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Nick Carter – Band 17 – Das Gefängnis auf dem Meeresgrund – Kapitel 4

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Das Gefängnis auf dem Meeresgrund
Ein Detektivroman

Die Jagd nach dem Einbrecher

»Hat er etwas erwischt?«

»Warte einen Augenblick, und ich will es dir sagen!«

Es war Percy Dunbar, welcher die Frage gestellt hatte, und sein Bruder George beantwortete sie.

Das Haus wurde noch in seinem Inneren von dem Angst­geschrei der entsetzten Dienstboten erfüllt. Auch die beiden jungen Männer waren nicht nur empört über den frechen Ein­brecher, sondern in noch höherem Maße ergrimmt darüber, dass er, ungeachtet ihrer vereinten Bemühungen, zu entwischen vermocht hatte.

»Begib dich hinauf und sieh zu, dass du die Dienstboten beruhigen kannst«, rief George seinem Bruder zu.

»All right, George!«

»Ich will unten im Parlorfloor inzwischen nachsehen und mich davon überzeugen, ob Vater durch den Lärm geweckt wurde!«

Schnell eilte der junge Dunbar zum Hausgang hinun­ter und fand dort die Straßentür offen stehen. Als er auf die Freitreppe hinaustrat, hörte er in der Ferne verhallende flüch­tige Fußtritte.

»Diebe, Einbrecher!«, schrie er aus vollem Hals mehrere Male hintereinander.

Er hatte Lust, dem mutmaßlichen Verbrecher nachzueilen, besann sich indessen anders und kehrte ins Haus zurück. Viel­leicht hatte sich ein Helfershelfer des Einbrechers im Haus verborgen und man konnte ihn erwischen. Jedenfalls war es notwendig, alle Räume sorgsam zu durchsuchen.

George drehte das elektrische Licht an und ging durch die im Parlorfloor gelegenen Zimmer, konnte natürlich aber nichts entdecken, was auf den unerwünschten Besuch eines Einbre­chers gedeutet hätte.

Inzwischen war es seinem jüngeren Bruder Percy mit vie­l Mühe gelungen, die jammernden und schreienden Dienstmäd­chen einigermaßen wieder zu beruhigen.

Die Mädchen beteuerten einstimmig, dass der Räuber oben bei ihnen im Topfloor gewesen sei. So widersinnig Percy eine solche Annahme auch fand, denn welche Schätze konnte ein Einbrecher wohl oben in den Kammern der Dienstboten ver­muten, so überzeugten ihn die Beteuerungen der Jammernden doch halb und halb davon, dass deren Behauptungen richtig sein mochten. Weder ihm noch seinem Bruder kam die Vermu­tung, dass der nächtliche Ruhestörer am Ende gar identisch mit ihrem Gefangenen sein könne. Das erschien ihnen so ganz und gar ausgeschlossen, dass sie nicht einmal daran dachten.

Er wollte die Dienstboten zu Bett schicken. Doch diese bestanden darauf, dass zuvor der Topfloor gründlich durchsucht wurde, denn in ihren erschreckten Gemütern glaubten sie nicht anders, als dass unter jedem Bett ein halbes Dutzend bis an die Zähne bewaffneter Einbrecher lägen.

»Unsinn!«, fuhr Percy sie grob an, »macht doch nicht durch euer Geschrei ganz Chicago rebellisch! Ja doch, schon um Euch zu beruhigen, will ich mit hinaufkommen und genau nachsehen.«

Er begab sich mit den zitternden Mädchen zum Top­floor und leuchtete, da in diesem Stockwerk kein elektrisches Licht angebracht war, mit Streichhölzern Gang und Kammer ab, konnte aber nicht das geringste verdächtige Zeichen ent­decken. Er blickte zum Oberlichtfenster, doch da Patsy dieses vorsichtig wieder geschlossen hatte, ehe er vom inneren Rahmen aus den verhängnisvollen Sprung gewagt hatte, so konnte Percy Dunbar dort gleichfalls nichts Verdächtiges bemerken.

Dennoch begab sich der junge Bankier über eine steile Lei­ter zum Dach, um auf diesem Umschau zu halten. Doch ein flüchtiger Rundblick ließ ihn auch hier nichts Verdächtiges sehen und er war fest davon überzeugt, die Mädchen hätten sich geirrt und der Verbrecher war auf keinen Fall vom Dach aus eingestiegen.

George hatte inzwischen noch nicht seine Dursuchung des Parlorfloors beendet, als er die Stimme seines Vaters hörte.

»Ich hoffe, du bist nicht unnötig aufgeweckt worden, Va­ter«, rief er zurück. »Es liegt keinerlei Grund zur Besorgnis vor!«

»Kein Grund zur Besorgnis!«, stöhnte der alte Mann. »Ein wahrer Hexensabbat im Haus, dazwischen Schreien und Pisto­lenschießen – und kein Grund zur Besorgnis! Bist du von Sinnen, George, oder was soll das sonst heißen?«

»Ganz wie ich sagte, Vater, es liegt keinerlei Veranlassung zur Beunruhigung vor. Ein Einbrecher hat hier eine Gast­rolle zu geben versucht, doch er hat nichts stehlen können, muss vielmehr von mir verwundet worden sein!«

»Was ist denn mit dem elektrischen Licht los, ich kann es nicht einschalten!«, klagte vom zweiten Stockwerk her der alte Herr, der dort mittlerweile im Korridor aufgetaucht war.

»Der Bursche muss den Einschalter überdreht haben, Va­ter«, versuchte George ihn zu beschwichtigen. »Bitte, gehe ruhig zu Bett. Percy und ich werden das ganze Haus absuchen und Du kannst ganz unbesorgt sein!«

Eben einigte sich Percy mit Bruder und Vater.

»George hat recht, begib dich nur ruhig wieder zu Bett. Sobald wir mit der Durchsuchung des Hauses fertig geworden sind, benachrichtigen wir die Polizei und legen uns gleichfalls nieder.«

»Das will ich tun«, versetzte der alte Mann. »Mir ist ohnehin nicht wohl und ich kann nicht länger aufbleiben. Doch hoffentlich überzeugt ihr euch, dass kein Fremder sich mehr im Haus befindet!«

»Ganz ausgeschlossen, Vater, er müsste denn gerade hier in diesem Stockwerk sich versteckt haben – aber das ist kaum denkbar und wir werden es auch sofort herausbekommen.«

»Das ist nicht nötig, denn hier im Stockwerk habe ich selbst schon nach dem Rechten gesehen«, erklärte Dunbar sen.

»Aber du hast natürlich nichts von einem Einbrecher entdeckt, was, Vater?«, fragte George lachend.

»Doch, in Onkel Gregorys Zimmer!«

Die beiden Brüder schauten sich erbleichend an. George besonders war so bestürzt, dass ihm der Revolver, welchen er immer noch in der Hand hielt, auf den Boden fiel.

»Was ist geschehen?«, stammelte der alte Mann, sich er­schreckt wieder nach den Brüdern umwendend.

»Nichts, Vater, du bist auch zu nervös«, sagte George, sich gewaltsam ermannend, um nach außen hin ruhig zu erscheinen. »Mir ist der Revolver aus der Hand gefallen, das ist alles.«

Damit bückte er sich auch schon nach der Waffe; doch er

bedurfte zu deren Aufheben eine lange Zeit, denn er wagte es nicht, eben den spähenden Blicken seines Vaters zu begegnen.

»Du solltest wirklich mit Schusswaffen vorsichtiger um­gehen«, verwies der alte Mann, der im Begriff stand, sich in sein Schlafzimmer wieder zurückzubegeben. Dann, als er zufällig Percy anschaute, stutzte er und rief kopfschüttelnd: »Mein Gott, Junge, wie siehst du aus! Du bist ja so bleich wie der Tod. Hat dich der Einbruchsversuch so furcht­bar erschreckt?«

»Ich fürchte mich nicht, Vater«, entgegnete Percy, doch im Gegensatz zu seinen Worten schlugen ihm die Zähne hörbar auf­einander. »Doch mich fröstelt – ich bin nur leicht angezogen und mag mich erkältet haben.«

Damit geleitete er seinen Vater nach dessen Schlafzimmer und war ihm beim Niederlegen behilflich.

»Du sagtest, Vater, du hättest in Onkel Gregorys Zim­mer geschaut?«, fragte George, der ihnen nachgefolgt war, und es nahm seine gesamte Willenskraft, um seiner Stimme nach außen hin Festigkeit zu verleihen.

»Gewiss, ich habe mich im ganzen Stockwerk umgeschaut, alle Schränke habe ich geöffnet und unter jedes Bett habe ich geblickt. Auch in Onkel Gregorys Zimmer schaute ich, doch auch dort fand ich keine lebende Seele.«

»Er wird überhaupt nicht drinnen gewesen sein«, ver­suchte George lächelnd zu erwidern.

»Doch, drinnen war er ganz entschieden«, beharrte sein Vater. »Soviel ich sehen konnte, war die Ottomane in der einen Zimmerecke der Länge nach an die Wand gelehnt.«

»Merkwürdig!«, war alles, was George antworten konnte, während er mit seinem Bruder einen verstohlenen Blick äußer­sten Befremdens austauschte.

Lautlos, ohne vom Vater bemerkt zu werden, schritt Percy aus dem Zimmer.

»Soll ich das Licht jetzt ausdrehen, Vater?«, erkundigte sich George tonlos.

»Ja, das magst du tun – doch warte! Habt Ihr schon ermittelt, auf welche Art der freche Patron ins Haus gedrun­gen ist?«

»Bis jetzt noch nicht. Doch wir werden nicht eher zu Bett gehen, bis wir es wissen!«

»Gute Nacht, Vater!«

»Gute Nacht, George! Der Schrecken steckt mir noch in allen Gliedern und es wird mir wohl kaum möglich sein, mor­gen ins Geschäft zu gehen. Es ist auch so viel, was auf mich alten Mann hereinstürmt … jetzt diese Einbruchsgeschichte und gestern erst das rätselhafte Verschwinden meines armen Freundes Fillmore …«

»Es wäre vielleicht besser, Vater, wenn ich dir ein Schlaf­mittel gebe.«

»Nein, lass das, mein Junge, ich kann mich schon ohne Schlafmittel behelfen«, meinte sein Vater gähnend. »Sage übri­gens, hast du über Fillmore noch nichts Neues gehört?«

»Nicht ein Wort«, erklärte George mit abgewendetem Gesicht.

»Well, gute Nacht. Benachrichtigt die Polizei, doch weckt mich nicht, wenn es nicht durchaus notwendig ist.«

Das versprach George und drehte das elektrische Licht ab. Er verließ das Schlafzimmer, drückte die Tür ins Schloss und ging dann behutsam zu dem Raum, in welchem Patsy einge­sperrt gewesen war.

Dort fand er seinen Bruder Percy wie am Boden ange­wachsen und mit entgeisterten Blicken auf die der Länge nach aufgestellte Ottomane starrend. Er wendete den Kopf nicht, als er den Bruder eintreten horte, sondern deutete nur mit der Hand nach den niedergebrochenen Gitterstäben des Ventilators.

»Schau dorthin!«, flüsterte er. »Auf diesem Weg ist er entkommen. Zum Glück hat Vater nichts gesehen!«

»Zum Glück!«, äffte sein Bruder nach. »Na, ich danke, wenn du bei diesem Missgeschick noch von Glück sprechen kannst …«

»Ich weiß, ach, ich weiß nur zu gut, George, uns sitzt das Messer an der Kehle!«, stöhnte Percy. »Als ich vorhin Va­ter sprechen hörte, nahm ich an, es müsste ungesehen von ihm dem Detektiv gelungen sein, sich durch die Tür zu schleichen. Doch nun ist alles klar, er ist durch den Ventilator entkom­men!«

»Allerdings«, stöhnte George, »und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass Nick Carter, der gefährlichste Spürhund der Welt, auf uns losgelassen ist!«

»Ah! Mir wirbeln die Sinne – um des Himmels willen – George, was sollen wir jetzt anfangen!«

Doch sein Bruder war schon dabei, emsig das Zimmer zu durchsuchen.

»Wir müssen die beiden Briefe, die ich an ihn geschrieben habe, suchen, denn ihr Inhalt kommt einem Geständnis gleich!«

»Habe ich dich nicht gewarnt, die Sache auf die Spitze zu treiben?«, versetzte Percy, außer sich vor Wut mit dem Fuß aufstampfend. »Deine Idee war es …«

»Gebe ich zu, doch in der Patsche steckst du genau ebenso tief wie ich!«

»Aber du schriebst diese verwünschten Briefe!«

»Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern. Wer könnte auch annehmen, dieser Mensch würde aus einer derartig siche­ren Zelle durchbrennen können!«

»Unsinn! Du brauchtest ihn nicht durch deinen Hohn vol­lends wild zu machen – nie und nimmer würde ich Narr genug gewesen sein, um ein schriftliches Schuldgeständnis aus der Hand zu geben!«

»Pah, wer selbst im Glashaus sitzt, soll andere nicht mit Steinen werfen – hättest du dich nicht von dieser Mrs. Harding bereden lassen, so würden wir die Finger fein von der ganzen Geschichte gelassen haben!«

»Komm, George«, unterbrach ihn Percy in rasch veränder­tem Ton, ihm die Hand auf die Schulter legend, »was kön­nen alle Vorwürfe nützen! Wir stecken beide in der Patsche – mag sein, dass ich der größere Narr von uns beiden bin, aber du hast ebenso gut wie ich unbesonnen und töricht gehan­delt.«

»All right, Percy, ich bin zum Streiten nicht aufgelegt, denn mir schlägt das Herz gegen die Kehle – was sollen wir jetzt tun?«

»Hast du deine Briefe nicht wieder gefunden?«, erkundigte sich Percy kläglich.

»Auch nicht den geringsten Fetzen davon!«, stieß George grimmig hervor.

»Allerdings kann ich mir denken, dieser Carter ist mit allen Hunden gehetzt und hat das Haus nicht verlassen, ohne diese verwünschten Briefe mitzunehmen. Das ist eine schöne Bescherung, George. Diese Briefe können uns ins Gefäng­nis …«

»Nein, sie können uns vielleicht an den Galgen brin­gen, geht die Geschichte mit Fillmore schief!«, ächzte George Dunbar.

»Wer weiß, Carter ist vielleicht schon mit Polizisten auf dem Herweg, um uns zu verhaften …« sagte Percy, vor Furcht am ganzen Leibe zitternd.

»Schon möglich, darum ist es besser, wir machen uns aus dem Staub, solange wir hierzu noch Zeit haben!«, ent­schied sein Bruder. »Komm mit, Percy, Vater wird nicht anderes glauben, als seien wir fortgegangen, um die Polizei zu benachrichtigen!«

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