Michael Blihall – Die Brücke
Michael Blihall
Lovecrafts Schriften des Grauens 44
Die Brücke
Horror, Taschenbuch, Blitz-Verlag, Wittbek, 29. Oktober 2024, 252 Seiten, 12,95 EUR, ISBN 9783689840075, Titelbild: MtP-Art Mario Heyer unter Verwendung der KI Software Midjourney
Die Großen Alten haben ihre Schreckensherrschaft begonnen.
Wenige Überlebende kämpfen in Tunnel und Katakomben unter den Städten um ihr Leben.
Durch Zufall entdeckt einer der Überlebenden die Möglichkeit, eine Zeitreise zu realisieren. Er wagt den unglaublichen Versuch, die Brücke in die Vergangenheit zu betreten. Es geht um die Zukunft der Menschheit.
Am Ziel angekommen, muss er erkennen, dass die Menschen noch nicht reif für die Wahrheit sind. Trotzdem versucht er weiter, Cthulhus Erwachen zu verhindern.
Lovecraft ist im Grunde überall. Auf hoher See, im Schützengraben, im Weltall – seine erdachten Geschöpfe sind omnipotent. Gleichwohl, Restskepsis bleibt. Ist er wirklich überall? Darf er wirklich, kann er wirklich überall? Zugegeben, denkt man an das Necronomicon, die Großen Alten, den Cthulhu-Mythos, so assoziiert man damit nicht zwangsläufig das Alpenvorland oder die Steiermark. Doch bereits 2005 bewies Andreas Gruber mit seinem preisgekrönten Romaneinstand Der Judas-Schrein, dass kosmischer Horror und die ländliche Idylle Österreichs perfekt harmonieren. Der gebürtige Wiener und Tausendsassa – Schauspieler, Regisseur, Schriftsteller – Michael Blihall macht mit seinem ersten Buch Die Brücke den nächsten, vollkommen logischen Schritt. Weg vom Land, rein in die Stadt. Oder was davon übrig ist. Denn das Undenkbare ist geschehen: die Große Katastrophe. Der mächtige Cthulhu ist auferstanden und das bisschen Menschheit, das überlebt hat, vegetiert unter den Ruinen der Zivilisation, etwa einer Millionenstadt wie Wien. Einer davon ist ein junger Mann namens Erich, der die Welt von einst einzig aus den Erzählungen des altersschwachen wie -müden Vaters kennt. Eine winzige Knospe Schönheit inmitten von Verfall und Elend. Ohnehin – was ist das überhaupt für ein Dasein? Vegetieren in der Kanalisation; mit Ratten und sonstigem Krabbelzeug zum gelegentlichen Festgelage, regelmäßige Himmelfahrtskommandos zur Oberfläche ohne Garantie auf Rückkehr in einem Stück oder atmend.
Unerwartet kriegt Erich die potenzielle Lösung auf alle Probleme zu schmecken – wortwörtlich. Wobei Matsch, versetzt mit Shoggothenschleim weit unter dem eigenen Nahrungsniveau liegt; selbst bei einem Überlebenskünstler wie ihm. Das ungewollt konsumierte Zeug liegt nicht nur schwer im Magen – es bewirkt deutlich mehr. Freilich halten es Erichs Gefährten für hanebüchenen Mumpitz, als er Stein und Bein schwört, dass diese Substanz ein Reisen durch die Zeiten ermöglicht, was Erich nicht von Selbstversuchen abhält, und ihn bestärkt, den finalen Schritt zu wagen. Dank des Vaters weiß er, wann und wo das Ende begann und mit ziemlicher Sicherheit, dass er wohl fortan und unvermittelt den Schicksalsträger der letzten Menschen darstellt. Und – es funktioniert! Erich landet im Wien des Jahres 1976 in einer ihm unvertrauten Welt, die ihm mit unverhohlenem Misstrauen begegnet. Besonders auf behördlicher Seite. Wieso weiß ausgerechnet ein Spinner von seinem Schlag so viel über die rituell angehauchte Mordserie, die Wien in Atem hält? Wie ist es ihm möglich, dem Mörder stets einen Schritt voraus zu sein? Steckt Erich mit ihm unter einer Decke? Ist er womöglich der Killer und erlaubt sich einen Spaß mit der Polizei? Der erzkonservative Inspektor Wiesbauer würde den Knaben auf der Stelle ins finsterste Verlies schmeißen. Anders dagegen Kollege Krainer. Den plagt mehr als leichtes Zweifeln, zumal dieser Erich Zann ohne Killergen ausgestattet ist. Könnte demnach in dieser Mär über die Apokalypse, der Auferstehung einer Gottheit von den Sternen – ausgerechnet in Wien! – und dem Ende der Menschheit als dominante Spezies zumindest ein Fünkchen Wahrheit eingebettet sein?
Wien ist eine Reise wert. Sogar im Armageddon. Michael Blihall macht in der Hinsicht aus dem eigenen Herzen keine Mördergrube. Man merkt die – verständliche – Liebe des Autors zur Heimatstadt, deren Architektur und Sehenswürdigkeiten weitaus mehr als schmückendes Beiwerk sind. Geschickt flicht er Sagen und Sagenhaftes ein, etwa die Mythen rund um das Basiliskenhaus mitsamt der dazugehörigen Skulptur. Lovecraft ist in der Tat überall. Aber will man dem genial-kontroversen Eigenbrötler aus Providence huldigen, hat man ihn zu verstehen. Etwa dessen episodenhafte Furcht vor dem Fremden, weshalb man ihn heute oft als Rassist brandmarkt. War es in Wirklichkeit der emotionale Hilfeschrei eines missverstandenen und besonders in Kindheitstagen unterjochten Menschen? Ist Lovecrafts Determinismus und dessen Überzeugung, wie nichtig und unbedeutend der Mensch im kosmischen Gesamtbild sei, nichts anderes als eine literarische Selbstreflexion? Fragmente davon finden sich bei Blihalls Held, Erich Zann wieder, ebenso beim kauzigen Inspektor Wiesbauer. Sekunde, Erich Zann? Wie in Die Musik des Erich Zann, einer der bekanntesten Lovecraft-Geschichten? So ist es. Ungeniert, aber keineswegs ungeschickt, wühlt sich Blihall durch den Lovecraft-Fundus, ändert Vorhandenes oder stellt es auf eine Meta-Ebene mit dem Schöpfer. Nicht nur ein Name wie Erich Zann oder die erwähnten Morlocks wirken vertraut. Die Brücke ist durchsetzt mit bekannten wie etablierten Elementen der modernen Phantastik. Wer denkt etwa bei Erichs Zeitreise und dessen Hilflosigkeit nach der Ankunft nicht an 12 Monkeys oder – prominenter – den Terminator? Ein versierter Erzähler schafft es, derlei vermeintlich Altbackenes so darzustellen, dass es unverbraucht anmutet, mitsamt frischer Perspektiven. Michael Blihall ist solch ein Erzähler. Ohnehin: Es ist bewundernswert, wie die Rädchen in Die Brücke nahtlos ineinandergreifen. Historie und Phantastik fusionieren zu einer unwiderstehlichen Mischung. Das der Autor wenige Meter vor dem Ziel im selbst ausgelegten Morlock-, ähm, Shoggothenschleim kurz ins Schlingern gerät, verkommt bei dieser rasant-düsteren Mär fast zur Marginalie. Kurzum: Blihalls erster Roman ist ein Schuss ins Schwarze. Ein kleines Meisterwerk, dem man schwer entgehen kann; ob man nun Lovecraft mag oder nicht. Sensationell!
(tsch)