abschiedsgruß über die Gärten, Häuser und zahllosen Tempel von Bangkok hin. Schwerfällig setzte sich dann der alte klapperige Raddampfer in Bewegung; der den prahlerischen Namen STERN VON SIAM wahrlich nicht verdiente.

Wir standen neben dem Eigentümer und Kapitän dieses altehrwürdigen Transportmittels, dem rotnasigen Engländer Tompson, auf der Kommandobrücke. Tompson fühlte sich sehr geehrt, dass zwei so berühmte Leute wie der Liebhaberdetektiv Harald Harst und sein Freund und Privatsekretär Schraut seinen Rattenkasten von Schiff zur Fahrt nach Singapore benutzten. Für gewöhnliche Sterbliche ist die Brücke eines Dampfers verbotenes Gebiet. Uns hatte Tompson sofort gebeten, ihm dort recht oft Gesellschaft zu leisten.

Der STERN VON SIAM glitt langsam den Menam-Fluss hinab. Erst außerhalb der Stadt durften die Schaufelräder ihre volle Kraft entfalten. Schneller zogen nun die Ufer, die Lastkähne und all die seltsamen Schifflein dieses Weltteils an uns vorüber, manche darunter anzusehen wie die Überbleibsel uralter Schiffbauversuche.

Harst lehnte am Geländer und deutete nun auf eine malaiische Prau, die schwerfällig mit ihren großen, vom Wind prall gefüllten Mattensegeln gegen die Strömung sich vorwärtsschob.

»Diese ungefügen hölzernen Riesenkähne segeln besser, als man es nach ihrer primitiven Takelage annehmen sollte«, meinte er zu Tompson und mir.

Tompson spie den Saft seines Priems im Bogen in die gelben Wasser des Menam.

»Der Deubel hole alle diese braunen Kerle, die auf so einer Prau hausen«, knurrte er. »Vor dreißig, nein, zwanzig Jahren trieben die Malaien rund um die Sunda-Inseln ganz offen Seeraub. Jetzt tun sie es heimlich, wo sie nur sicher sind, nicht abgefasst zu werden.«

»Na, na!«, warf Harst zweifelnd ein. »Die Zeiten sind doch wohl vorüber, wo es so etwas wie eine Seeräuber-Romantik gab.«

Tompson schaute Harst beinahe böse an. »Ich rede nichts in den blauen Dunst hinein! In den letzten drei Monaten sind fünf Schiffe von Bangkok ausgelaufen und spurlos verschwunden. Offiziell sind sie einem Taifun zum Opfer gefallen. Wir Küstenkapitäne wissen es besser. Mein Kollege Perthram hat den Dreimaster SPINX brennend vor der Menam-Mündung angetroffen, hat ihn in die Luft fliegen sehen und weiter beobachtet, wie eine große Prau sich von der Unfallstelle entfernte. Er hat alles verschwiegen, da er nur Scherereien damit gehabt hätte.«

Ich schaute zufällig gerade nun auf Harst. Sein Gesicht veränderte sich für einen Moment. Ein Ausdruck von Spannung, von erhöhter Geistestätigkeit hatte diese Veränderung bewirkt. Als er dann aber sagte: »Ihr Kollege tat unrecht damit«, waren Harsts Züge bereits wieder genau so gleichgültig undurchdringlich wie vorhin.

»Unrecht hin, Unrecht her!«, brummte Tompson. »Endlose Vernehmungen gibt es dann vor der Polizei! Wer bezahlt einem die versäumte Zeit?« Er schwieg eine Weile. »Übrigens, Master Harst, ich habe mich sehr gewundert, als Sie heute an Bord kamen und eine Kabine bis Singapore belegten. Ich habe im Bangkok Rekorder die Geschichte von dem Diebstahl im P’hrabat-Kloster gelesen und weiß, dass die Haupttäterin, diese Miss Eugenie Malcapier mit acht Edelsteinen, darunter drei taubeneigroßen Smaragden von wundervollem Schliff, entkommen ist. Im Rekorder stand aber auch, dass Sie versuchen wollten, der Malcapier die Beute wieder abzujagen. Hm, haben Sie es aufgegeben, Master Harst? Entschuldigen Sie schon meine Neugier. Aber ich habe mein lebelang großes Interesse für alles gehabt, was so mit der Verfolgung von Verbrechern zusammenhängt.«

»Allerdings – aufgegeben!«, bestätigte Harst. »Wenn Sie mir auf Ihr Wort versprechen zu schweigen, dann …«

Tompson reichte Harst die Hand. »Ich bin kein altes Weib, Master!«

»Nun gut, dann will ich Ihnen nur sagen, dass ich es nicht aufgegeben habe, sondern beabsichtige, in einer Verkleidung von Paknam (Ort am linken Menam-Ufer, eine Meile von der Mündung entfernt) aus nach Bangkok zurückkehren. In Paknam legt Ihr Dampfer doch hier im Flussgebiet des Menam zum letzten Mal an, nicht wahr? Nun, da könnten Sie mir und meinem Freund einen Gefallen tun. Wir möchten unbemerkt von Bord. Wie können wir das am besten? Raten Sie uns.«

Tompson dachte nach. Dann fragte er: »Und Ihre Koffer? Sollen die mit an Land?«

»Gewiss, wenn es sich machen lässt.«

»Na, dann spielen Sie beide am besten ein Paar eingeborene verräucherte Heizer. Die Kostüme beschaffe ich Ihnen schon. Und dann mengen Sie sich …«

Er schwieg, denn Harst hatte plötzlich sein Fernglas, das ihm am Riemen um die Schulter hing, an die Augen geführt und schaute geradeaus den Fluss hinunter, wo vor uns mehrere Segler die Fahrrinne belebten.

»He, was gibt es, Master Harst?«, fragte Tompson eifrig. »Sehen Sie was Besonderes?«

»Nein, nichts Besonderes. Mich interessierte nur das Segelmanöver des Schoners dort beim Wenden.«

Harst ließ das Glas sinken, fügte hinzu: »Ich habe es mir anders überlegt. Wir werden doch nicht in Paknam den Dampfer verlassen, sondern erst in Lakon (Hafenort an der Ostküste der Halbinsel Malakka). Entschuldigen Sie uns jetzt, Kapitän. Wir wollen uns in unserer Kabine etwas einrichten.«

Wir stiegen die Brückentreppe hinab. Unsere Kabine lag im Mittelaufbau rechter Hand, also nach Steuerbord hinaus, und war eine der sogenannten Luxuskabinen. Das sogenannt muss man unterstreichen, denn der Luxus bestand lediglich in etwas breiteren Kojenbetten und einem Rohrsofa.

Harst setzte sich auf dieses Sofa, holte sein Zigarettenetui hervor und rauchte dann schweigend ein paar Züge seiner Spezialmarke Mirakulum.

»Mein lieber Alter«, meinte er nun und blickte mich sehr ernst an. »Der Gang zum Postamt in Bangkok gestern Abend hat sich gelohnt. Ich sagte dir, ich wollte nur einen Brief an meine Mutter als Eilbrief aufgeben. Ich tat das auch. Nebenbei aber stellte ich mich dem Postdirektor vor und erkundigte mich, ob Eugenie Malcapier vielleicht regeren Briefwechsel irgendwohin unterhalten habe. Er fragte dann bei den Unterbeamten nach, und so erfuhr ich, dass sie seit drei Monaten etwa sehr häufig Depeschen nach Paknam an einen chinesischen Kneipenwirt namens Ling-Tuan sende und auch Telegramme von Paknam erhalte – alle sehr harmlosen Inhalts. Das Wichtigste aber: Gestern Nachmittag 2 Uhr, also kurz, nachdem sie sich für uns unsichtbar machte, hat sie wieder an Ling-Tuan depeschiert. Ich habe mir das Telegramm abgeschrieben. Bitte, hier ist diese Abschrift.«

Er reichte mir einen Zettel. Ich las folgendes:

Bei klarem Sternhimmel heute Mond genau beobachten und Bewölkung abwarten. Eumalca.

Ich konnte zu diesem Telegramm nur den Kopf schütteln. »Das verstehe ein anderer,« meinte ich.

»Ein anderer? Nein, du sollst es verstehen. Denn es ist zu verstehen!«

»Bedauere: Ich soll, aber ich kann nicht.«

»Deine Denkbequemlichkeit ist haarsträubend! Du willst mein Freund und Gehilfe sein! Schäme dich! Du übersiehst zum Beispiel ganz, dass die Malcapier ihre Jugend auf einem Schmugglerschiff verlebt hat, das ihrem Vater gehörte. Beachte die Vererbungstheorie!«

»Das tue ich. Ihr Vater war eine Abenteurernatur. Die Tochter wurde Diebin und Anführerin einer Erpresserbande. Das wissen wir alles, das ist erwiesen. Du meinst nun noch, sie sei auch Schmugglerin, nicht wahr?«

Er antwortete nicht. Er lauschte. Draußen auf Deck hörten wir lauten Lärm. Plötzlich sprang Harst auf und lief hinaus, winkte mir noch zu, ihm zu folgen.

Auf dem Vorschiff hatten einige zwanzig chinesische Kulis sich gelagert, die nach Lakon wollten und unter denen nun Streit entstanden war. Gerade als wir das Vorschiff betraten, begann eine allgemeine Prügelei. Dann warfen zwei der Kulis einen Dritten über die Reling in den Fluss. Aber der Kerl schwamm vorzüglich und hielt nun auch auf eine malaiische Prau zu, die sich dicht vor dem STERN VON SIAM befand.

Wir konnten beobachten, wie der Kuli die Schiffsleiter der Prau emporkletterte und von der Besatzung beinahe wieder in den Strom gestoßen wurde.

Kapitän Tompson fluchte nun in allen Tonarten auf die gelbe Vorschiff-Bande und drohte sie in Paknam von Bord zu weisen, wenn sie nicht Frieden hielten.

Inzwischen war der Dampfer längst an der Prau vorüber, auf die der Kuli sich geflüchtet hatte. Paknam war in Sicht gekommen, und Harst und ich stiegen wieder auf die Brücke, um einen besseren Ausblick zu haben.

So geringfügig diese kleinen, soeben geschilderten Begebnisse zu sein scheinen: Der Leser tut gut, sie sich einzuprägen. Sie enthalten die Erklärung für all das, was weiter geschah.

Und es geschah recht viel und recht Aufregendes.

Der Raddampfer hatte in Paknam neue Fracht aufgenommen und dazu fast anderthalb Stunden gebraucht. Harst war mit einem Mal verschwunden. Ich sah ihn erst wieder, als die Sirene zum dritten Mal heulte. Er kam den Hafenkai entlang und trug ein großes Paket. Als ich ihn fragte, was er denn in Paknam eingekauft habe, erwiderte er: »Das, was wir sehr bald brauchen werden.«

Der STERN VON SIAM dampfte weiter. Wir standen wieder auf der Brücke.

»Haben Sie ein paar Minuten Zeit, Kapitän?«, fragte Harst.

Tompson nickte. »Für Sie immer.«

»Gut – kommen Sie dann nach einer Weile in unsere Kabine. Aber lassen Sie sich vor den chinesischen Kulis nicht sehen.«

»Nanu, was soll das?«, meinte Tompson und blickte Harst forschend an.

»Nachher! Auf Wiedersehen.«

Tompson musste dann auf dem Rohrsofa Platz nehmen.

»Einige Fragen«, begann Harst. »Ist Ihre Besatzung zuverlässig? Und wie stark ist sie?«

»Zuverlässig, hm! Von den 18 Mann traue ich nur der Hälfte. Die anderen sind Gesindel.«

»Aha, neun Mann, dazu wir drei und noch vier männliche Fahrgäste – macht sechzehn Leute. Das genügt. Was haben Sie an Waffen an Bord?«

»Waffen? Einen Revolver besitze ich, und mein Erster Steuermann und der Maschinist haben auch noch so einen sechsschüssigen Bulldogg. Aber, zum Teufel, weshalb fragen Sie so merkwürdige …«

Harst hatte schon das Paket geöffnet, das er vorhin mitgebracht hatte. Es war ein Pappkarton und darin lagen etwa fünfzehn Revolver verschiedenster Systeme nebst Patronenschachteln.

»Verdammt!«, brummte Tompson bei diesem Anblick. »Ich ahne was. Sie fürchten, mein alter Kasten könnte überfallen werden, Master Harst.«

»Er wird überfallen werden. Hören Sie mal zu, Tompson. Die Sache ist die. Als Sie vorhin von Ihrem Kollegen Perthram und den Schiffen erzählten, die in den letzten drei Monaten verschollen sind, fiel mir ein, dass ich auf der Post in Bangkok erfahren hatte, Eugenie Malcapier hätte gerade im letzten Vierteljahr sehr häufig Depeschen mit einem Chinesen namens Ling-Tuan in Paknam gewechselt.«

»Was, Teufel!«, rief Tompson nun, »gerade mit diesem fragwürdigen Halunken, von dem man behauptet, er sei früher Pirat gewesen.«

»Ja, mit dem! Da nun weiter der Vater der Malcapier Schmuggler war und sie ihre Jugend auf dessen Schiff verbracht hat, dürfte ihr die Neigung für Meer, Wasser und Seeverbrechen, wie man alle mit der Schifffahrt zusammenhängenden Vergehen wohl bezeichnet, im Blut stecken – Vererbungstheorie! In den letzten drei Monaten verschwinden Schiffe, und genau so lange hat die Malcapier mit Ling-Tuan allerlei Heimlichkeiten! Das und die Vererbungstheorie genügten mir zu dem schwachen Argwohn, die Malcapier könnte nicht nur die Anführerin der Bangkoker Räubergilde, der sogenannten Menam-Brüder, gewesen sein, sondern eben auch sich als Pirat betätigen. Diese Gedanken erwog ich oben auf der Brücke. Und ein Zufall war es! Da gewahrte ich auf dem Vorschiff an der Reling stehend einen der Kulis, einen jungen Burschen, der an einem Bambusstock einen roten Lappen befestigt hatte und damit scheinbar spielend herumfuchtelte. Scheinbar! Ich merkte bald, dass die Bewegungen dieser primitiven Fahne eine gewisse Regelmäßigkeit zeigten.«

»Aha, Winksignale!«, rief Tompson.

»Ja, und deshalb riss ich das Fernglas an die Augen und schaute nach vorwärts, erkannte so, dass von Bord einer großen Prau mit zwei hohen Masten gleichfalls gewinkt wurde.«

»Verdammt verdächtig!«, knurrte Tompson.

»Ich habe Sie und Schraut also etwas beschwindelt, als ich erklärte, die Segelmanöver des Schoners interessierten mich. Als ich das Glas absetzte, drehte sich der Chinese mit der Flagge gerade um, bemerkte mich und zuckte leicht zusammen. Das genügte mir jetzt vollauf: Diese chinesischen Kulis waren nicht harmlos! Ich überlegte, was ich tun sollte, besprach mit Schraut in unserer Kabine den Depeschenwechsel der Malcapier und hörte plötzlich den Lärm auf dem Vorschiff. Ich will mich kurz fassen: Die Balgerei des gelben Gelichters war Komödie, denn gerade der junge Bursche, der signalisiert hatte, wurde über Bord geworfen und schwamm zur Prau hinüber, wo man ihn nur zum Schein unhöflich aufnahm. Dieser Bursche wollte lediglich unauffällig den Dampfer verlassen, unauffällig insofern, als es nicht so aussehen sollte, dass er vor mir floh! Aber es war eine Flucht, nur eine geschickt verhüllte. Und der Bursche war kein anderer als …«

»Eugenie Malcapier!«, platzte ich heraus.

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