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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 5 – Kapitel 5

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Fünfte Episode 
Das Geheimnis der Insel der Gehenkten 
Fünftes Kapitel

Die drei Lords

Die drei Lords der Roten Hand verließen den Palisadenzaun, der das Labor umgab, entließen ihre Eskorte, nahmen ihre Masken ab und betraten ein einstöckiges, fast elegantes Haus aus Holz und Ziegeln. Es war von einem Garten umgeben, in dem alle Pflanzen gediehen, die dem rauen Klima standhalten konnten: Ebereschen, Kiefern und arktische Weiden, umrahmt von Heidekraut und alpinen Pflanzen.

Die drei Lords betraten einen Salon, der von einem großen Porzellanofen beheizt wurde und mit Ledersesseln und Schränken aus Kiefer und polierter Buche gemütlich eingerichtet war. Aus einem silbernen Samowar dampfte duftender gelber Tee. Auf Tellern aus altem sächsischen Porzellan türmten sich Stapel von Kaviarbrötchen.

»Messieurs«, sagte der Mann mit der goldenen Brille, »dieser alte französische Gelehrte scheint mir sehr klug zu sein. Ich glaube, wir sollten auf der Hut sein.«

»Mein lieber Doktor Cornelius«, antwortete ein anderer, derselbe, der sich bei Monsieur Bondonnat als Sprecher seiner beiden Kollegen gezeigt hatte, »ich glaube, Sie irren sich. Der Franzose fürchtet um seine Töchter; mit diesem Argument können wir mit ihm machen, was wir wollen.«

»Das ist nicht sicher.«

»Doch«, widersprach der dritte Gesprächspartner, »Baruch hat völlig recht, Bondonnat liebt seine Töchter; außerdem hat er uns ernsthafte Garantien gegeben. Die Anwendung seiner Methoden hat den Ertrag unseres Mais- und Baumwollanbaus verzehnfacht.«

»Das mag sein, mein lieber Fritz«, entgegnete Cornelius, »aber was wir jetzt von ihm verlangen, widerspricht seinen Vorurteilen.« Er lächelte seltsam. »Ich traue ihm nicht.«

Baruch ballte die Faust.

»Ob Bondonnat es will oder nicht«, rief er aus, »er wird uns gehorchen. Wir haben ihn in der Hand, und das sehr gut!«

»Aber«, sagte Cornelius beharrlich, »er hatte ein seltsames Lächeln … Er hat sich zu leicht mit einer Erfindung abgefunden, die er eigentlich für abscheulich halten müsste. Dieser alte Fuchs wird uns einen bösen Streich spielen, ich habe das Gefühl, und ich täusche mich selten.«

Baruch zuckte die Schultern.

»Ach«, sagte er, »ich wüsste nicht, was der arme Bondonnat uns in der jetzigen Lage antun könnte.«

»Im Notfall«, meinte Fritz Kramm, »würden wir ihn umbringen.«

»Niemals!«, rief Baruch aufgebracht. »Ich schätze Mademoiselle Andrée de Maubreuil sehr und bin überzeugt, dass ich ihr mit meinem neuen Gesicht gefallen werde!«

»Trotz des Verbrechens«, riefen Fritz und Cornelius gleichzeitig erstaunt aus.

»Vielleicht gerade wegen des Verbrechens.«

Es herrschte Stille.

»Gut«, murmelte Cornelius mit einem teuflischen Lachen, »wir verschonen das Leben Ihres Schwiegervaters. Lassen wir das.«

»Ja«, stimmte Fritz zu, »unsere Yacht legt heute Abend ab; es ist gut, die verbleibenden Stunden für eine letzte, strenge Inspektionsrunde zu nutzen. Vergessen wir nicht, dass diese Insel, die Hauptstadt der Roten Hand, die legendäre Insel der Gehängten, von der alle Vagabunden sprechen, ohne daran zu glauben, ein entscheidender Trumpf in unserem Spiel ist. Sie ist unsere Reserve, unser geheimes Lager, unsere Festung!«

»Ich bewundere Sie«, sagte er, »Sie sprechen wie ein wahrer Dichter; ein Ritter des Mittelalters hätte seinen Turm nicht anders gepriesen. Heute ist alles anders.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ja, wenn ein gepanzerter Kreuzer, selbst ein einfacher Torpedobootszerstörer, in Sichtweite der Insel auftaucht, wird Ihr Arsenal in Stücke gerissen, Ihre Soldaten, Ihre Vagabunden werden in den Laderaum des Schiffes gebracht, die Daumen in den Handschellen.«

»So einfach würde es nicht gehen«, unterbrach Cornelius, »erstens ist die Insel der Gehängten von einem Gürtel aus Torpedos und schwimmenden Minen umgeben. Kein Schiff, nicht einmal ein Schlachtschiff der ersten Klasse, ein Dreadnought, könnte sich ihr nähern, ohne zu sinken. Dieser Schutzgürtel existiert noch in einem Umkreis von drei Meilen vor der Insel. Schiffsunglücke geschehen oft auf offener See und sind in diesen Gewässern unerklärlich. Verstehen Sie? Man bräuchte eine ganze Flotte, um die Insel der Gehängten zu erobern. Es ist die Stadt der Roten Hand. Sie ist unsere Hauptstadt!«

Baruch schwieg. Cornelius fuhr begeistert fort: »Meinen Sie wirklich, wenn eine Abteilung Matrosen an Land ginge, wäre ihnen der Sieg sicher? Keineswegs! Wir haben Elektrozäune, die jeden niederstrecken, der sie zu durchbrechen versucht, Sprenggräben, die ein Regiment in die Luft jagen können, und schließlich werden unsere Männer, die alle zum Tode verurteilt sind und nichts anderes als den Tod zu erwarten haben, bis zum letzten Blutstropfen kämpfen.«

»Wenn die Regierung der Union von dieser Lage wüsste«, murmelte Baruch.

»Natürlich«, sagte Fritz, »aber unsere Stärke liegt gerade darin, dass man uns ignoriert, dass man uns verachtet. Für alle ist die Insel der Gehängten nur ein kalter Felsen, der als Auslauf für Pelzrobben dient.«

»Haben Sie bemerkt«, unterbrach Baruch plötzlich, »wie der Hund des alten Franzosen mich hasst? Er irrt sich nicht. Er erkennt Baruch Jorgell genau unter den Zügen von Joë Dorgan.«

»Was soll’s«, sagte Cornelius, »dieser Hund bleibt auf der Insel, und Sie haben nicht oft Gelegenheit, hierher zurückzukehren.«

»Ich hätte ihn gern selbst erlegt, wie ich es einmal versucht habe.«

»Unmöglich«, sagte Fritz. »Bondonnat hat eine große Zuneigung zu diesem Tier.«

»Gut«, murmelte Baruch, stand auf und sah auf die Uhr. »Aber es ist spät, wir haben gerade noch Zeit für unsere Inspektionsrunde.«

Alle drei setzten ihre Masken wieder auf, schlüpften in ihre Pelzmäntel und verließen das Haus. Außerhalb des Gartens trafen sie wieder auf die Banditen, die ihnen als Leibwächter dienten.

Zuerst besichtigten sie den nördlichen Teil der Insel, der ganz den Seehunden überlassen war und aus einer großen Bucht mit felsigen Inselchen bestand. Die Tiere, die von niemandem belästigt wurden, waren keineswegs scheu; man sah sie in Gruppen von fünf oder sechs Tieren, die sich in der Sonne aalten, im Sand lagen oder miteinander spielten und dabei eine Art kehligen, bellenden Ruf ausstießen. Ein halbes Dutzend Eskimos hatte die Aufgabe, sie zu bewachen und mit Fischen zu versorgen. Neben der Hütte der Eskimos befand sich ein Schuppen, in dem die Felle vorbereitet wurden und in dem Lord Burydan beschäftigt werden sollte, bis die Lords der Roten Hand eine Entscheidung über ihn getroffen hatten.

Baruch und seine Gefährten warfen nur einen flüchtigen Blick auf die Einrichtung. Von dort aus begaben sie sich zu den Lagerhäusern, die in der Mitte der Insel eine Art Dorf bildeten und reichlich Nahrung, Kleidung, Waffen und Munition für die Besatzung von etwa hundert Banditen enthielten. Diese lebten in einer Art Kaserne, die mit großer Sauberkeit und strenger Disziplin geführt wurde.

Als die Herren den Hauptsaal betraten, der als Speisesaal diente, stellten sich die Banditen in zwei Reihen auf, entblößten ihre Köpfe und verharrten in respektvollem Schweigen. Alle Männer sahen gleich aus: wildes Gesicht, langer Bart, breite Schultern, raue Hände. Alle trugen den gleichen Lederanzug mit einem seitlich hochgeklappten Filzhut, den eine rote Hand zierte. Im hinteren Teil des Saales stand ein Waffenregal, in dem Winchester-Karabiner und Brownings symmetrisch aufgereiht waren, perfekt gepflegt.

Cornelius wandte sich an einen der Banditen, der in Rot gekleidet war, die Uniform, die die Anführer dieser Verbrecherarmee kennzeichnete.

»Captain Slugh«, sagte er, »wir sind unterwegs; haben Sie keine besonderen Botschaften für die Herren der Roten Hand?«

»Nein, Euer Gnaden«, antwortete der Bandit mit einer tiefen Verbeugung. »Ich hoffe, die Lords sind mit Ordnung und Disziplin zufrieden.«

»Sehr zufrieden, deshalb erlaube ich ab sofort jeden Samstag die doppelte Ration Whisky. Im Laufe des Monats wird die Jacht der Roten Hand kommen, um die Männer abzuholen, deren Anwesenheit in den Staaten der Union wieder möglich ist. Ist der Gesundheitszustand noch gut?«

»Hervorragend, außer dass Jackson, seit er elektrisiert wurde, immer noch unter nervösen Zuckungen leidet, die wahrscheinlich nie heilen werden. Moller wurde in Kanada so brutal aufgehängt, dass sein Hals trotz aller Massagen nie wieder gerade wird. Berval, der gelyncht und teilweise auf einem mit Petroleum getränkten Reisighaufen verbrannt wurde, musste ein Arm amputiert werden. Sonst gibt es keine Kranken.«

»Ich werde selbst ins Lazarett gehen«, meinte Cornelius ernst, »und was Berval betrifft, so werde ich ihn, sobald seine Papiere fertig sind, nach Hause schicken lassen, und er wird die Rente erhalten, die ihm zusteht. Die Herren der Roten Hand«, fügte er inmitten einer tiefen Stille hinzu, »lassen weder ihre Freunde noch ihre Feinde jemals im Stich.«

Dann ging Cornelius durch die Reihen und richtete ein paar Worte an jeden der Räuber.

»Warum bist du hier?«, fragte er einen.

»Elektrisiert«, antwortete der Mann, »und im Amphitheater von einem Arzt des Vereins wiederbelebt.«

»Und du?«

»Aus dem Zuchthaus geflohen.«

»Und du?«

»Erhängt.«

»Und du?«

»Elektrisiert.«

»Und du?«

»Gehängt.«

»Und du?«

»Erhängt.«

Die Antworten waren unveränderlich; alle diese Unglücklichen hatten die letzte Tortur durchgemacht und sie überlebt, dank der Komplizenschaft, die sich die Rote Hand überall gesichert hatte. Die unheilvolle Hauptstadt trug zu Recht den Namen Insel der Erhängten.

Von allen Banditen hier hatten nur zwei weder den Strick noch den Stromschlag noch den Lynchmord überlebt; der eine war in Spanien erwürgt worden, der andere war aus den Kupfergruben Sibiriens geflohen, nachdem er die Peitsche des Knut überlebt hatte.

Cornelius, am Ende des Saales angekommen, blieb vor einem alten Räuber mit langem weißen Bart stehen.

»Nun, Pater Marlyn«, fragte er ihn, »geht es Euch noch gut?«

»Ja, Euer Gnaden, ich gehe auf die zweiundachtzig zu, aber das hindert mich nicht daran, einen guten Appetit zu haben und Whisky für eine gute Sache zu halten.«

Fritz Kramm beugte sich zu Baruch hinunter.

»Sieh dir den Alten an«, flüsterte er ihm ins Ohr, »das ist ein echter Patriarch, zweifellos der Älteste unter den Landstreichern. Schon als Kind überfiel er Menschen auf den Landstraßen, wurde zweimal gehängt und so oft gelyncht, dass er die genaue Zahl nicht mehr weiß. Immer hatte er das Glück, unversehrt davonzukommen. Er ist in ganz Amerika bekannt, er wurde zu über hundert Jahren Gefängnis verurteilt, die er nie abgesessen hat.«

Mit dieser Inspektion war der Besuch beendet. Captain Slugh ließ die Reihen aufbrechen, und die drei Lords betraten, nachdem sie einen hohen Palisadenzaun überwunden hatten, den dritten Teil der Insel, der nur aus fünf oder sechs Holzhäusern bestand, die verstreut am Ufer eines Wasserlaufs standen.

Das Innere eines dieser Häuser erinnerte vage an ein Notariat oder eine Anwaltskanzlei. Alle Wände waren mit Aktenordnern bedeckt, die sorgfältig in Ordnung gehalten wurden. In der Mitte des Raumes kopierten zwei Männer ein Dokument mit Briefkopf, das wie eine Geburtsurkunde aussah.

»Sie kennen unser Büro nicht«, sagte Fritz lachend zu Baruch. »Hier stellen wir alle gefälschten Papiere her, die unsere Mitglieder brauchen, wenn sie ihre Identität ändern müssen. Wir haben eine Sammlung von offiziellen Texten und Formularen, eine Sammlung von Stempeln und Siegeln, Tinte in allen Farben, Chemikalien wie Kalkhypochlorit und Wasserstoffperoxid für Datumsänderungen.«

»Wie ich sehe, sind Sie bemerkenswert gut ausgestattet«, konstatierte Baruch.

»Uns fehlt nichts. In einer Stunde kann ich eine Sterbe- oder Geburtsurkunde haben, irgendein Zertifikat, das alle Merkmale der Echtheit aufweist.«

Die beiden Fälscher standen auf, als die Fürsten eintraten, und verharrten schweigend mit entblößtem Haupt.

»Setzt euch«, sprach Cornelius, »wir wollen euch nicht bei der Arbeit stören.«

Der Doktor hatte einige Schriftstücke vom Tisch genommen; er zeigte sie Baruch, der nicht umhin konnte, die Vollkommenheit der Arbeit zu bewundern.

»Nicht schlecht, nicht wahr?«, fragte Fritz. »Die Rote Hand hat viele Prozesse gewonnen, sogar im Zivilrecht, dank dieser geschickten Künstler. Wenn Sie erlauben, sehen wir uns jetzt die Herstellung der gefälschten Banknoten an.«

»Es tut mir leid, aber im Moment kann ich Ihnen nicht helfen. Unser Tresor ist voll und unsere Werkstätten stehen still. Aber ich kann Ihnen Julian und Johnie zeigen, zwei wirklich talentierte Graveure, die sich darauf spezialisiert haben, Banknoten aller zivilisierten Länder täuschend echt nachzubilden.«

Während sie sich unterhielten, erreichten sie ein langes Gebäude, das von einem gemauerten Schornstein überragt wurde. Sie durchquerten zwei oder drei Räume mit Druckpressen, und Cornelius blieb vor einer Tür mit einem vergitterten Guckloch stehen.

»Sehen Sie«, sagte er leise.

Baruch beugte sich vor und hätte vor Überraschung fast geschrien. Gerade hatte er zwei Männer bemerkt, die eifrig an einer Platte arbeiteten. Der eine sah Doktor Cornelius zum Verwechseln ähnlich, der andere war Fritz Kramm wie aus dem Gesicht geschnitten.

Leise schloss der Doktor den Spion.

»Was halten Sie davon?«, fragte er.

»Ich bin erstaunt.«

»Sie müssen verstehen, mein lieber Baruch, dass es im Leben manchmal sehr nützlich ist, einen Doppelgänger zu haben, und sei es nur, um in einer unangenehmen Situation ein Alibi zu haben.«

»Diese beiden ehrlichen Graveure«, erklärte Fritz, »hatten schon eine gewisse Ähnlichkeit mit uns. Der Doktor hat das Werk der Natur nur sanft vollendet: Er hat wieder einmal gezeigt, dass er wirklich der Bildhauer des menschlichen Fleisches ist.«

Baruch schwieg; er war erschrocken und fasziniert zugleich von der Macht, die seine Komplizen über alles in ihrer Umgebung zu haben schienen.

Der restliche Rundgang auf der Insel der Gehängten verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle.

Am nächsten Morgen wehten auf allen Gebäuden der Insel schwarze Fahnen mit einer blutigen Hand in der Mitte. Sogar das offizielle Banner der Roten Hand flatterte an der Fock der Jacht, die im Hafen vor Anker lag, direkt gegenüber der Kaserne der Vagabunden.

Die drei Lords schritten durch eine Gasse bewaffneter Männer, um an Bord zu gehen, und als sie das Deck der Yacht betraten, begrüßte sie die Kanonenbatterie auf der Höhe mit einer Salve von elf Schüssen, die von den Vagabunden mit drei Hurra-Rufen beantwortet wurde, wie es reguläre Matrosen jeder Nation getan hätten.

Das Schiff lichtete den Anker, manövrierte zunächst vorsichtig zwischen den treibenden Minen um die Insel herum, um dann, nachdem es die Gefahrenzone passiert hatte, unter Dampf zu gehen. Bald war sie nur noch ein weißer Fleck auf dem graugrünen Meer.

*

Als er die Kanonenschüsse hörte, die den Abzug der Herren der Roten Hand ankündigten, atmete Monsieur Bondonnat erleichtert auf und wandte sich an den Indianer Kloum.

»Jetzt sind wir an der Reihe, mein Guter«, sagte er, »es kommt darauf an, so wenig Zeit wie möglich auf dieser verfluchten Insel der Gehängten zu verbringen, die der Teufel holen sollte«

»Eher zu dritt«, erwiderte der Indianer und deutete auf den Hund Pistolet, der in diesem Augenblick seinen Herrn mit so klugen und tiefen Augen ansah, dass man schwören konnte, er habe verstanden, was gerade gesagt wurde.

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