Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer Band 1 – Teil 8
Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer
Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von Robert Kraft
Band 1
Kapitel 2, Teil 3
Zahllos sind die Anekdoten, welche in England über diesen Mann zirkulieren, so zum Beispiel, wie einmal in seiner Villa eingebrochen wurde, und wie am anderen Tag der Einbrecher zu ihm kam, um ihm persönlich den Raub zurückzubringen und ihn um Entschuldigung zu bitten, er habe nicht gewusst, dass diese Villa dem Freund der Verbrecher gehöre, und wie Sir Clane im Jahre 1887 starb, da sah man ein Begräbnis, wie es die Welt noch nicht erlebt hatte. Ehemalige Sträflinge und die Frauen und Kinder von Zuchthäuslern folgten seinem Sarg und weinten an seinem Grab, schmückten es mit Blumen, und in den Verbrecherspelunken von Whitechapel wurden Gedächtnisfeiern abgehalten, aber keine Orgien, sondern Andachten.
Für solch einen Mann verzeiht der Leser wohl diese kleine Abschweifung.
Er also übernahm die Verteidigung des jungen Japaners aus freien Stücken. Als Thema für dieselbe hatte er das vierte Gebot gewählt. Es war ein gewagtes Unternehmen. Der Angeklagte sei ein gehorsamer Sohn, der seinen Vater ehre, und er gehöre einer fremden Nation, einer fremden Rasse an, in deren religiöse Ansichten wir Europäer uns gar nicht hineindenken könnten, jener aber sei nach japanischen Begriffen ein frommer, gerechter Mann, das müsse man bedenken, und wenn seine Tat für uns nicht völlig entschuldbar sei, so müsse man ihm doch die weitestgehenden mildernden Umstände zubilligen. Er habe Loftus Deacon ja nicht ermorden, sondern habe ihm das Schwert seiner Väter abkaufen wollen, hätte jedenfalls alles, was er besaß, dafür geopfert, und Loftus Deacon Hütte seinen Tod durch engherzigen Starrsinn selbst verschuldet.
Wie gesagt, es war ein starkes Stück, hier das vierte Gebot anzuwenden, und vielleicht mehr noch, den Ermordeten, einen christlichen Engländer, gegen den Mörder, einen heidnischen Japaner, als den eigentlichen Schuldigen hinzustellen. Das hätte kein anderer Verteidiger tun dürfen, das wäre ihm schlecht bekommen. Aber Sir Edward Clane durfte es wagen, und wieder wusste dieser Mann zu sprechen, dass auf den Galerien kein Auge trocken blieb, wenigstens kein Frauenauge, und wenn es nach diesen leicht zu bewegenden Frauenherzen gegangen wäre, so wäre Keigo Kiyotaki augenblicklich freigesprochen und als Muster eines gehorsamen Sohnes unter die Heiligen versetzt worden.
Es gab aber Männer unter den Richtern, welche sich nicht so leicht durch Worte beeinflussen ließen. Nein, diesmal würde es dem Verteidiger schwerlich gelingen, den Angeklagten vor dem Tod durch den Strang zu retten, und Sir Clane hatte, wie er vertrauten Freunden offenbarte, selbst wenig Hoffnung. Die größte Schwierigkeit dabei bereitete ihm, der natürlich nicht nur ein Prediger, sondern auch ein ausgezeichneter Jurist war, das Verhalten seines Klienten, welcher auch seinem Verteidiger gegenüber sein absolutes Schweigen durchaus nicht brechen wollte.
*
Wir versetzen uns in das bescheidene Empfangszimmer der Villa des Sir Edward Clane – wenigstens bescheiden eingerichtet für einen Mann, der so große Einkünfte bezog. Denn wenn er es konnte, dann ließ sich dieser Rechtsanwalt sehr gut für seine Verteidigung bezahlen, aber nicht für sich, sondern er übergab alles einer Arbeitsanstalt für entlassene Sträflinge. Er selbst war völlig anspruchslos, hatte in seinem Beruf nicht einmal Zeit zum Heiraten gehabt. Eine alte Köchin und ein Diener genügten ihm, und die große Villa hatte er nur wegen seiner reichen Büchersammlung nötig.
Fred M. Beken, Philadelphia stand auf der Visitenkarte, welche der Gentleman abgegeben hatte, der in einer Vormittagsstunde in diesem Empfangszimmer auf die Rückkehr des Dieners oder auf den Eintritt des Hausherrn wartete.
Es war ein schon alter Herr, das glatt rasierte Gesicht voller Falten. Das stark hervortretende Kinn und die eckigen Züge charakterisierten ihn unverkennbar als echten Yankee. Der Diener hatte das auch sofort aus den Nasallauten seines englischen Dialektes herausgehört.
Kalt und starr blickte das kluge Auge, aber seltsam war es, wie sofort, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, diese selben sonst so starren Blicke blitzschnell durch das ganze Zimmer wanderten. Es war, als wollten sie jeden Gegenstand umfassen und seine Form unauslöschlich dem Gedächtnis einprägen.
Noch seltsamer war, was der Herr in der nächsten Minute tat.
Als die Musterung des Zimmers beendet wurde, warf er noch einen Blick zur Tür, hinter welcher der anmeldende Diener verschwunden war, beugte wie lauschend den Oberkörper vor, trat dann schnell vor einen Wandspiegel, nahm den goldenen Klemmer ab, legte beide Handflächen auf sein Gesicht. Es sah aus, als wolle er die Falten glätten, nahm die Hände weg – und wirklich, der Spiegel zeigte ihm das faltenlose Antlitz eines noch jungen Mannes, welches mit dem vorigen auch nicht die geringste Ähnlichkeit mehr besaß. Doch es war nur wie ein Phantom. Mit den Fingerspitzen tupfte und zog er im Gesicht herum, die hervorgebrachten Falten blieben stehen, er drückte mit der Hand sein Kinn hervor, und es war, als ob dieses aus Gummi oder, besser noch, aus Wachs gewesen wäre, denn es verharrte ebenfalls in seiner Lage, nun die Nase noch etwas zugequetscht und wie der Diener wieder hereintrat, sah er ganz genau denselben alten Herrn mit dem charakteristischen Yankeegesicht.
»Sir Clane ist sehr stark beschäftigt und lässt erst um Angabe bitten, in welcher Angelegenheit ihn der Herr zu sprechen wünscht.«
»In Sachen des Keigo Kiyotaki«, war die kurze Antwort des fremden Besuchers, welcher keinen in England unentbehrlichen Empfehlungsbrief abgegeben hatte.
Diesmal blieb der Diener keine zehn Sekunden aus. »Sir Clane lässt bitten.«
Mr. Beken betrat das mit Büchern vollgestopfte Arbeitszimmer und stand vor der ehrwürdigen Gestalt des alten Rechtsanwaltes.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe …«
»Wenn Ihr werter Besuch meinen Klienten betrifft, so habe ich stets Zeit. Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Habe in Philadelphia eine Agentur für Tee, China- und Japanwaren«, begann der Amerikaner mit präziser Kürze. »Halte mich hier geschäftlich auf. Bin viele Jahre in Japan gewesen. Keigo Kiyotaki selbst kenne ich nicht, aber seinen Vater habe ich persönlich gekannt, auch den einen Bruder, Dai Oky Goto. Mir geht die ganze Geschichte durch den Kopf. Mir ist etwas nicht klar dabei. Warum will der Junge nicht sprechen?«
»Weil es ein Japaner ist, der sich mit orientalischem Phlegma in das Unvermeidliche schickt.«
»Nein. Ich kenne die Japaner. Hier liegt etwas anderes vor, irgendein Rätsel. Keigo Kiyotaki kann den Mord gar nicht begangen haben …«
»Was sagen Sie da?!«, rief der Rechtsanwalt mit leicht begreiflicher Überraschung.
»Nein, kann nicht, weil er ein Sintus ist.«
»Was ist er?«
»Ein Sintus. So heißen die Bekenner des alten Sin-syn-Glaubens. Der Sintus darf kein Blut vergießen, nicht töten, nicht einmal eine Fliege.«
»Mr. Beken, wir sind allzumal schwache Menschen …«
»I beg your pardon. Wenn Keigo einmal Blut vergossen oder einen anderen dazu verleitet hätte, es für ihn zu vergießen, dann würde er selbst, anstatt sich hängen zu lassen, Harakiri begehen … kchkchkch.«
Mit einem nicht wiederzugebenden Laut machte der Amerikaner die Bewegung des Bauchaufschlitzens.
»Oder, wenn er kein Messer hat«, setzte er noch hinzu, »sich in seiner Zelle aufhängen oder seine Zunge verschlucken oder sich sonst auf irgend eine Weise vom Leben zum Tode befördern. Ich kenne den Japaner, der findet immer ein Mittel dazu.«
Erregt war Sir Clane aufgesta den, um einen Gang durch das Zimmer zu machen. Wahrhaftig, dieser Mann brachte ihn auf einen Gedanken, auf den noch kein Mensch in London gekommen war, und da leben doch auch gründliche Japankenner.
»Ja, aber … das bei ihm gefundene Schwert …«
»Das hat er von Mr. Deacon auf ganz ehrliche Weise bekommen.«
Der Rechtsanwalt blieb gleich erstarrt stehen.
»Das heißt«, fuhr der Yankee durch die Nase fort, »auf eine für uns christliche Europäer ganz ehrliche Weise. In den Augen eines Japaners mag er ein großes Verbrechen begangen haben, vielleicht hat er für das ihm so wertvolle Schwert dem Mr. Deacon, der sich doch überhaupt für alles Japanische interessierte, ein wichtiges Geheimnis aus seiner Priesterkaste verraten, aber das darf kein Japaner erfahren. Deshalb schweigt der Junge, da will er lieber sterben, als von seinem Volk verdammt werden. Und weil er sich nicht selbst töten darf, verteidigt er sich nicht, er will von anderer Hand gehängt werden. Sir Clane, ich möchte diesen Keigo Kiyotaki gern einmal sehen, vielleicht, dass ich ihn zum Sprechen bringe. Könnten Sie mir die Gelegenheit dazu nicht verschaffen?«
»Aber sofort! Sofort!«, rief der Rechtsanwalt, dem als Verteidiger jederzeit eine Unterredung unter vier Augen mit dem Angeklagten gewährt werden musste.
Fünf Minuten später befanden sich die beiden schon im Wagen. Der Weg zum Untersuchungsgefängnis führte sie auch durch die Bedford Street an dem Haus des Mr. Deacon vorüber.
»Nicht wahr, das Haus ist von dem Erbschaftsgericht versiegelt worden?«, fragte Mr. Beken.
Sir Clane bestätigte es und erläuterte näher, wie das gekommen war.
Gleich am Tag nach der Mordnacht war Loftus Deacons Testament eröffnet worden, der Erbe seiner kostbaren Raritäten war das britische Museum. Aber dieses Testament war sofort von den eigentlich Erbberechtigten angefochten worden, denn es enthielt Unklarheiten. Einmal behaupteten die anderen Erben, die Schenkung erstrecke sich nur auf die Sachen, welche Mr. Deacon bis zu dem Zeitpunkt angeschafft habe, da er dieses Testament unterzeichnete, und dann vor allen Dingen habe das britische Museum kein Recht, das ganze Haus als Museum zu beanspruchen.
Nun gibt es in England ein eigentümliches Gesetz. Sobald es zweifelhaft ist, wer der rechtmäßige Besitzer eines Hauses ist, wird dieses Haus unter Siegel genommen, solange der Prozess schwebt. Ein Zinshaus muss augenblicklich – oder doch innerhalb 12 Stunden – von sämtlichen Mietern geräumt werden, die Türen und Fenster werden versiegelt, kein Handwerker, kein Gerichtsbeamter, niemand darf es mehr betreten, bis die Sache entschieden ist.
So war es auch mit Deacons Haus. Die gerichtliche Untersuchung war am zweiten Tag nach der Mordnacht bereits erledigt gewesen. Die Diener hatten es sofort verlassen müssen, kein Mensch hatte Zutritt, Ausnahmen gibt es freilich immer. Die Staatsanwaltschaft hätte es wohl noch betreten können, aber die hatte die richterliche Untersuchung bereits für beendet erklärt.
»Schade«, meinte Mr. Beken, »ich hätte die japanischen Altertümer gern einmal besichtigt. Sollte es nicht eine Möglichkeit geben, noch einmal hineinzugelangen?«
»Nein, das ist ganz ausgeschlossen«, erklärte der kundige Rechtsanwalt, »und so bald wird dieser Prozess nicht entschieden sein, da kann ein Jahr vergehen.«
Der Wagen hielt vor dem Untersuchungsgefängnis, der Verteidiger des Angeklagten stellte an vorschriftsmäßiger Stelle sein Verlangen.
»Können wir mit dem Gefangenen allein und ungestört sprechen?«, fragte der Amerikaner, als sie etwas warten mussten.
»Selbstverständlich«, entgegnete der Rechtsanwalt.
»Wir werden auch nicht belauscht?«
»O nein, mein Herr, was meinen Sie wohl! Das würde ich mir sehr stark verbitten!«
Die beiden betraten die Zelle. Teilnahmslos saß der junge Japaner da, wandte nicht einmal den Kopf nach den Eintretenden. Mr. Beken redete ihn erst in fließendem Japanisch an, dann, mit Rücksicht aus den Rechtsanwalt, sprach er auf Englisch zu ihm, sagte, dass er seinen Vater, seinen einen Bruder gekannt habe. Keine Antwort, keinen Blick. Dann setzte sich ihm der Amerikaner gegenüber und …
Doch jetzt müssen wir die beiden aus einem besonderen Grund allein lassen.
»Dieses hartnäckige Schweigen ist mir unbegreiflich«, sagte Sir Clane, als sie nach einer Viertelstunde die Zelle wieder verließen.
»Ja, ich hatte gehofft, ihn zum Sprechen bringen zu können«, entgegnete der Amerikaner.
Der Besuch war also erfolglos gewesen, Keigo Kiyotaki hatte kein Wort über seine Lippen kommen lassen.
Aus welchem besonderen Grund dann der geneigte Leser nicht weiter in der Zelle bleiben durfte?
Das soll später bei Gelegenheit erläutert werden, jetzt ist es noch nicht Zeit dazu.
*
Dann noch etwas anderes, was dem Leser ebenfalls nur angedeutet werden kann.
In derselben Nacht, welche diesem Tag folgte, öffnete sich in der dritten Etage eines Hauses, dessen Eingang in der Bedford Street lag, das Fenster eines Hinterzimmers. Ein Mensch lehnte sich heraus, blickte in den dunklen Hof hinab und sah zu dem finsteren Himmel hinauf, und dann kam eine Hand zum Vorschein und tastete seitwärts nach dem Blitzableiter. Im nächsten Augenblick hing an diesem Blitzableiter zwischen Himmel und Erde die Gestalt eines dunkel gekleideten Mannes, der wieder im nächsten Moment mit der Gewandtheit eines Affen den Blitzableiter emporkletterte. Als er das Dach erreicht hatte, verwandelte sich der Affe in eine Katze, denn mit der Geschicklichkeit einer solchen setzte er seinen Weg auf dem Dach fort, und da gab es kein Hindernis, welches er nicht durch Springen oder Kriechen zu überwinden gewusst hätte.
Der Mann zeigte ein außerordentliches Interesse für Schornsteine, besonders auf dem einen Haus, und mit einem Mal war er in demselben spurlos verschwunden. Und der gehörte gerade dem Haus an, in welchem Loftus Deacon ermordet worden war.