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Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 7

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman

Im dunkelsten Chicago

Was den biederen Sam so ungemein verblüfft hatte, das erschien dem jungen Detektiv nunmehr ohne Weiteres klar. Er selbst hatte sich zum anderen Mal nicht den Fuchsaugen der beiden Rowdies zu entziehen vermocht! Sie hatten ihn in der Nische stehen sehen und nun den Jungen zu ihm geschickt, um ihn zu verhöhnen – vielleicht auch noch zu schlimmerem Zweck, falls er so töricht war, das ihm angebotene Stelldichein einzuhalten. Wessen die verzweifelten Kerle fähig waren, das hatten sie in verwichener Nacht deutlich genug bewiesen, und ohne seine geistesgegenwärtige Gewandtheit hätte der junge Detektiv vielleicht schon sein Leben eingebüßt.

Lautes Brüllen und Rufen unterbrach sein weiteres Nachdenken. Wie er aufschaute, um nach der Ursache des Straßenlärmes auszuspähen, gewahrte er, dass bei Petey’s wieder ein unliebsamer Gast an die Luft befördert wurde.

Mit scharfen Blicken vermochte Chick den weidlich verbläuten, laut schimpfenden und um sich schlagenden Kunden, der so unsanft an die frische Luft gesetzt wurde, zu erkennen – es war der würdige Mr. Sam Bulger!

Nun erst wurde Chick der innere Zusammenhang völlig klar. Seines berühmten Chefs größter Kollege, der Detektiv Zufall, hatte wieder einmal seines Amtes gewaltet. Chicks so häufig in New York benutzte Verkleidung, in welcher er als Schleich-Eddy erschien, glich aufs Haar dem wirklichen Äußeren Sams, und dieser war in den Augen Plugs darum schon von vornherein als unsicherer Kantonist erschienen und auch behandelt worden. Plug und Joe glaubten zu wissen, dass der wirkliche Sam zurzeit an einem ganz anderen Orte weilen musste und sie keinesfalls beschattet haben konnte; ganz richtig hatten sie erraten, dass ihnen in Sams Maske ein Detektiv gefolgt sein musste, und aus den von ihnen geführten Reden ging klar hervor, dass sie Nick Carter selbst im Verdacht hatten, sich in solcher Verkleidung auf ihre Fersen geheftet zu haben.

Sie hatten deshalb den Jungen nicht etwa zum wirklichen Sam geschickt, den sie ja auch ganz woanders vermuteten, sondern ihre Botschaft hatte dem verkleideten Detektiv gegolten – und da hatte nun ein freundlicher Zufall den wirklichen Sam sehr zur Unzeit des Weges dahergeführt.

Er war wahrscheinlich mit der Erledigung seines Auftrages früher fertig geworden und hatte sich beeilt, mit seinen Kumpanen bei Petey’s wieder zusammenzutreffen. Natürlich musste ihn die Übersendung des leeren Geldsackes verdrießen, war er doch abgebrannt und hatte vergeblich auf Teilung des Inhalts der geraubten Geldbeutel gedrungen.

Als er sich nun in hellem Zorn in den Keller begeben hatte, um seine beiden Genossen zur Rede zu stellen, hatte er sehr trübe Erfahrungen machen müssen; man hatte ihn wahrscheinlich gar nicht erst zu Wort kommen lassen, sondern ihn gleich angepackt, gehörig verprügelt und an die frische Luft gesetzt – alles in der irrigen Meinung, es handle sich um des braven Sams Doppelgänger.

Waren denn Joe und Plug im Lokal anwesend gewesen? Es war hell genug in diesem, sodass sie eigentlich ihren Irrtum hätten erkennen müssen, zumal ihr Kumpan doch andere Kleidung trug. Im selben Augenblick sollte der junge Detektiv indessen auch schon diese Frage beantwortet erhalten, denn seine Augen richteten sich auf zwei Gestalten, die auf der anderen Straßenseite von der entgegengesetzten Ecke hergekommen waren, nun stehen blieben und sich über die Lärmszene vor dem Biertunnel, dessen Hauptperson Mr. Sam Bulger bildete, vor Lachen ausschütten wollten.

Es waren Joe und Plug.

Natürlich hielten sie den wirklichen Sam für dessen Doppelgänger und freuten sich nun diebisch, dass dieser ihrer Meinung nach angemessen verprügelt worden war.

Längst hatte Chick erkannt, dass er sich in seiner gegenwärtigen Verkleidung nicht länger blicken lassen durfte; deshalb hatte er sie schleunig mit einer anderen vertauscht, welche ihm ein grundverschiedenes Aussehen verlieh.

Zuerst wollte es ihm seltsam erscheinen, dass die beiden Rowdies, die er selbst im Petey’schen Biertunnel hatte verschwinden sehen, nun in entgegengesetzter Richtung auftauchten; doch schnell entsann er sich der Andeutung des Jungen von einem Hinterausgang. Die Kumpane mochten über die Dächer oder auf sonst ungewöhnlichem Weg das nur mit einem Ausgang versehen Kellerlokal verlassen haben. Jedenfalls waren sie auf der Straße, beobachteten schadenfroh den stürmischen Auftritt und wendeten sich dann hastig ab, ehe sie von dem flüchtenden Sam gesehen werden konnten, um, gefolgt von Chick, die Straße hinunterzueilen.

Diesmal machten die beiden Verbrecher dem jungen Detektiv die Verfolgung ungleich leichter als am frühen Abend. Sie schienen sich keiner Befürchtung hinzugeben, wiederum beschattet werden zu können, sondern verfolgten ihren Weg, fast ohne sich umzuschauen.

Geschah dies hin und wieder doch, so entsprachen sie damit mehr einem Trieb langjähriger Gewohnheit, als dass sie durch wirklichen Verdacht hierzu veranlasst wurden.

Jedenfalls fiel es Chick leicht, den beiden nachzufolgen; dennoch aber unterließ er nichts an der gewohnten Vorsicht.

Die beiden Burschen eilten, wie Chick bald gewahrte, zu derselben Stadtgegend, welche der Junge dem vermeintlichen Doppelgänger des braven Sam als Treffpunkt angegeben hatte.

»Well, da bin ich nur gespannt, was sich daraus weiter entwickelt!«, brummte der Detektiv vor sich hin. »Trügt der Anschein nicht, so soll mir – oder höchstwahrscheinlich sogar dem Meister, denn die Kerle vermuteten Nick Carter selbst hinter der Verkleidung, ein Possen – vielleicht auch noch Schlimmeres – gespielt werden. Ich werde auf jeden Fall gut daran tun, den Schurken scharf auf die Finger zu sehen!«

Inzwischen hatten die beiden Verfolgten jene Straßenecke erreicht, an welcher etwa eine Stunde später – wie der geneigte Leser bereits weiß – Nick Carter die Ermordung seines Gehilfen Chick mit anschauen musste.

Chick durchschaute das Vorhaben der Kerle augenblicklich; sie legten sich zu irgendeinem Zweck in Hinterhalt, und zwar hatten sie diesen derart gewählt, dass jeder aus der inneren Stadt Kommende an ihnen vorübermusste, wollte er weiter dem Wasser zuschreiten.

Der junge Detektiv begriff alsbald, dass es für ihn nicht geraten war, sich noch länger auf der Straße zu zeigen, wollte er seine Gegenwart den beiden Verbrechern nicht zuletzt noch verraten.

Unmittelbar vor dem Torweg, in welchem sich die Burschen aufgestellt hatten, befand sich ein mit Kaffeeausschank verbundener Bäckerladen. Dieser war Tag und Nacht geöffnet, und in dessen breiten Schaufenstern brannten zwei Gasflammen, welche nicht nur die darin zur Schau gestellten Semmeln und Kuchen, sondern auch den Bürgersteig davor grell erleuchteten.

Chick wusste es einzurichten, dass er einen Schlupfwinkel an der ihm zunächst befindlichen Ladenseite gewann, während die beiden Strolche sich unterhalb des Ladens in den Hinterhalt gelegt hatten.

Da das Ladenfenster in hellem Glanz erstrahlte, so versanken die benachbarten Häuser umso mehr in tiefes Dunkel. Das hatte den Vorteil für Chick, dass er von seinem Versteck aus mit großer Genauigkeit alle Vorgänge auf der Straße beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Straße war nicht unbelebt, der vielen Kneipen wegen, welche trotz der frühen Morgenstunde immer noch, dem Gesetz entgegen, geöffnet waren. Polizisten ließen sich nicht sehen; sie mochten ihre guten Gründe dazu haben, sich nicht einzumischen, waren vielleicht auch von den Kaschemmenbesitzern bestochen worden. Doch auch die auf der Straße Auftauchenden hielten sich nicht lange auf, sondern gingen ihres Weges, um entweder in einer der Pennen zu verschwinden oder aber an dunklen Türen zu pochen, die auf geheimnisvolle Weise geöffnet wurden und in welchen dann die zumeist mit Packen Beladenen ebenso lautlos untertauchten.

Chick wusste natürlich, dass dies fast ausschließlich Schleichdiebe waren, welche den eben erst gemachten Raub schleunigst zu verschärfen suchten – und Hehler gab es in diesem verrufenen Stadtteil genug. Freilich musste man auf ganz besondere Weise anzuklopfen verstehen, wollte man Einlass gewinnen – doch der kleine hierzu notwendige Kunstgriff schien ausnahmslos allen der schleichenden Gestalten bekannt zu sein.

Auf der Straße war es still; denn obwohl die noch in den Kellerkneipen Befindlichen ziemlich zahlreich sein mussten, hörte man sie weder laut reden noch sonst wie lärmen.

Wohl eine Stunde verstrich, ohne dass Chick von den beiden Männern, die er bis in diese verrufene Stadtgegend verfolgt hatte, etwas zu hören oder gar zu sehen bekam. Sie mussten sich jedenfalls noch an ihrem Versteckort aufhalten, denn Chick wusste, dass sie unter der nachtsüber streng geschlossenen Zufahrt eines großen Speicher- und Speditionsgeschäftes kauerten, also sich unter keinen Umständen Eingang in das Gebäude selbst verschaffen konnten, wollten sie nicht bissigen Hunden und handfesten Wächtern geradewegs in die Arme laufen.

Schließlich näherten sich schwere Schritte. Ein Mann kam desselben Weges, welchen die von Chick Verfolgten eine Stunde zuvor zurückgelegt hatten. Er musste aufgeregt, vielleicht auch zornig sein, denn er brummte unverständlich vor sich hin.

Nun bog er um die Ecke, und Chick vermochte die leicht schwankende Gestalt deutlich zu erkennen.

Es war sein unfreiwilliger Doppelgänger Sam Bulger. Sein Ärger über den bei Petey’s erlebten Hinausschmiss schien sich nicht nur nicht gemindert, sondern ihn auch veranlasst zu haben, ganz gehörig über den Durst zu trinken, denn der Mann war ziemlich unsicher auf den Füßen und torkelte leicht.

»Verd… Pack!«, lallte er mit schwerer Zunge. »Was ist eigentlich los, eh? Wer … wer bin ich … was? Bin ich Eddy … oder bin ich Sam? Ich werde diesem Plug den Zimmet besorgen … mich zu verhauen… mich hinauszuwerfen aus Petey’s … wo ich Stammgast bin … mich nicht zu kennen … und … hup! … mich für Nick Carter zu halten … hup! … das ist eine Gemeinheit!«

Die Zunge des mit sich selbst Sprechenden war sehr widerspenstig und drohte immer von Neuem zu versagen. Darum vermochte Chick, obwohl der Mann inzwischen unmittelbar vor seinem Versteck stehengeblieben war, kaum ein Wort deutlich zu verstehen.

Offenbar hatte Sam einen ganz gehörigen Affen erwischt und kam nun hierher, um von seinen verbrecherischen Genossen Auskunft und Rechenschaft über ihr treuloses, verräterisches Betragen zu heischen.

Das kann gut werden!, dachte Chick mit innerlichem Frohlocken. Sam ist gerade in der richtigen Stimmung – er wird vielleicht mit seinen Kumpanen Streit anfangen, und bei dieser Gelegenheit dürfte sich vielleicht Überraschendes herausstellen!

Dies war nun der Fall, doch in einer ganz anderen und bei Weitem verhängnisvolleren Weise, als der junge Detektiv ahnen konnte.

Eine ganze Weile stand Sam, wie in tiefes Nachdenken versunken, im Schatten des hinter ihm ragenden Gebäudes, in dessen Tornische sich Chick verbarg. Doch nur einen Schritt weiter strahlte das grelle Licht aus dem erhellten Bäckerfenster.

»Wo sind nur – die Kerle – wo stecken die Brüder«, brummte Sam unverständlich von neuem.

Mit blöden Blicken versuchte er, um sich zu starren.

Dann setzte er sich schwerfällig in Bewegung – und im selben Moment kam seine breitschultrige Gestalt in den Lichtbereich des Schaufensters.

Genau im selben Augenblick machte Chick eine andere Wahrnehmung.

Sein Blick war auf einen neuen Ankömmling gefallen, welcher gerade um die Straßenecke bog und im Begriff war, dem Wasser zu weiterzuschreiten, als sein Blick den eben im Lichtbereich des Schaufenster stehende Sam streifte.

Ihn sehen und sich in das tiefste Dunkel des Eckgebäudes zurückziehen, war für den neuen Ankömmling das Werk eines Augenblicks.

»Es ist Nick!«, brummte Chick erfreut. »Ich lasse mich hängen, ist er es nicht!«

Doch er kam in seinem Nachdenken nicht weiter.

Ein plötzliches, grausiges Geschehnis trat ein, das seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Sam Bulger war inzwischen aus dem Lichtbereich des Schaufensters wieder verschwunden.

Kaum war dies geschehen, da wurde auch schon ein heftiges, lärmendes Geräusch laut, das sich anhörte, als ob sich unmittelbar hinter dem Bäckerladen im Dunkeln ein erbittertes Handgemenge entsponnen habe.

Was vorging, vermochte der junge Detektiv weniger zu sehen als zu erraten. Er begriff, dass die im Hinterhalt auf der Lauer Liegenden für den vermeintlich als Sam Bulger verkleideten Meisterdetektiv den rechtmäßigen Besitzer des Namens beim Wickel gefasst hatten, um nun ihr Mütchen an ihm zu kühlen.

Chick war darüber unschlüssig, was er tun sollte. Fast drängte es ihn, dem bedrohten Verbrecher zu Hilfe zu eilen; auf der anderen Seite sagte ihm sein Verstand wieder, dass er von Berufs wegen gar keine größere Dummheit begehen konnte.

Er hörte ein Krachen und Splittern, ein dumpfer Wehlaut folgte – und in derselben Sekunde taumelte Sam Bulger auch schon wieder in den Lichtbereich des Bäckerladens zurück, durchfocht mit beiden Armen die Luft, wie um sich festzuhalten – und dann brach er hart neben dem Rinnstein lautlos nieder und streckte sich im Tod.

»Sandsack – es ist Mord!«, schoss es Chick sofort durch den Sinn.

Nun blieb er erst recht im Dunkeln zurück; dies in der Annahme, der oder die Mörder würden zum Vorschein kommen. Sein Verstand sagte ihm, sich nicht in den Vorfall einzumischen. Da hatte ein Schurke den anderen abgetan; er selbst aber durfte nicht durch unzeitiges Eingreifen den fein eingefädelten Plan wieder zerstören.

Chick wäre indessen auch kaum zum Eingreifen bekommen, denn wie der geneigte Leser aus einem früheren Kapitel weiß, war in diesem Moment Nick Carter aus seinem Versteck hervorgeschnellt und hatte sich dem leblos ausgestreckten Körper genähert, um gleich darauf neben ihm niederzuknien.

Sofort begriff Chick, dass der Meister das Opfer einer Täuschung geworden war. Dieser kannte natürlich Chicks Verkleidung als Schleich-Eddy, war sie doch unter seinen Augen entworfen und ausgearbeitet worden – und er hatte nun angenommen, dass es sein Gehilfe Chick gewesen war, der von der Faust eines ruchlosen Banditen niedergeschlagen worden war.

Gewaltsam musste Chick sich zurückhalten, um nicht auf den Meister zuzueilen und ihm den wahren Sachverhalt darzulegen. Doch wiederum blieb sein Verstand im Kampf mit dem Herzen Sieger.

Er musste sich sagen, dass er nur im Einverständnis mit Nick selbst handelte, welcher die Erfüllung seiner Berufspflicht über alles stellte, wenn er nun keinen Auftritt herbeiführte, welcher den noch im Hinterhalt befindlichen Verbrechern notwendigerweise auch alles offenbaren und sie warnen musste.

Nein! So leid es ihm auch tat, seinen Vetter neben seiner vermeintlichen Leiche niederknien zu sehen – so gut es ihm auch tat, aus diesem elementaren Gefühlsausbruch des Meisterdetektivs erkennen zu dürfen, wie innig dieser an ihm hing – so durfte er sich durch keinerlei sentimentale Anwandlung hinreißen lassen, den ihnen zuteil gewordenen Auftrag zu vergessen und dessen erfolgreiche Durchführung etwa gar zu vereiteln.

So blieb Chick nach wie vor in seinem Versteck zurück, und er wandte all seine Aufmerksamkeit nicht etwa dem Meister zu, sondern hielt die Zufahrt des Speichers, in welcher die beiden Übeltäter nach wie vor versteckt sein mussten – offenbar zurückgehalten durch Nicks unvermutetes Auftauchen – scharf im Auge.

Nun, als schon die ersten Neugierigen herbeikamen und sich um das Opfer und den neben diesem auf den Knien liegenden Detektiv zu scharen begannen, sah Chick, wie sich aus dem Durchfahrtstor eine Gestalt löste. Sie glitt in den Lichtbereich des Bäckereifensters, und zu seinem gerechtfertigten Erstaunen musste Chick wahrnehmen, dass dieser Mann, der sich zweifellos in derselben Toreinfahrt aufgehalten hatte, in welcher die beiden Verbrecher verschwunden waren, mit keinem der beiden identisch war.

Merkwürdig! Der Mensch, der da ganz gelassen, die Hände in den Hosentaschen und mit der Miene eines neugierigen Gaffers, hinter den Meisterdetektiv getreten war, kam Chick ganz seltsam bekannt vor. Er hatte jenen zweifellos schon gesehen, und er war ebenso überzeugt davon, dass es sich um einen gefährlichen Verbrecher handelte; im Übrigen aber ließ sein Gedächtnis ihn im Stich, und er konnte beim besten Willen nicht sagen, wer der Mann war.

Was nun? War es der Mörder, der mit unbeschreiblichem Zynismus neben sein noch warmes Opfer getreten war – oder wer sonst?

Ferner, wie war er in jene Tornische, welche Chick nun schon seit mehr als einer Stunde bewachte und in welcher er Plug und Joe hatte verschwinden sehen, gelangt? Er musste sich schon zuvor darin aufgehalten haben, denn das dahinterliegende Tor war verschlossen. War dies aber der Fall, so hatte er sich mindestens eine Stunde lang in der Gesellschaft der beiden ebenfalls in die Nische getretenen Verbrecher dort aufgehalten.

Das tun keine einander fremden Menschen; es war vielmehr anzunehmen, dass der ihm Unbekannte von vornherein gewusst hatte, dass Joe und Plug gerade zu diesem Torweg kommen und unter ihm Aufstellung nehmen würden – mit anderen Worten, die beiden Rowdies waren seine Kumpane, und gleich diesen hatte er sicherlich seine Hand im Raub der Geldsäcke in der Michigan-Avenue im Spiel.

Dieser Gedankengang war beinahe für Chick entscheidend; doch immer noch zweifelte er an der Richtigkeit seiner Annahme, zumal Joe und Plug dauernd unsichtbar geblieben waren. Was war aus ihnen geworden? Sie waren doch in den verschlossenen Torweg getreten und mussten noch in ihm verweilen, denn im anderen Fall hätte der junge Detektiv das Opfer einer Sinnestäuschung geworden sein müssen – und dies war ganz und gar ausgeschlossen.

Immer mehr sammelte sich inzwischen die Zuschauermenge an, und schließlich kam, durch das Rufen und Schreien veranlasst, ein Policeman heran, welcher alsbald Nick Carter ins Verhör nahm und alsdann den sich Tom Blake nennenden Unbekannten ausfragte.

Staunend über die Unverfrorenheit des Mannes vernahm Chick die gegen den Meister gerichtete Anklage. Seine Aufmerksamkeit blieb indessen keine ungeteilte; denn kaum hatte sich die Neugier der Menge dem Verhör und den darin verstrickten Personen zugewendet, als aus der Nische des Lagerhauses zwei weitere Personen auftauchten und sich ganz unauffällig unter den Kreis gaffender Bummler mischten.

Es waren Joe und Plug; ja, der Letztere hielt, wie Chick ganz deutlich zu bemerkten glaubte, die Hände auf dem Rücken und ließ, immer von des jungen Detektivs Blick verfolgt, bald darauf etwas aus den Händen fallen – es war, wie sich bald darauf ergab, der zur Begehung der Tat benutzte Totschläger.

Natürlich durchschaute Chick das teuflische Spiel der Schurken voll und ganz.

Sie hatten geglaubt und glaubten es auch noch jetzt, Nick Carter selbst in eine Falle gelockt und ihn durch Mord beseitigt zu haben; keine Ahnung sagte ihnen, dass sie ihren unglücklichen Gefährten erschlagen hatten.

Dieser Glaube musste ihnen, vorläufig wenigstens, erhalten bleiben – das war ungeheuer wichtig!

Aus diesem Grund dachte Chick nach wie vor an keinerlei Einmischung, sondern ließ es mit einem halben Lächeln anstandslos geschehen, dass der Meisterdetektiv gefesselt zur nächsten Polizeistation abgeführt wurde.

Was verschlug es denn auch! Nick Carter brauchte sich nur zu erkennen zu geben, und der gegen ihn gerichtete Spieß kehrte sich augenblicklich nach einem Ankläger um.

Was Chick bedeutend mehr beschäftigte, war eine von ihm notgedrungen sofort zu treffende Entscheidung, von welcher voraussichtlich viel, wenn nicht alles abhing.

Welchem von den drei Burschen sollte er folgen? Joe, Plug – oder dem ihm so merkwürdig bekannt vorkommenden Unbekannten?

Doch seine Ungewissheit wurde auf keine lange Probe gestellt, denn soeben tauchten die übrigen Polizisten auf, und nach kurzen Worten ordnete sich der Zug, um zum Stationshaus in Begleitung der so überaus zahlreichen Ehreneskorte zu marschieren.

Das Durcheinander war unbeschreiblich. Da der angebliche Tom Blake zwischen zwei Policemen einherschritt, so brauchte ihm Chick vorläufig keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken, sondern konnte sich darauf beschränken, Joe und Plug eingehend zu beobachten.

Wie er zu seiner äußersten Befriedigung alsbald wahrnahm, befanden sich die beiden Kerle mitten unter der Zuschauermenge und marschierten in ihr hinter dem Zug mit dem Verhafteten und den beiden gleichfalls festgenommenen Zeugen dem nahen Stationsgebäude zu.

Dort angekommen, befanden sich Joe und Plug unter den Ersten, welche mit in das Innere des Stationshauses eindrangen, und natürlich war Chick dicht hinter ihnen.

Auf diese Weise vermochte der junge Detektiv der ganzen Verhandlung vor dem diensthabenden Sergeanten mühelos zu folgen.

Jedoch durfte er es nicht wagen, sich dem Meister zu nähern oder diesem irgendein Zeichen zu geben.

Er verhielt sich vielmehr vollständig ruhig und beschränkte sich auf eine eingehende Beobachtung der drei verdächtigen Personen.

Dann kam der Captain des Bezirks dazwischen, und Nick Carter wurde auf dessen Veranlassung zum Privatzimmer geführt, um dort durchsucht zu werden.

Natürlich erstreckte sich die allgemeine Aufmerksamkeit der anwesenden Menge auf die beiden Polizisten, die den Gefangenen nach dem Privatoffice des Captains führten, und die Hälse wurden noch länger gereckt, als der Captain den Schutzleuten andeutete, vor der Tür stehenzubleiben, während er sich mit dem angeklagten Mörder in seinem Privatzimmer einschloss.

Was konnte das zu bedeuten haben?

Die allgemeine Unruhe, welche von den Beamten geteilt wurde, denn selbst der Sergeant verließ sein Pult und versuchte von seinen Untergebenen nähere Auskunft zu erlangen, wuchs zusehends.

Keiner mehr hatte ein Auge auf die beiden Zeugen.

Der Mann, welcher das Mordinstrument aufgefunden hatte, war offenbar völlig unbeteiligt und wurde deshalb auch von Chick keiner Aufmerksamkeit gewürdigt.

Umso schärfer beobachtete der junge Detektiv dagegen den angeblichen Tom Blake, an den in diesen Augenblicken ansteigender Erregung ebenfalls niemand dachte.

Es entging Chick nicht, wie der ihm so merkwürdig bekannt vorkommende Unbekannte sich mit ganz unmerklichen Schritten von der Barriere und dem dahinter befindlichen Sergeantenpult zu entfernen trachtete.

Niemand nahm davon Notiz, und dadurch mutiger gemacht, vergrößerte der Mann seine Schritte und stand bald mitten in der Menge, welche immer noch nach der verschlossenen Zugangstür zum Privatzimmer des Captains starrte, als ob es dort etwas ganz Besonderes zu sehen gäbe.

Nun war der Unbekannte dicht bei den beiden Kumpanen Joe und Plug: »In einer Stunde bei meiner Frau … teilen und verschwinden!«

Der angebliche Tom Blake nickte nur unmerklich; man musste ihm schon gerade in die Augen hineinsehen können, wie Chick dies zu tun vermochte, um ein solches Nicken überhaupt wahrnehmen zu können.

In der Sekunde darauf hatte der falsche Ankläger, ohne dass außer seinen beiden Kumpanen auch nur ein einziger der Anwesenden irgendetwas davon wahrgenommen hatte, dem Inneren der Polizeistation Lebewohl gesagt – offenbar mit dem Ziel, freiwillig nicht wieder zu dieser zurückzukehren.

Chick dachte keinen Moment daran, ihm zu folgen. Die wenigen Worte Joes hatten ihn hinlänglich darüber aufgeklärt, dass die drei Männer sich nach kurzem Verweilen wieder zusammenfinden würden.

Ihm lag ungleich mehr daran, die weitere Abwicklung im Stationshaus und vor allem das Verhalten Joes und seines Freundes Plug zu studieren.

Augenscheinlich waren die beiden Kumpane nur im Stationshaus geblieben, um ebenfalls die weitere Wendung der Dinge aus eigener Wahrnehmung beobachten zu können.

Chick konnte sich natürlich vorstellen, wie es weitergehen würde, und nach kurzem Nachdenken beschloss er darum, das Polizeigebäude unbemerkt zu verlassen und auf der Straße draußen von Neuem eine Umwandlung seines Äußeren vorzunehmen.

Kaum war Chick auf der Straße angekommen, als er auch schon zu einem Torwinkel in der Nähe eilte, von welchem aus er den Stationszugang deutlich überblicken konnte. Dann machte er sich schleunig zurecht, und als dies geschehen war, riss er ein Blatt aus seinem Taschenbuch und schrie einige Worte auf dieses.

Dann wartete er gelassen, bis der von ihm vermutete Lärm im Stationsinneren losbrach, denn natürlich würde man das Verschwinden des angeblichen Tom Blake wahrnehmen und das Unterste zuoberst kehren, um sich des so wertvollen Belastungszeugen wieder zu versichern.

Chicks Annahme erfüllte sich programmgemäß.

Lautes Rufen und immer stärker anschwellendes Stimmengewirr erfüllte plötzlich die sonst so feierlich stillen Hallen der heiligen Hermandad.

Nach allen Richtungen stürmten Polizisten, plötzlich unter dem Stationstor auftauchend, um dem entweichenden Zeugen nachzulaufen.

Chick fasste einen der dicht an ihm vorübereilenden Beamten beim Arm und hielt ihn trotz seines Sträubens fest.

»Sind Sie toll oder betrunken, Mensch?«, schnauzte ihn der Policeman wütend an. »Wie dürfen Sie mich festhalten – ich bin im Dienst, und …«

»Ich auch!«, unterbrach ihn Chick. »Ich bin Nick Carters erster Gehilfe …«

»Des ermordeten Detektivs aus New York …«, stammelte der Schutzmann.

»Einerlei, ob er ermordet ist oder nicht – hier sehen Sie mein Amtszeichen, und hier ist eine Karte Ihres Polizeichefs, wonach sich alle hiesigen Beamten der städtischen Polizei mir auf Verlangen zur Verfügung zu stellen haben!«

Sein scharfer Ton und das Vorweisen der Karte beschwichtigten den Policeman, und er nahm die Weisung, Auskunft zu erteilen, nun williger entgegen.

»Befindet sich der Gefangene noch immer im Privatzimmer des Captains?«, fragte Chick.

»Gewiss!«

»Dann übergeben Sie demselben hier diesen Zettel – aber augenblicklich, und teilen Sie ihm mit, der Inhalt sei für den Gefangenen bestimmt …«

»Aber …«

»Keine Widerrede, denn ich weiß, was ich tue!«, unterbrach ihn Chick mit einer abweisenden Handbewegung, welche den Policeman schleunig verstummen ließ.

»Kein Mensch außer Ihrem Captain darf von meinem Auftrag erfahren – und ich mache Sie für die pünktliche Erfüllung persönlich verantwortlich!«

Der Polizist kam nicht dazu, noch eine Frage zu stellen, denn Chick wandte ihm bereits den Rücken zu.

Er gewahrte, wie der Sergeant in eigener Person die Menge Neugieriger aus der Innenhalle trieb.

Unter dem lachenden und schimpfenden Publikum befanden sich auch Joe und Plug.

Im allgemeinen Gedränge fiel es Chick leicht, den beiden Burschen unbemerkt zu folgen, und natürlich nahm er seinen Vorteil wahr.

Schon die nächste Sekunde sah ihn in abermaliger Verfolgung der beiden Verbrecher begriffen.