Napoleon – eine Analyse zwischen Epos und Psychogramm
Napoleon – eine Analyse zwischen Epos und Psychogramm
Napoleon Bonaparte will französischer Kaiser werden und sein ehrgeiziger Aufstieg passiert rasant. Zugleich nimmt in seinem Leben aber auch die Liebe zu seiner Frau Joséphine eine entscheidende Rolle, zu der er in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis steht.
Auf dem Schlachtfeld ist er ein strategischer Planer und visionärer Anführer. Doch in der ehelichen Beziehung werden ganz andere Schlachten ausgetragen. Nur kann der Feldherr seine untreue Frau durch die Eroberung der Welt an sich binden?
Ridley Scotts filmisches Monumentalwerk erhebt sich wie ein gewaltiges Fresko vor den Augen des Publikums, ein Tableau von Schlachtenlärm und innerer Zerrissenheit, von kriegerischem Glanz und menschlicher Tragik. In der Figur Napoleons offenbart sich ein Paradox: ein Mann, der die Welt zu seinem Schachbrett machte und doch ein Gefangener seines eigenen Geistes blieb. Scott enthüllt die Ambivalenz dieses mythisch aufgeladenen Charakters mit einem kühnen Strich – weder beschönigend noch verherrlichend, sondern in der ganzen Widersprüchlichkeit seines Strebens nach Unsterblichkeit.
Joaquin Phoenix verleiht dem König ohne Krone eine nervöse Intensität, die weit über bloße Machtdemonstrationen hinausgeht. Er ist kein unerschütterlicher Eroberer, sondern ein Getriebener, ein Mann, dessen Selbstbild in einer fortwährenden Spannung zwischen Genie und Unsicherheit oszilliert. Schon früh deutet sich diese innere Zerrissenheit an, als er in einer dunklen Kammer über eine Jahrtausende alte ägyptische Mumie gebeugt steht – ein Sinnbild für seinen eigenen Kampf mit der Zeit, für sein verzweifeltes Ringen darum, den Schatten der Vergänglichkeit zu überwinden.
Doch nicht nur das Schlachtfeld ist Napoleons Arena, sondern auch die Liebe – oder das, was er für Liebe hält. Die Beziehung zu Joséphine, mit unbestechlicher Nuancierung von Vanessa Kirby gespielt, erweist sich als eines der zentralen Motive des Films. Hier, in den stillen Duellen ihrer Begegnungen, wo Worte wie Klingen aufeinandertreffen, zeigt sich ein Napoleon, der verletzlicher ist als in jeder blutgetränkten Feldschlacht. Joséphine ist die Einzige, die durch seine Rüstung hindurchblickt, die seine Maske durchschaut und ihn dort trifft, wo er am empfindlichsten ist – in seinem Stolz. Ihre Beziehung ist keine Romanze, sondern eine Schlacht auf einem unsichtbaren Schlachtfeld, ein fortwährender Kampf zwischen Hingabe und Kontrolle.
Scott entfesselt sein inszenatorisches Genie in den gewaltigen Kriegsszenen, doch es sind nicht die Kanonendonner oder die Kavallerieangriffe, die den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen. Es ist der leise, fast unmerkliche Moment, wenn Napoleon auf den weiten, schneebedeckten Feldern von Austerlitz steht und seine Soldaten wie Spielfiguren dirigiert – und in seinen Augen für einen Sekundenbruchteil nicht Triumph, sondern Leere aufblitzt. Es ist die Verzweiflung in Waterloo, wo seine Strategie ins Wanken gerät, nicht nur durch die gegnerischen Heere, sondern durch sein eigenes, unersättliches Ego.
Die Kamera von Dariusz Wolski ist dabei nicht bloß Zeuge, sondern Mitgestalterin der Erzählung. Sie erinnert in ihrer Komposition an die großen Meister der französischen Malerei – Delacroix, Géricault, David. Licht und Schatten fangen die Wucht der Geschichte ein, während die Farben manchmal prunkvoll leuchten, manchmal in düsteren Tönen das herannahende Unheil vorwegnehmen. Der Schnitt von Claire Simpson und Sam Restivo treibt die Geschichte mit fiebriger Geschwindigkeit voran, doch niemals auf Kosten der subtilen psychologischen Nuancen.
Die Musik von Martin Phipps ist mehr als bloße Untermalung – sie ist das Echo einer untergehenden Welt. Klassische Kompositionen wechseln sich mit anachronistischen Klängen ab, die eine ironische Distanz zum Geschehen schaffen. Es ist, als würde Napoleon selbst aus einer fernen Zukunft auf sein eigenes Leben blicken, mit einer Mischung aus Erstaunen und Bitterkeit.
Historische Genauigkeit ist in Scotts Werk zweitrangig, denn sein Anliegen ist kein penibles Protokoll der Vergangenheit, sondern die Verdichtung eines Mythos. Die Kinofassung ist bereits eine kraftvolle Allegorie auf Macht und Hybris, doch die angekündigte vierstündige Director’s Cut-Version könnte die Essenz dieses cineastischen Epos noch weiter vertiefen. Sie könnte zum definitiven Vermächtnis eines Regisseurs werden, der sich Zeit seines Schaffens mit den großen Themen der Geschichte auseinandergesetzt hat.
So bleibt Scotts Napoleon am Ende kein Heldenlied, sondern eine Tragödie. Es ist die Geschichte eines Mannes, der sich unsterblich machen wollte und doch an der eigenen Vergänglichkeit scheiterte. Ein Film, der nicht verherrlicht, sondern entlarvt, nicht feiert, sondern reflektiert. Ein Werk, das längst vergangene Zeiten auf die Leinwand bringt – und dennoch zeitlos bleibt.
(wb)
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