Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 8
Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman
Bei Joes Frau
»Was soll der Wisch?«, fuhr der Captain den Polizisten, welcher von Chick mit der Überbringung des zusammengefalteten Zettels beauftragt worden war, ziemlich unwirsch an, als der strammstehende Policeman ihm das Blatt überreichte.
»Weiß nicht, Captain, es war einer von Carters Leuten, und er befahl mir, dem Gefangenen dort das Blatt zu überbringen. Er zeigte Dienstschild und Karte vom Polizeichef. Da sein Verlangen gegen die Regel geht, so überbrachte ich den Zettel Ihnen.«
»Schon recht«, entgegnete der Captain, dessen Mienen sich aufgeklärt hatten. »Sie können gehen!«
Als sich die Tür hinter dem Polizisten geschlossen hatte, ging der Captain auf Nick zu.
»Hier ist der Zettel, Mr. Carter.«
Mit verdüstertem Gesicht nahm Nick das Stück Papier in Empfang.
»Wahrscheinlich von Patsy!«, schoss es ihm durch den Sinn. »Der gute Junge muss mich aufgespürt haben – doch – mein Himmel – das ist – Chicks Handschrift!«
Heiser hatten seine ersten Worte geklungen; nun aber las er in steigender Erregung, um schließlich den Zettel mit einem jubelnden »Gott sei Dank, Chick lebt – ich habe mich umsonst geängstigt!« dem erstaunt blickenden Captain in die Hände zu drücken.
»Lesen Sie selbst. Das ist eine herrliche Neuigkeit – ah! Nun lebe ich wieder – nun kann ich wieder aufatmen. Chick lebt – ah! Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte!«
Auch der Captain hatte einen kurzen Ausruf der Verwunderung nicht zurückhalten können, als er die ersten Worte des Zettels gelesen hatte, dessen Inhalt lautete:
»Ich lebe, Nick, und bin heil und munter. Ein Zufall fügte, dass meine Maske Eddy einem der in den Geldraub verstrickten Verbrecher so ähnlich sah, dass dieser für mich gehalten wurde. Ich – d.h. eigentlich du selbst, denn die Burschen hielten mich für Nick Carter – sollte in eine Falle gelockt werden; doch der Auftrag kam in falsche Hände, und statt meiner wurde Sam benachrichtigt.
Armer Kerl! Er hat bereits Prügel für mich einstecken müssen, nun starb er auch noch den mir zugedachten Tod! Doch einerlei! Ich bin auf der Spur – drei Kerle, Joe, Plug und ein mir merkwürdig bekannter Unbekannter waren nebst Sam auf den Geldraub aus – in einer Stunde wollen sich die Spitzbuben bei Joes Frau wiedertreffen … Darunter natürlich dieser angebliche Tom Blake, der in Wirklichkeit der Mörder des armen Sam zu sein scheint und gegen dich als falscher Ankläger auftrat. Wo sich die Wohnung von Joes Gattin befindet, weiß ich natürlich nicht – doch ich werde es schon herausbekommen und dir die bewussten roten Kreidezeichen hinterlassen, damit du mir schleunigst folgen kannst.«
Nick Carter hatte ganz in Gedanken dagestanden und die immer neu in ihm hervorbrechende freudige Aufwallung zu unterdrücken versucht. Es war ihm, als sei ihm das eigene Leben neu geschenkt worden, da er nun wusste, dass sein lieber Chick gesund und heil und an seiner Stelle ein Verbrecher, dessen Leben ohnehin ein verfehltes gewesen war, ermordet worden war.
»Well, Captain – trügt mich nicht alles, so habe ich eine Ahnung, wo Joes Frau wohnt … Ich muss sagen, mein braver Chick hat sich heute Nacht selbst übertroffen – denn meine eigenen Ermittlungen ergänzen seine Annahme, dass es sich um die Bankräuber handelt. Der angebliche Tom Blake ist in Wahrheit Haken-Max, der sich durch eine von einem hiesigen Spezialisten vollzogene Operation seiner bisherigen Gesichtszierde berauben ließ. Doch nun schnell ans Werk – die Straße, in welche uns wahrscheinlich meines Gehilfen Kreidemarken führen werden, gehört allerdings nicht zu Ihrem Stationsbereich – doch Eile ist derart vonnöten, dass ich die volle Verantwortung wegen Überschreitung Ihrer Dienstbefugnisse übernehme. Machen Sie sich mit etwa vier Ihrer bewährtesten Leute fertig, um sich mir anzuschließen.«
»Mit Vergnügen, Mr. Carter – es sollte mir eine ganz besondere Freude machen, wäre ich der Captain, der unter Ihrer Führung diese geheimnisvollen Geldräuber einfangen könnte … Ich will mich nur rasch in Zivil werfen und einigen meiner tüchtigsten Beamten den Befehl erteilen, ein gleiches zu tun – in spätestens einer Viertelstunde stehen wir hier zu Ihrer Verfügung!«
Der Captain hielt pünktlich Wort, und unverzüglich setzte man sich auf die Fährte der Verbrecher.
Nick Carter war zu der Überlegung gelangt, dass ein längeres Beibehalten seiner Strolchverkleidung überflüssig war. So streifte er denn die zerfetzten Hüllen ab, die natürlich in Wirklichkeit weder verschmutzt noch zerlumpt waren, sondern nur durch künstliche Herrichtung und zweckentsprechende Bemalung einen derartigen Eindruck machten. Darunter kam sein gewöhnlicher Straßenanzug zum Vorschein.
Bald war auch die Schminke vom Gesicht abgewaschen, Bart und Perücke entfernt, und als der Meisterdetektiv nun bald darauf das Zimmer des Captains verließ und dem diensthabenden Sergeanten freundschaftlich die Hand bot, wäre dieser vor Verwunderung beinahe vom Drehschemel gefallen, denn beim besten Willen wollte es ihm nicht in den Kopf, dass dieser elegante Gentleman identisch mit dem verkommenen Strolch sein konnte, der noch eine halbe Stunde zuvor mit wahrer Armesündermiene vor seinem Pult gestanden hatte.
Ohne jede Frage händigte er dem Detektiv das dicke Banknotenbündel, die Waffen und Schlüssel aus, und sein Erstaunen wandelte sich in ein erklärliches Schmunzeln, als Nick in so heimlicher wie nicht misszuverstehender Weise dem Sergeanten einen Fünfzig-Dollar-Schein in die biedere Rechte gleiten ließ.
Mittlerweile hatten sich die Beamten bereitgemacht, ebenso auch der Captain.
Sie begaben sich nun unter Führung des Detektivs, der sich zuvor noch davon überzeugt hatte, dass sie alle gut bewaffnet waren, an die Verfolgung der von Chick hinterlassenen Fährte.
Auch heute erwies sich Nick Carters System als unübertrefflich.
Derselbe konnte an jeder Straßenecke ein Zeichen ablesen, das Chick immer in aller Geschwindigkeit zurückgelassen hatte.
Zumeist handelte es sich um einfache, mit roter Kreide ausgeführten Kreuze oder Pfeile, die nach der einzuhaltenden Richtung zeigten.
Hin und wieder kamen auch Kreise in Betracht. Solche zeigten immer an, dass Chick sich an einem derartigen Punkt zu längerem Aufenthalt genötigt gesehen hatte.
Je weiter die Verfolgung voranschritt, umso deutlicher wurde es Nick Carter, dass die roten Kreidemarken ihn wirklich zu jenem Quartier zurückführten, wo er sich zu mitternächtlicher Stunde befunden hatte.
Er hatte es auch gar nicht anders erwartet, denn Chicks Andeutungen hatten ihn bereits halb zu der Gewissheit gebracht, dass Joes Frau keine andere als seine nächtliche Bekanntschaft war, welche in solch roher Weise von dem brutalen Gesellen geschlagen und dann von dem Detektiv mit Speise und Trank bewirtet worden war.
So kam es auch; denn als die Männer, welche sich vorsichtig an den Häusermauern entlang pirschten, um möglichst wenig beobachtet werden zu können, sich dem Häuserblock näherten, in welchem sich das Gebäude befand, das die armselige Behausung der unglücklichen Frau barg, fiel Nick Carters Blick auf seinen Gehilfen Chick, der sich inzwischen gleichfalls seiner Verkleidung als überflüssig entledigt hatte.
Es kam zu einer stürmischen Begrüßung.
»Ich hätte es nicht überlebt, Chick, wenn dir was zugestoßen wäre!«, sagte Nick bewegt. »Wir sind gewiss Männer – doch wir haben zusammen dem Tod so oft ins Angesicht geblickt, und du hast mir so oft mein Leben gerettet, wo es tatsächlich um mich geschehen schien, dass ich nicht ohne dich leben möchte. Nun ist alles im Lot – was weißt du zu berichten, Chick?«
»Ich denke, wir finden das Kleeblatt oben!«, erklärte der junge Detektiv lachend. »Ich beschattete meine beiden Freunde – und als sie sich dort jenem Haustor näherten, da war auch Tom Blake dort. Sie schüttelten sich die Hände – und dann ging’s ins Haus hinein, wo wahrscheinlich gegenwärtig geteilt wird. Die Burschen waren ziemlich zuversichtlich, denn da sie Nick Carter getötet zu haben glauben, so fürchten sie keine weitere Verfolgung mehr!«
»Ich habe so ’ne Ahnung, als ob sie sich in dieser Annahme getäuscht haben dürften«, erklärte der Detektiv. »Doch vorher ein Wort über diesen Tom Blake – das ist in Wirklichkeit Haken-Max.«
»Nicht möglich – der kann sich doch seine Habichtsnase nicht abschrauben!«
Dann aber, als Nick seinem Cousin in Kürze berichtete, da riss der Letztere die Augen vor Erstaunen weit auf.
»Großartig – nun bin ich meiner Sache bombensicher!«, erklärte Chick. »Der ganze Plan ist überhaupt in Haken-Max gereift. Er kannte Plug von New York her, denn dass diese beiden dort viel zusammenarbeiteten, weiß ich nur zu genau – die Kerle suchten einige Teilhaber, ihre Wahl fiel auf Joe und Sam, und so ging es denn an die Ausführung des frechen Raubes … Hier habe ich übrigens eine kleine Spende, die eigentlich für dich bestimmt war, Nick!«, schloss er vergnügt, indem er den Leinenbeutel aus der Tasche zog, welcher ihm von dem Jungen in der Nähe von Peteys Keller ausgehändigt worden war.
»Gewiss«, sagte der Meister. »Damit sollte ich verhöhnt werden. Die Kerle glaubten sich ihrer Sache so sicher, dass sie übermütig wurden – doch Übermut tut selten gut. Ich bin gewiss, wir werden die beiden anderen Leinenbeutel oben auftreiben.«
»Gehen wir zu Joes Frau«, schlug Chick heiter vor. »Ich weiß auch bereits, wo die Wohnung sich befindet … im obersten Stockwerk … Wir dürften darum gut tun, einige der Detektive auf dem Dach zu postieren, und ich werde sie dorthin führen. Du und der Captain sowie ein weiterer Mann verlangen dann Einlass in die Wohnung und brechen die Tür nötigenfalls mit Gewalt auf.«
»Gut ausgedacht!«, konstatierte der Detektiv beifällig. »In der Regel pflegen solche Burschen, wird plötzlich Einlass gefordert, über das Dach auszureißen … Das dürfte ihnen in diesem Fall allerdings gründlich vergehen!«
Nach der Anweisung des Detektivs wurde genau verfahren.
Chick hatte das Haustor schon früher geöffnet und bald nach dem Verschwinden der drei Kumpane im Gebäude einen Spaziergang durch dasselbe bis zum Dach unternommen; natürlich so leise und vorsichtig wie möglich, sodass er sicherlich von niemandem wahrgenommen worden war.
Der Zufall wollte es, dass der Captain früher den zuständigen Polizeibezirk kommandiert hatte und mit der inneren Einrichtung der Mietskasernen genau vertraut war.
Diese waren aus Raumersparnis dicht nebeneinander errichtet, und auch die hintere Fläche des Bauplatzes war durch die Errichtung von Hintergebäuden ausgenutzt worden, die sich kaum fünfzehn Fuß von den Hinterfenstern der Vorderhäuser entfernt erhoben.
Wie überall in Amerika waren die Dächer flach, sodass man sich bequem auf ihnen ergehen, Wäsche und dergleichen trocknen oder auch in heißen, schwülen Sommernächten auf ihnen schlafen konnte, wie dies vielfach seitens der ärmeren Bewohner geschieht, die es in ihren engen Zimmern mit der stickigen Luft darin nicht auszuhalten vermögen.
Inzwischen war es ein wenig Tag geworden, und man vermochte wenigstens zu sehen.
Geräuschlos stiegen die Beamten die steilen Treppen empor.
Chick, gefolgt von zwei Detektiven, begab sich ungesäumt nach dem Dache, während die Übrigen unter der Führung des großen Detektivs vor der ihnen bezeichneten Korridortür stehenblieben, um durch diese einzudringen, sobald Chick seinen Posten oben auf dem Dach eingenommen und das verabredete Signal gegeben haben würde.
Nick Carter hatte sich flach auf die Diele gelegt und versuchte, während seine Begleiter den Atem anhielten, durch den unteren Türspalt zu lauschen und zu spähen.
Es war ihm, als sähe er einen ganz schmalen Lichtstreifen, der von einer im Zimmer brennenden Lampe herrühren mochte – und zugleich hörte er auch zuweilen gedämpft lachen oder sprechen. Der Schall drang nur ganz unmerklich auf das Treppenhaus hinaus, ein sicheres Zeichen dafür, dass die in der Wohnung Befindlichen durch eine geschlossene Tür vom Innenkorridor getrennt waren und nur leise und gedämpft miteinander verhandelten. Immerhin glaubte Nick Carter, genug gehört zu haben, um mit großer Bestimmtheit behaupten zu können, dass mindestens zwei oder drei Männer sich in der Wohnung befanden.
In diesem Augenblick ertönte das Zeichen Chicks, welches vorher bekanntgegeben worden war.
Der Meisterdetektiv hatte inzwischen beschlossen, nicht erst lange um Einlass zu klingeln. Ein Blick auf die nur schwach gebaute Tür ließ ihn vermuten, dass es ihren vereinten Kräften leicht fallen müsste, die Türfüllung einzudrücken und auf solch gewaltsame Weise rasch ins Wohnungsinnere einzudringen.
Doch wie so häufig im Leben kam es auch diesmal ganz anders, als vermutet und vorausgesetzt worden war.
Wohl drückten die Männer mit vereinten Kräften die Schultern gegen die Tür; wohl krachte und splitterte auch das Holz, aber dennoch wich die Tür nicht, sondern sie spottete der verdoppelten und verdreifachten Anstrengung der Männer.
»Es ist unmöglich!«, rief Nick Carter unmutig, schnell den inneren Zusammenhang erratend. »Im Inneren sind schwere Eisenstangen eingelegt, und diese reichen bis tief in die Wand – wir müssen zusehen, dass uns auf gewöhnliche Weise von den Bewohnern geöffnet wird.«
Im Haus war es inzwischen lebendig geworden, denn natürlich hatte das laute Krachen und Splittern die Schläfer aus ihren Betten getrieben. Erst erschienen die Mitbewohner des Stockwerks in den denkbar leichtesten Nachtgewandungen vor ihren Korridoren und begannen einen Höllenspektakel in Szene zu setzen.
Kaum waren sie durch den Captain notdürftig beschwichtigt worden, als auch schon von den unteren Stockwerken her ähnlicher Lärm erscholl und die erregten Hausbewohner zuletzt einen wahren Hexensabbath vollführten.
Inzwischen hatte Nick Carter am Klingelzug geläutet, um Einlass zu begehren.
Fatal war es, dass es noch so dunkel im Treppenhaus war, dass man nur notdürftig zu sehen vermochte. Wohl hätte man die Korridorgasflamme entzünden können, doch davon hatte der Detektiv vorsichtigerweise abgesehen.
»Was gibt’s?«, fragte nun eine tiefe Männerstimme vom Inneren des Wohnkorridors.
»Aufmachen – im Namen des Volkes – aufmachen. Wir sind Beamte von der Polizei!«, befahl Nick Carter.
»Verdammt – was soll das – wer wagt es, die Tür aufzubrechen?«, kreischte es von innen.
Im selben Augenblick fiel durch die Lücken in der halb demolierten Tür ein grelles Streiflicht, das einer elektrischen Blendlaterne entstammte und im Nu die Gestalt des Meisterdetektivs scharf erhellte.
»Hölle und Tod – es ist Nick Carter – er lebt!«
Mit einem Sprung hatte der Detektiv sich aus dem Lichtbereich gebracht, denn die Gefahr lag nahe, dass auf ihn geschossen wurde – und dies war auch der Fall, denn schon die Sekunde darauf fiel ein Schuss durch die zertrümmerte Tür, der mit dröhnendem Krachen das Haus erfüllte und dessen Bewohner zu lauten Schreckensrufen veranlasste.
»Pulververschwendung, Haken-Max!«, erklärte Nick Carter seelenruhig. »Ergebt Euch ins Unvermeidliche – Ihr seid umzingelt und müsst Eure Medizin schlucken!«
»Den Teufel werden wir.«
Ein zweiter Schuss krachte, vermutlich in die Richtung hin abgefeuert, in welcher der Verbrecher den Detektiv vermutete; doch dieser hatte schon zuvor seine Stellung von Neuem gewechselt.
»Aufmachen, Haken-Max – und auch ihr, Plug und Joe – aufmachen!«, befahl der Detektiv.
Doch diesmal erfolgte keine Antwort, und als er sich nun, flach auf dem Leib liegend, bis an die Korridortür heranzupirschen wagte und durch deren unteren Spalt einen Strahl der eigenen schnell hervorgezogenen Diebeslaterne warf, da erkannte er, dass der Innenkorridor leer war und der Sprecher von vorhin sich zurückgezogen hatte.
Deutlich konnte Nick sehen, wie die einzige aus dem Vorsaal nach der Wohnung führende Tür sperrangelweit offenstand, und im Zimmer dahinter schien es äußerst geräuschvoll zuzugehen.
Nick sprang auf und zog seine Werkzeuge hervor, welche er immer mit sich zu tragen pflegte.
Sein Vorhaben bestand nun in nichts anderem, als die hemmenden Eisenbande einfach durchzusägen und sich auf solche Weise Einlass in die Wohnung zu erzwingen. Doch er kam nicht zur Ausführung seiner Absicht.
Plötzlich hörten die Beamten einen Schuss fallen – ein zweiter und dritter folgte – es unterlag keinem Zweifel, dass die Schüsse vom Dach abgefeuert wurden.
»Da ist Teufelei im Spiel!«, schrie Nick Carter, zu dem Captain gewendet. »Bleiben Sie mit Ihren Leuten hier, und ich will auf das Dach eilen und mich überzeugen, was sich dort inzwischen ereignet hat!«
Damit eilte Nick, zwei seiner Revolver ziehend, ohne Verzug zum Dach.
Oben angelangt, sah er die ersten roten Tinten des kommenden Morgens am Wolkensaum. Graues Zwielicht verbreitete ungewisse Helligkeit auf den Dächern, und in diese hinein mischte sich der in Chicago so oft schon verhängnisvoll gewordene Sprühnebel vom See her.
»Wo bist du, Chick?«, rief der Detektiv, als er im ersten Augenblick seines Gehilfen nicht ansichtig werden konnte.
»Hier – hier …«
Die Stimme schien aus der Tiefe zu kommen. Als Nick nun näher hinschaute, sah er die beiden Stationsdetektive, welche sich mit Chick nach dem Dache begeben hatten, platt auf diesem liegend, während von Chick selbst nichts zu sehen war.
Die beiden Beamten blickten in die Tiefe und schienen mit ihren Revolvern jemanden in Schach zu halten.
Als Nick sich dem Dachrande näherte, da sah er, kaum dass sein Blick in die Tiefe des Lichtschachts gefallen war, eine Szene, wohl geeignet, selbst das Herzblut des mutigsten Mannes zum Stocken zu bringen.
Das Dach des Hinterhauses war einen vollen Stock tiefer und etwa so hoch wie die Fenster der von ihnen belagerten Wohnung. Das eine ihrer Fenster war geöffnet, und eine etwa zwanzig Fuß lange Eisenstange war quer über die Tiefe gelegt und mit der Spitze im Dache des gegenüberliegenden Hinterhauses verankert.
Über diesen künstlichen Steg nun hatten sich bereits zwei Männer gewagt; sie kauerten nun auf dem Dache drüben und wagten nicht zu fliehen, denn die Revolver der beiden Detektive hielten sie in Schach. Wahrscheinlich hatte Chick sich, auf seine turnerische Gewandtheit vertrauend, bis zu der Eisenstange niedergleiten lassen und war auf dieser vorangeklettert, um sich der beiden Flüchtlinge zu versichern.
Da war etwas Schreckliches geschehen. Der dritte Flüchtling war im selben Moment im offenen Fenster aufgetaucht, als Chick dessen Tiefe erreicht und sich nun angeschickt hatte, an der Eisenstange entlang turnend, das Dach des Hinterhauses zu erreichen.
Hinterrücks hatte jener Schurke nun Kopf und Hals des unglücklichen Chick gepackt und würgte diesen, dass ihm die Besinnung vergehen musste. Schon wollten seine Hände den Halt loslassen – nur noch Sekunden mochten vergehen, dann war sein Ende unausbleiblich, und er lag mit zerschmetterten Gliedern in der Tiefe.
Armer Chick! Dies schien wirklich seine Todesnacht werden zu sollen!
Die platt am Dachrande liegenden Detektive konnten nichts tun, denn sie sahen den Unglücklichen nur matt noch an der Stange hängend und die Würgerhände. Doch selbst auf diese konnten sie nicht schießen, ohne zugleich den Unglücklichen tödlich zu treffen.
Nicht den Bruchteil einer Sekunde stand Nick Carter untätig oder ungewiss, was er zu tun hatte. Nur von jenem anderen Dach aus konnte er dem Meuchelmörder ins Gesicht schauen und ihn treffen. Doch das Dach war volle fünfzehn Fuß entfernt, und im Abgrund dazwischen lauerte der Tod.
»Beschattet die beiden Galgenvögel drüben mit Euren Revolvern!«, befahl Nick Carter mit eherner Stimme. Dann, ehe einer wusste, was er vorhatte, nahm er einen mächtigen Anlauf – und mit einem gewaltigen Sprunge durchsegelte er die Luft, um in der nächsten Sekunde sicher auf der anderen Seite zu landen.
Wohl brach Nick in die Knie. Doch in derselben Sekunde war er schon wieder in die Höhe geschnellt und hatte sich gewendet. Sein Blick fiel auf das grässlich verzerrte Gesicht McCanns, welcher mit beiden Händen den Hals des unglücklichen Chick umkrallte, dem die Augen schon weit aus den Höhlen hervorquollen.
»Halt aus, Chick, halt aus!«, rief der Detektiv.
Im selben Moment blitzte auch schon der Revolver in seiner Rechten, und mit durchschossener Stirn fiel der Schurke hinterrücks ins Zimmer. Doch Nick Carter schenkte ihm keinen Blick. Schon hing er selbst an der Eisenstange und kam eben noch rechtzeitig genug, um den bewusstlos Gewordenen aufzufangen und mit starken Armen vor dem Sturze in den Abgrund zu bewahren.
Chick war gerettet und befand sich in der Minute darauf in der Wohnung der Verbrecher.
In dieser lagen zwei Tote – Plug McCann, welchen der Meisterdetektiv in berechtigter Notwehr hatte erschießen müssen, und die arme Frau Joes. Sie war von den Schurken ermordet worden und lag mit durchschnittener Kehle im Bett – ob als Mitwisserin oder aber um sich der längst Überdrüssigen zu entledigen und sie am Ausplaudern zu hindern, das blieb ewig unerforscht, denn die beiden gefangengenommenen Verbrecher schoben alles Verschulden auf ihren toten Kumpan.
Nachdem Joe und Haken-Max in das Zimmer, in welchem die Leichen lagen, zurückgeführt worden waren, veranstalteten die beiden New Yorker Detektive in Gemeinschaft mit ihren Chicagoer Kollegen eine eingehende Untersuchung jener Räumlichkeit, und es glückte ihnen, zwei der gestohlenen Leinwandbeutel, unter dem Fußboden versteckt, unversehrt vorzufinden. Der Inhalt des dritten kam aus den Taschen Joes zu Tage; es fehlten an dem ganzen Betrage nur ungefähr hundert Dollar, da die Diebe sich wohlweislich gehütet hatten, durch auffällige Geldausgaben den Verdacht der allzeit wachsamen Polizei auf sich zu lenken.
»Na, Haken-Max«, meinte Nick Carter schmunzelnd zu dem mit zusammengebissenen Zähnen vor ihm stehenden, wutbebenden Verbrecher, »die Vergnügungsreise nach Chicago ist schlecht für dich abgelaufen, nun kannst du dir dein ›hervorragendes‹ Riechorgan wieder in den vorigen Zustand zurückversetzen lassen.«
»Ich komme schon wieder aus dem Zuchthause heraus, Nick Carter«, zischte der Verbrecher mit einem tückischen Blicke, »vielleicht sprechen wir uns dann noch einmal unter vier Augen.«
»Gewiss, mein Lieber, es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen bereiten, deine werte Bekanntschaft wieder zu erneuern, doch dürften bis dahin immerhin ein paar Jährchen vergehen. Und nun wollen wir nach dem Stationshause aufbrechen«, wendete sich der Meisterdetektiv an den Captain. »Chick und ich werden uns liebevoll unseres gemeinschaftlichen Freundes Haken-Max annehmen, während Sie mit Ihren Leuten Joe transportieren. Ich rate zur äußersten Vorsicht. Wer weiß, ob die beiden Galgenvögel nicht unter den Bewohnern dieses Hauses eine Menge Verbündete haben, denen es, da sie sich in der Übermacht befinden, ein Leichtes sein würde, die Gefangenen unseren Händen zu entreißen. Doch ich denke, es wird nicht zum Äußersten kommen, ziehen Sie Ihren Revolver und gebrauchen Sie die Waffe beim ersten bedrohlichen Anzeichen!«
Damit stieß der Meisterdetektiv die Tür auf und blickte auf den Treppenflur hinaus.
Das Treppenhaus stand gedrängt voll Leute, welche mit feindseligen Blicken die kleine Gruppe von Beamten betrachteten, welche in ihrer Mitte die beiden gefesselten Gefangenen führten.
Es war ein kritischer Augenblick, und der Polizeicaptain schaute zweifelnd dem Meisterdetektiv ins Antlitz.
Doch dieser zuckte mit keiner Wimper! Den höhnisch dreinblickenden Haken-Max in Chicks Obhut lassend, trat er mit erhobenem Revolver entschlossen vor die Menge und sagte kaltblütig: »Ich gebe euch zwei Minuten Zeit, das Treppenhaus zu verlassen. Wer sich nach dieser Zeit noch auf den Stiegen befindet, setzt sich der Gefahr aus, von etwaigen herumfliegenden Revolverkugeln getroffen zu werden, da wir sofort das Feuer eröffnen, sobald jemand Miene macht, den Transport unserer Gefangenen zu verhindern.«
Ein unwilliges, drohendes Gemurmel wurde hörbar, und Haken-Max, dadurch ermutigt, hatte die Dreistigkeit, laut zu rufen: »Pards, verlasst uns nicht, wir teilen mit euch das …«
Weiter kam er nicht, denn Chicks wuchtige Faust sauste mit unglaublicher Geschwindigkeit auf das vorlaute Mundwerk des Verbrechers, und es war kein Wunder, dass dem biederen Haken-Max bei dieser Gelegenheit ein paar Zähne abhanden kamen.
»Wenn du dein ungewaschenes Maul noch einmal aufreißt, schlage ich dir deinen Judenzinken platt, dann kannst du dir meinetwegen eine Gumminase kaufen!«, sagte Chick drohend, den rabiaten Burschen fest am Kragen fassend.
Unterdessen war Nick einen Schritt vorgetreten und schaute mit verächtlichen Blicken auf das vor ihm befindliche Gesindel.
»Die ausbedungene Zeit ist abgelaufen!«, rief er mit eherner Stimme. »Ich gehe jetzt die Treppe hinab; der Erste, welcher sich mir in den Weg stellt, fällt von meiner Hand, so wahr ich Nick Carter heiße!«
Das wirkte. Die meisten der auf den Treppen Versammelten wichen langsam zurück. Die Hausbewohner stellten sich unter ihre Korridortüren, während die Neugierigen, welche von der Straße hereingekommen waren, sich nach den unteren Stockwerken zurückzogen.
Der große Detektiv winkte dem Captain, und der kleine Trupp bewegte sich die Treppen hinunter.
Da das Gebäude ein Eckhaus war, bildeten die Stufen ein Viereck, in der Mitte einen großen Raum freilassend, so dass man bis in den Keller hinabsehen konnte.
Als die Beamten sich im zweiten Stockwerk befanden, stieß Joe, welcher von den Stationsdetektiven eskortiert wurde, einen durchdringenden Schrei aus.
Unwillkürlich lenkten sich aller Augen auf den Rufer; dies benutzte Haken-Max und versuchte, sich von Chicks eisernem Griffe loszuschütteln, indem er sich immer mehr dem Geländer zu nähern bemühte.
Plötzlich gab der Verbrecher dem nichtsahnenden Chick einen derben Fußtritt gegen das Schienbein. Der junge Detektiv glitt nach vorwärts, verlor das Gleichgewicht, und in demselben Moment waren beide über das niedrige Treppengeländer gestürzt.
Ein Schreckensschrei ertönte aus aller Munde; jeden Augenblick erwarteten sie, den Verbrecher und den unglücklichen Detektiv auf dem Kellerflur aufschlagen zu sehen. Jedoch hatte Chick das Glück, beim Fallen das Geländer des ersten Stockwerkes zu fassen zu bekommen, während Haken-Max in den völlig dunklen Kellerflur hinabfiel.
Mit Riesensätzen stürmte Nick die Treppe hinunter und zog Chick über die Brüstung zu sich hinauf. Sein zweiter Blick galt dem Abgestürzten. Sich mit vorgehaltenem Revolver einen Weg durch die mittlerweile wieder angesammelte Menschenmenge bahnend, sprang er die Stufen hinab, bis er den Keller erreicht hatte. Mit einem gewaltigen Fußtritt trat er die verschlossene Kellertür ein und befand sich im nächsten Augenblick auf dem Grunde des Treppenschachtes, in der festen Überzeugung, Haken-Max entweder tot oder schwer verwundet hier vorzufinden.
Da der Meisterdetektiv kein Ächzen oder Stöhnen hörte, ließ er das Licht seiner elektrischen Taschenlaterne auf den Steinboden fallen und fand zu seinem unaussprechlichen Erstaunen, dass der Abgestürzte einfach verschwunden war.
Völlig verblüfft trat er näher und bemerkte, dass neben ihm eine Anzahl vollgestopfter Papier- und Lumpensäcke lagen. Ein Trödler mochte wohl hier seine Niederlage haben.
Jetzt ging Nick ein Licht auf! Haken-Max war unbeschädigt davongekommen und hatte sich, mit der Lokalität vertraut, schleunigst geflüchtet.
Ein Ruf des Detektivs nach oben brachte Chick sofort an seine Seite, und sie fanden bald einen Ausgang nach dem Hofe. Ohne Besinnen stürmten sie durch das Haus auf die Straße, um auf eine merkwürdige Gruppe zu stoßen. Haken-Max, den der Fall wohl immerhin gewaltig zusammengestaucht haben musste, saß auf dem Bürgersteig, von Ida und Patsy mit gezogenem Revolver bewacht!
»Donnerwetter, das nenne ich aber Glück«, rief Nick erfreut aus. »Kinder, wo kommt ihr eigentlich hergeschneit?«
»Ja, Meister, ohne Chicks Kreidemarken hätten wir nicht hier hergefunden«, erwiderte lachend Patsy, »und wir kamen gerade zur rechten Zeit, um den Gentleman mit der ramponierten Nase an der Flucht zu hindern.«
Unterdessen waren die Chicagoer Beamten mit ihrem Gefangenen aus dem Hause getreten, und der kleine Zug bewegte sich nun ungefährdet nach der Station, wo die beiden Verbrecher in sicheren Zellen untergebracht wurden.
Groß war das Erstaunen sowohl des Polizeichefs als auch des Präsidenten der Midland-National-Bank, als Nick Carter am Vormittag desselben Tages das geraubte Geld ablieferte, und der Polizeigewaltige gab mit einem gezwungenen Lächeln zu, dass Nick Carter und seine Leute ihm mit seinem ganzen Beamtenapparat überlegen waren.
Ende
Als Band 17 dieser Serie erscheint
Das Gefängnis auf dem Meeresgrund