Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 2. Teil
Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901
Was sich Richard gewünscht hatte
Tag und Nacht entstehen durch die Drehung der Erde um sich selbst, der Wechsel der Jahreszeiten aber wird durch die Drehung der Erde um die Sonne verursacht. Dabei bleibt sich die Erdachse auf der elliptischen Laufbahn um die Sonne immer parallel. Diese Achse der Erde geht durch den Nordpol und durch den Südpol.
Nun hatte Richard gewünscht, dass sich die Achse der Rotation um neunzig Grad verschöbe, dass also die neuen Pole auf den bisherigen Äquator zu liegen kämen.
Die Insel Singapore wird von dem Äquator durchschnitten. Denkt man sich von ihr aus eine Linie durch das Zentrum der Erde gezogen, so stößt man gerade auf die Stadt Quito in dem südamerikanischen Staat Ekuador. Diese beiden Punkte hatte Richard als die neuen Pole der Erdachse bestimmt.
Macht man sich dies auf einem Globus klar, so wird man finden, dass der dadurch entstandene neue Äquator durch Deutschland geht, und zwar genau über Leipzig. Dies hatte Richard gewollt. An einem eiskalten Januartag sollte seine Vaterstadt durch einen Rutsch der Erdachse plötzlich direkt auf dem Äquator liegen.
Die plötzliche Wärme und das Schmelzen des Schnees konnte er sich also wohl erklären, nicht aber das Umfallen von allem Lebendigen.
In der Totenstadt
Er hatte den Fuß der Turmtreppe noch nicht erreicht, als er schon auf eine Leiche stieß. Es war diejenige des Türmers, eines alten Mannes, der allein hier oben gehaust hatte.
Als Richard aus der Tür auf die Straße trat, kam ihm vollends die Überzeugung, dass alles Lebende vernichtet worden war. Menschen, Pferde, Hunde, Tauben, Sperlinge – alles lag tot da; sie konnten nicht gelitten haben, die Gesichter der Menschen zeigten wohl Angst, aber keine Leiden.
Doch nein, nicht alles war tot. Von einem Dach flatterte eine Schar Tauben herab und ließ sich zwischen den Leichen nieder. Wie waren diese dem Tod entronnen?
Dass eine Erdrevolution stattgefunden hatte, wie er es sich früher manchmal in Gedanken gewünscht hatte, dass er sich nun plötzlich auf dem Äquator befand, dessen war Richard sich sofort bewusst gewesen, ohne sich darüber näher Rechenschaft geben zu können. Nun überlegte er nur, wie er selbst und diese Tauben noch zu leben vermochten, während alle anderen Menschen und Tiere doch verendet waren. Endlich fand er eine Erklärung. Die veränderte Erdumdrehung mochte doch nicht so ganz ohne alle Folgen geblieben sein. Vielleicht waren irgendwo anders vulkanische Ausbrüche erfolgt und der Erde giftige Gase entströmt, die, schwerer als die Luft, dicht über den Boden hinstrichen und in einem Augenblick alles darauf Lebende vergifteten, sodass nur noch die hoch über ihrem Bereich befindlichen Wesen, wie zum Beispiel einzelne Vögel und er selbst, von dem Untergang verschont geblieben waren.
Die Äquatorregion machte sich immer mehr bemerkbar. Die mächtigen Schneehaufen schmolzen zusehends zusammen, die Schleusen konnten das Wasser nicht mehr schlucken, Bäche ergossen sich durch die Straßen, den Flüssen und tief gelegenen Teichen zu, deren Eis schon Hand hoch mit Wasser bedeckt war.
Richard warf Mantel und Jacke weg und hielt weitere Umschau in seiner Vaterstadt. Alles war tot, alles gehörte ihm! In den Geschäften lagen die Verkäufer tot hinter den Ladentischen, in den Restaurationen Wirt und Kellner tot neben den Gästen.
Er gelangte auf den Bahnhof. Auch dort war alles gestorben. Die Uhr ging noch, der Fahrplan sagte ihm, dass gleich ein Zug einfahren müsste; aber es kam kein Zug, und niemals mehr konnte man auf die Ankunft eines solchen rechnen.
Dann fiel ihm ein, sich einmal in einem Haus umzusehen. Er betrat also das höchste in dieser Stadt gelegene fünfstöckige Gebäude, auf dessen Dach sich außerdem noch eine Mansarde befand. In der zweiten Etage lag ein Dienstmädchen; es hatte die Treppe gekehrt und die Vorsaaltür offen gelassen. Richard sah, dass die ganze Familie und auch die Katze den giftigen Gasen erlegen waren.
Er stieg noch höher, bis in die Mansarde hinauf. Auch hier war die Vorsaaltür geöffnet. In dem Wohnzimmer saßen ein Mann und eine Frau, die den Kopf auf den Tisch gelegt hatten.
Es musste ein Schuhmacher sein, der hier zu Hause arbeitete; das Ehepaar hatte sich eben zum Frühstück hingesetzt; Brot, Butter, Käse und eine Schnapsflasche standen noch auf dem Tisch, als sie der Tod überraschte.
Schon wollte Richard wieder gehen, als er ein Röcheln vernahm. Die Frau bewegte sich! Er holte Wasser und rieb ihre Schläfe; sie kam zu sich, und dann auch der Mann. Das giftige Gas hatte hier oben nur noch eine schwache Wirkung gehabt.
Verstört vernahmen sie Richards Bericht. Sie vermochten ihm nicht eher zu glauben, als bis sie aus dem Fenster geblickt hatten. Dann gingen sie mit ihm auf die Straße hinab.