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Secret Service Band 2 – Kapitel 11

Francis Worcester Doughty
Secret Service No. 2
Old and Young King Brady Detectives
Told by the ticker
Oder: Die zwei King Bradys in einem Wallstreetfall
Eine interessante Detektivgeschichte aus dem Jahr 1899, niedergeschrieben von einem New Yorker Detective

Wer kennt ihn nicht, den berühmten Detektiv Old King Brady, der mehr Rätsel gelöst hat als jeder andere Detektiv, von dem man je gehört hat.

In der Reihe der Geschichten, die in SECRET SERVICE veröffentlicht werden, wird ihm ein junger Mann zur Seite stehen, der als Young King Brady bekannt ist und dessen einziges Lebensziel darin besteht, Old King Brady darin zu übertreffen, gefährliche Fälle aufzuklären und die Verbrecher zur Strecke zu bringen. Wie gut ihm dies gelingt, wird in den folgenden, im SECRET SERVICE veröffentlichten Geschichten ausführlich geschildert.

Kapitel XI

Die Dame mit dem Schleier

Old King Brady schien von dieser Ankündigung nicht im Geringsten betroffen zu sein.

Er lächelte nur grimmig.

»Sie erkennen ihn also?«, fragte er.

»Jetzt schon.«

»Am Anfang nicht?«

»Nein. Sie?«

»Ich habe ihn sofort erkannt, als er den Raum betrat«, versicherte Old King Brady.

»Verdammt!«, rief der junge Detektiv. »An welchem Merkmal?«

»Am Schnurrbart.«

»Sie wussten, dass er falsch war?«

»Natürlich.«

»Nun«, gab Young King Brady zu, »so habe ich ihn auch erkannt. Ich sah die Verkleidung und als ich genauer hinsah, erkannte ich seine Gesichtszüge.«

»Es ist eine schlechte Verkleidung.«

»Sehr schlecht. Was machen wir jetzt? Sollen wir ihn verhaften?«

»Nein.«

»Wie nitte?«

»Natürlich nicht.«

Young King Brady war ratlos.

»Wenn wir ihn zu lange laufen lassen, besteht dann nicht die Gefahr, dass er uns entwischt?«

«Es dient unserem Zweck mehr, ihn zu beschatten«, erklärte der alte Detektiv. Wenn wir ihn jetzt einsperren, bleibt das Rätsel um den Börsenticker ungelöst.«

»Glauben Sie immer noch, dass diese Bande etwas damit zu tun hat?«

»Es gibt noch einen anderen Grund«, sagte der alte Detektiv. »Sid Carter ist nicht hier. Es würde ihn in ein sicheres Versteck treiben, wenn er wüsste, dass McClure in der Schusslinie steht.«

»Nun, das ist ein Argument«, gab Young King Brady zu.

»Wir wissen immer noch nicht, wo das Schiff versteckt ist. Ich glaube, die Lösung der ganzen Angelegenheit liegt an Bord dieses Schiffes. Wir müssen es finden.«

»Sehr richtig.«

»Das können wir nur erreichen, wenn wir diesen Schurken noch eine Weile gewähren lassen, ihn aber in der Zwischenzeit genau beobachten. Mit der Zeit wird sich das Knäuel von selbst entwirren.«

»Ich stimme Ihnen zu! Sie haben das perfekt durchdacht. Ich glaube, in einer Woche haben wir die ganze Geschichte aufgeklärt.«

In diesem Moment lächelte der bärtige Hafenarbeiter und nickte, als jemand den Musiksaal betrat.

Die Bradys warfen dem Neuankömmling einen kurzen Blick zu.

Dabei zuckten beide zusammen.

Es war eine Frau.

Sie war von mittlerer Statur, weit überdurchschnittlich gut gekleidet und trug einen Schleier.

»Eine Frau!«, keuchte Young King Brady.

Die Gesichtszüge des alten Detektivs waren undurchdringlich. Er schwieg.

Die beiden Detektive beobachteten sie aufmerksam.

Sie lüftete ihren Schleier nicht. Sie sprach lange und selbstbewusst mit McClure.

Dann blickten beide auf, lächelten und nickten einem dunkelhäutigen Mann mit kantigem Kinn und gewöhnlicher Kleidung zu, der den Musiksaal betrat.

Für einen Moment waren die beiden Detektive geneigt, auch ihn für einen Neuankömmling zu halten.

Dann rief Young King Brady: »Das ist Sid Carter!«

Der alte Detektiv nickte.

»Richtig, junger Mann«, sagte er. »Sie haben es richtig erkannt.«

Sid Carter setzte sich zu McClure und der verschleierten Frau an den Tisch.

Eine lange Beratung folgte.

Die drei Verschwörer schenkten den beiden Matrosen keine Beachtung.

Es war offensichtlich, dass sie nicht den geringsten Verdacht gegen sie hegten.

Das war ein Vorteil für die Detektive.

Eine Stunde verging.

Die Stammgäste des Lokals begannen zu tanzen und es herrschte eine ausgelassene Karnevalsstimmung.

Nach einer Weile bestellten die drei Verschwörer Bier für die Männer.

Sie tranken reichlich und schienen bester Laune zu sein. Sie lachten und applaudierten den Tänzern.

Es war fast elf Uhr, als sie endlich aufbrachen.

Alle drei gingen in den Saloon, an dem grinsenden Stimpel vorbei und in den Hof. Die beiden Matrosen standen jetzt an der Bar.

»Wir müssen ihnen folgen«, sagte Old King Brady. »Es ist wichtig.«

»Ja«, stimmte Young King Brady zu. »Und wenn sie sich trennen?«

»Das werden wir sehen.«

Die Matrosen betraten den Hof. Als die drei Verschwörer zur Straße gingen, wurden sie von den beiden Detektiven beobachtet.

Sie gingen in die West Street.

Dort, an einer Straßenecke und im Licht einer Straßenlaterne, trennten sie sich.

McClure und Carter gingen die West Street in Richtung Battery hinunter.

Die verschleierte Frau bog in eine Seitenstraße Richtung Broadway ein. Schnelles Handeln war angesagt.

»Was sollen wir tun?«, fragte Young King Brady.

«Wir müssen herausfinden, wer diese verschleierte Frau ist«, sagte der alte Detektiv.

«Ja.«

«Du folgst ihr, und ich schnappe mir die beiden Männer. Wenn du deine Aufgabe erledigt hast, hinterlasse mir einen Brief im Astor House. Ich werde dasselbe tun.«

«In Ordnung.«

Die beiden Detektive trennten sich.

Old King Brady machte sich auf die Suche nach den beiden Ganoven Carter und McClure.

Folgen wir für eine Weile den Abenteuern von Young King Brady.

Der junge Detektiv zögerte nicht, die verschleierte Frau aufzuspüren. Sie entkam ihm nicht.

Er folgte ihr bis zum Broadway.

Dort stieg sie in eine Straßenbahn.

Es war eine Tram, die nach oben fuhr.

Young King Brady blieb ihr auf den Fersen.

An der50th Street stieg sie aus.

Der Matrose fuhr noch ein paar Yards weiter und sprang noch während der Fahrt von der vorderen Plattform des Wagens.

Er hatte sein Ziel nicht aus den Augen verloren.

Sie bog in die 50th Street ein.

Ein kurzes Stück auf dieser Durchgangsstraße blieb sie stehen und blickte den schwach beleuchteten Bürgersteig auf und ab.

Young King Brady war hinter der Treppe eines reichen Sandsteinhauses verschwunden. Es gab einige schöne Häuser in dieser Straße.

Nachdem die verschleierte Frau die Straße auf und ab gespäht hatte, stieg sie zur Überraschung des Young King Brady die Stufen des Hauses hinauf.

Es war ein palastartiges Haus, eines der schönsten in der Straße.

Der Detektiv trat näher heran.

Er sah, wie die Frau die Treppe hinaufging und das Haus betrat. Die große Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Der junge Detektiv rieb sich verwundert die Augen.

»Puh!«, murmelte er. »Das macht die Sache noch mysteriöser. Sie gehört offensichtlich zu den oberen zehn Prozent.«

Eine Weile beobachtete Young King Brady das Haus.

Es war alles dunkel, soweit man Licht in einem der Fenster zur Straße hin sehen konnte.

Das war nicht ungewöhnlich, denn es war Mitternacht. Wahrscheinlich waren die anderen Bewohner zu Bett gegangen.

Aber was war das für eine Frau, die offensichtlich der wohlhabenden Schicht angehörte und sich mit Männern wie Biff McClure und Sid Carter in einem der verruchtesten Etablissements New Yorks traf?

Der junge Detektiv spürte, dass er einer neuen Sache auf der Spur war.

Er war sich sicher, dass er auf eine wichtige Spur stoßen würde. Er war fest entschlossen, nicht aufzugeben.

Nach einer Weile wagte er sich leise die Treppe hinauf und betrat die Vorhalle des Herrenhauses.

Alles war dunkel.

Er lauschte.

Alles war still.

Dann entzündete er ein Streichholz. Es erhellte für einen Moment das Innere der Vorhalle.

Dann sah er das Namensschild an der großen Eichentür. Darauf stand: WILLARD HALL.

Für einen Moment war Young King Brady sprachlos. Ein plötzlicher Ekel überkam ihn.

Wie ein Blitz fielen ihm die Worte des Old King Brady ein.

»Irgendwie haben diese vier Schurken etwas mit dem Mord zu tun, von dem in der Zeitung die Rede war.«

Hier war eine Spur, der man bis zu einem bestimmten Punkt folgen konnte. Eine verschleierte Frau, die Zugang zum Haus des vermissten Reeders hatte, wurde zu später Stunde in einer schäbigen Spelunke in Begleitung von zwei der größten Ganoven New Yorks gesehen.

Die Detektive akzeptieren nur harte Fakten. Young King Brady erkannte sofort, dass das mysteriöse Verschwinden von Willard Hall durch ein Mitglied seines eigenen Haushalts erklärt werden konnte, das mit den möglichen Mördern McClure und Carter unter einer Decke steckte.

Aber wer war dieses Haushaltsmitglied?