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Nordische Mythologie – Teil 1

Nordische Mythologie
Bestehend aus den wichtigsten Volkstraditionen und dem Aberglauben Skandinaviens, Norddeutschlands und der Niederlande
Zusammengestellt aus Originalen und anderen Quellen von Benjamin Thorpe, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München
Band 1
Nordische Mythologie

Vorwort

Die nordische Literatur, insbesondere jener Zweig, der sich mit den frühen Zeiten und Altertümern Skandinaviens und Norddeutschlands befasst, hat in letzter Zeit in vielen Teilen Europas zunehmendes Interesse geweckt. Es erschien mir daher nicht unvernünftig, dass ein Werk, das umfassend und doch nicht zu ausführlich die alte Mythologie und die wichtigsten mythologischen Überlieferungen dieser Länder darstellt, sowohl für den Liebhaber nordischer Überlieferungen zu Hause als auch für den englischen Reisenden in diesen faszinierenden Regionen nützlich und unterhaltsam sein könnte. Auch dem englischen Altertumsforscher dürfte es von Interesse sein, da eine enge Verbindung zwischen dem Heidentum der germanischen Völker des Kontinents und dem ihrer eigenen sächsischen Vorfahren besteht, von der sich deutliche Spuren in den Werken unserer frühesten Chronisten und Dichter finden. Unter diesem Eindruck wurde das vorliegende Werk verfasst.

Der erste Teil, rein mythologisch, war ursprünglich als eine bloße Übersetzung der Asalaere von Professor N. M. Petersen aus Kopenhagen gedacht. Doch als ich die verschiedenen Mythen, wie sie in diesem Werk präsentiert werden, mit dem Text der beiden Eddas verglich, stellte ich fest, dass die von Professor Petersen eingehaltene Kürze, die er zweifellos für seine Zwecke notwendig erachtete, nicht selten das Interesse der Erzählung beeinträchtigte. Daher beschloss ich, während ich dem Plan der Asalaere folgte, auf die Eddas selbst zurückzugreifen und die einzelnen Fabeln oder Mythen ungekürzt und in voller Form darzustellen, wie sie in diesen Quellen erscheinen.

Die Interpretation dieser Mythen, die den zweiten Teil des ersten Bandes bildet, stammt mit wenigen Ausnahmen aus dem Werk von Professor Petersen, ist jedoch erheblich gekürzt, insbesondere in Bezug auf den etymologischen Teil, der, wenn vollständig wiedergegeben, die Mehrheit der Leser in diesem Land wahrscheinlich ermüdet hätte, umso mehr, als vieles davon zwangsläufig auf Vermutungen beruht. Diese Reduktion ausgenommen, wurden Professor Petersens Illustrationen, wie sie in der Asalaere und in seinem jüngeren wertvollen Werk zu demselben Thema enthalten sind, im Allgemeinen übernommen, da sie zumindest meiner Meinung nach eher wahrscheinlich erscheinen als alle anderen, die mir bekannt sind. Diese neigen jedoch möglicherweise zu sehr zur mythischen Theorie, von der ich bereits meine Ablehnung angedeutet habe. Ein kleines, aber wertvolles Werk von Professor Keyser aus Christiania wurde ebenfalls häufig und nicht ohne Nutzen konsultiert.

Dass viele der nordischen Mythen dennoch äußerst unklar sind, ist eine bedauerliche Tatsache. Sie waren wahrscheinlich nicht viel weniger unverständlich für die nordischen Heiden selbst, deren Vorfahren, so wird vernünftigerweise angenommen, keinen großen Vorrat an verborgenem Wissen aus den Bergen Zentralasiens in ihre heutigen Siedlungen in Skandinavien mitbrachten. Ein Teil ihrer Dunkelheit kann jedoch vielleicht der Form zugeschrieben werden, in der sie erhalten wurden. Selbst in der ältesten Quelle, Stemunds Edda, erscheinen sie in einem Gewand, das Raum für die Vermutung bietet, dass die Integrität des Mythos gelegentlich der Struktur und dem Finish des Gedichts geopfert wurde. In der späteren Edda von Snorri ist ihre Verderbtheit in mehreren Fällen auffällig offensichtlich, da einige von ihnen dort in einer Gestalt erscheinen, die dicht an das Lächerliche grenzt, ein Umstand, der zumindest teilweise der Eifer und dem Scharfsinn der christlichen Missionare und frühen Bekehrten zuzuschreiben ist, die nicht unklug Spott als eine der wirksamsten Methoden betrachteten, um das Heidentum auszurotten, das noch unter der großen Masse des Volkes nachwirkte.

Die Mythen des Odinsglaubens waren dazu bestimmt, eine noch größere Entwertung zu erfahren; ihre nächste und endgültige Herabsetzung erfolgte in Form einer mittelalterlichen Fiktion oder eines Kindermärchens, in dem sie in ihrer neuen Gestalt kaum wiederzuerkennen sind. Einige Beispiele solcher Metamorphosen finden sich im Laufe des Werkes, und weitere sind in den volkstümlichen Erzählungen von Skandinavien, Deutschland, den Niederlanden und Italien zu finden.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche Traditionen und Aberglauben, die offenbar von gleicher, wenn nicht sogar höherer Altertümlichkeit sind, und die nicht mit dem, was wir über den Odinsglauben wissen, in Verbindung gebracht werden können. Es kann vernünftigerweise vermutet werden, dass es sich hierbei um Überbleibsel der Mythologie der Finnen und anderer Urbevölkerungen Skandinaviens handelt, die von Odin und seinen Anhängern nordwärts oder in die Gebirgsschluchten vertrieben wurden. In diesen und ihren Nachkommen sollen wir die Riesen (Jötnar, Jætter, Jutuler, etc.), die Zwerge und die Elfen sehen, mit denen der spätere Aberglaube die Wälder, die Hügel, die Flüsse und die Berghöhlen des Nordens bevölkerte.

Bisher habe ich ausschließlich über die Mythologie und frühen Traditionen der drei nordischen Königreiche gesprochen, und ursprünglich beabsichtigte ich, das Werk damit abzuschließen. Doch auf Anregung einer Person, deren Urteil ich hoch schätze, wurde ich dazu bewogen, meine Arbeiten fortzusetzen, indem ich eine Auswahl der bedeutendsten späteren Volksüberlieferungen und Aberglauben von Skandinavien, Norddeutschland und den Niederlanden hinzufügte. So präsentiere ich dem Leser eine Sicht auf die germanische Mythologie und den Volksglauben von Nordnorwegen bis nach Belgien und von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart. Für viele – sollte mein Buch, anders als seine Vorgänger, glücklicherweise in die Hände vieler fallen – wird dies vielleicht als besonders interessanter Teil angesehen, da es Stoff für Vergleiche mit den Volksaberglauben und Bräuchen unseres eigenen Landes liefert, zu denen nicht wenige der hier aufgezeichneten eng korrespondieren werden.

Für den Ethnografen kann das Thema nicht ohne Interesse sein, wenn selbst der allgemein interessierte Leser nicht umhin kommt, von der starken Ähnlichkeit und oft perfekten Identität der in weit voneinander entfernten Ländern und ohne bekannte Verbindung verbreiteten Traditionen und Aberglauben beeindruckt zu sein. Dass viele der Traditionen und Aberglauben Englands und Schottlands ihre Pendants in Skandinavien und dem Norden Deutschlands haben, lässt sich leicht durch die ursprüngliche Identität und den nachfolgenden Austausch als Freunde oder Feinde zwischen den verschiedenen Nationen erklären; aber wenn wir eine Tradition im hohen Norden und eine ähnliche nicht nur im Süden Deutschlands, sondern auch im Süden Frankreichs und sogar in Neapel antreffen, nach welcher Theorie der Völkerwanderung sollen wir das Phänomen erklären? Eine Schlussfolgerung kann jedoch mit einiger Gewissheit gezogen werden, nämlich das hohe Alter vieler dieser Legenden, von denen einige tatsächlich auf hebräische und hinduistische Quellen zurückgeführt werden können.

Aus der Vielzahl von Traditionen, die in den an ihren jeweiligen Stellen angeführten Werken enthalten sind, habe ich hauptsächlich diejenigen ausgewählt, die aus der alten Mythologie oder zumindest aus einer alten Mythologie zu stammen scheinen. Denn viele der übernatürlichen Wesen, von denen wir in den Traditionen selbst der drei nordischen Königreiche lesen, sind im Odinschen System nicht zu finden und hatten vermutlich niemals darin einen Platz. Vielmehr waren sie wohl die Gottheiten jener früheren Völker, die, so lässt es sich annehmen, durch Heiraten mit ihren gotischen Eroberern und eine allmähliche Rückkehr in ihre angestammte Heimat erheblich dazu beigetragen haben, die große Masse des Volkes zu formen. Daher die Einführung und Übernahme dieser fremden Objekte der Verehrung oder des Schreckens durch die spätere Bevölkerung.

Um die Nutzung der Nordischen Mythologie dem allgemeinen Leser so weit wie möglich zu erleichtern, werden die aus den Eddas und Sagas zitierten Passagen wörtlich übersetzt. Bei den poetischen Auszügen sind die Übersetzungen alliterativ, in bescheidener Nachahmung der Originale.

In Bezug auf die in der Mythologie angewandte Orthografie sei angemerkt, dass bei den am häufigsten vorkommenden Eigennamen die altnordische Endung r (n) des Nominativs Maskulinum (manchmal auch Femininum) in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Brauch meist weggelassen wird; und d wird in der Regel anstelle des alten Þ und ð (th, dh) geschrieben: so etwa Frey statt Freyr, Odin statt Óðinn, Brynhild statt Brynhildr. Das schwedische (früher auch dänische) å und sein dänisches Äquivalent aa werden wie das a in warm oder oa in broad ausgesprochen. Die Aussprache ähnelt der deutschen, wobei j wie das englische y und g vor i und e stets hart ausgesprochen wird, wie in give, get und anderen englischen Wörtern angelsächsischen Ursprungs.

B.T.

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