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Adventskalender 2024 – 2. Türchen

Kleiner Kerl

Es war einmal ein kleines Kerlchen, das wurde von Tag zu Tag älter.

Wenn es aber ins Wirtshaus kam, um ein Glas Bier oder Wein zu trinken, sagte der Wirt zu ihm: »Guten Tag, kleines Kerlchen«.

Das ärgerte ihn sehr. Schließlich ging er zum Schuster, um sich ein Paar Absätze unter die Stiefel machen zu lassen.

Als er in die Werkstatt kam, sagte der Schuster: »Guten Tag, kleines Kerlchen. Womit kann ich dir dienen?«

Da antwortete das kleine Kerlchen: »Ihr sollt mir ein Paar Absätze unter die Stiefel machen, damit mich die Leute nicht immer das kleine Kerlchen nennen. Das ist mir sehr unangenehm.«

Der Schuster tat es, ließ sich bar bezahlen, und als klein Kerlchen aus der Werkstatt kam, sagte er: »Adjes, klein Kerlchen.«

Das war ihm sehr verdrießlich, dass der Schuster keine Achtung mehr vor seiner eigenen Arbeit hatte. Aber der Wirt, dachte er, soll doch die Augen aufmachen und anders reden. Er ging also in das Wirtshaus, um ein Glas Bier oder Wein zu trinken.

Als er in die Stube trat, sagte der Wirt: »Guten Tag, kleiner Mann, was wünscht er, ein Glas Bier oder Wein?« Das ärgerte ihn sehr, dass die hohen Absätze nicht besser aussahen. Als er aus dem Wirtshaus kam, ging er schnurstracks zum Hutmacher, um sich einen Hut mit hoher Kuppe zu kaufen.

Als er den Laden betrat, sagte der Hutmacher: »Guten Tag, kleiner Mann! Was wollt Ihr?«

»Ich will mir einen Hut kaufen«, antwortete das kleine Kerlchen, »damit mich die Leute nicht immer klein Kerlchen nennen. Das ist mir sehr unangenehm.«

Da gab ihm der Hutmacher einen Hut mit hoher Kuppe, nahm sein Geld und sagte: »Adjes, klein Kerlchen!«

Das war ihm sehr verdrießlich, dass der Hutmacher keinen Respekt mehr vor seiner eigenen Ware hatte. »Aber im Wirtshaus wird es anders sein!«

Also ging er ins Wirtshaus und trug den Hut wie ein Engländer.

Da kam der Wirt herein und sagte gleich: »Guten Tag, kleiner Mann. Was möchtet Ihr, ein Glas Bier oder Wein?«

Das ärgerte ihn sehr, denn er hatte doch Absätze unter den Stiefeln und den Hut mit der hohen Kuppe auf dem Kopf. Dass man ihn jetzt noch klein Kerlchen nennen konnte, das fand er ganz unbegreiflich. Er fragte auch alle Leute, warum sie ihn denn immer noch das kleine Kerlchen nannten, er sei doch jetzt schön ausgewachsen und habe auch Absätze unter den Stiefeln und den Hut mit hoher Kuppe auf dem Kopfe. Warum er denn immer noch das kleine Kerlchen heiße? Aber so viel er auch fragte, niemand wollte es ihm sagen, und das machte ihn sehr traurig.

Endlich sagte er sich, wenn es hier niemand wisse, so wolle er nach Rom zum Papst gehen: Der müsse es doch wissen.

Am nächsten Tag schnürte er seine sieben Sackpfeifen ordentlich zusammen und machte sich auf den Weg. Da kam er eines Abends an ein Wirtshaus und suchte Herberge.

Als er eintrat, sagte der Wirt: »Guten Tag, kleiner Mann! Wohin geht Ihr?«

»Zum Papst nach Rom«, antwortete das kleine Kerlchen. »Der soll mir mal sagen, warum ich immer klein Kerlchen heißen muss, wenn ich doch Absätze unter den Stiefeln und einen Hut mit einer hohen Kuppe auf dem Kopf habe. Das ärgert mich sehr.«

»Richtig«, sagte der Wirt, »so will ich auch mit Euch den Pabst fragen, warum ich immer armer Wirt heißen muss.«

Das hörte der Hausknecht und sprach: »So will ich auch mitgehen und den Pabst fragen, warum ich immer der faule Knecht heißen muss.«

Am nächsten Tag machten sich die drei auf den Weg, und als sie nach Rom kamen, ließen sie sich beim Pabst melden. Da wurden sie in ein Gemach geführt, in dem ein großer Spiegel hing.

Als nun der Pabst kam und ihre Bitte hörte, sprach er zu dem Wirt: »Stellt euch hier rücklings an den Spiegel, schaut über die linke Schulter hinein und sagt mir, was ihr da seht.«

Da sprach der Wirt: »Ich sehe viele Weiber um den Kaffeetisch sitzen.«

Da fragte der Pabst, ob seine Frau nicht auch dabei sei.

»Ja«, sprach der Wirth, »sie sitzt in der Mitte.«

»Ja, seht Ihr, Herr Wirt«, sagte der Pabst, »Euer Weib besucht die Kaffeekränzchen und hält auch selbst Kaffeekränzchen. Darum seid und bleibt Ihr der arme Wirt.«

Jetzt war der Knecht an der Reihe. Er musste sich mit dem Rücken zum Spiegel stellen, über die linke Schulter hineinschauen und dann sagen, was er sah.

Der Knecht sagte: »Da laufen die Hunde einem Hasen nach.«

Der Pabst fragte ihn, ob die Hunde den Hasen nicht eingeholt hätten?

»Nein«, sagte der Knecht, »der Hase ist so schnell, wie die Hunde sein wollen, und sie würden ihn kaum einholen.«

»Ja, seht«, sagte der Papst zum Knecht, »wenn Ihr auch so schnell laufet, was Euch der Wirt oder die Gäste sagen, wie der Hase vor den Hunden läuft, so braucht Ihr nicht der faule Knecht zu heißen.«

Nun war der kleine Bursche an der Reihe: Auch er musste sich rücklings vor den Spiegel stellen und über die linke Schulter hineinschauen. Da fragte ihn der Papst, was er denn schaue. Das kleine Kerlchen sagte, es sehe nichts als sich selbst. Der Pabst fragte, ob er im Spiegel größer erscheine als in Wirklichkeit?

»Nein«, antwortete Klein Kerlchen, »gerade so groß.«

»Ja, seht«, sagte der Papst, »dann weiß ich Euch nichts anderes zu raten, als dass Ihr Euch so lange messen lasst, bis Ihr groß seid. Dann braucht Ihr Euch nicht mehr klein Kerlchen zu nennen.«