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Der Detektiv – Band 27 – Die Wahrsagerin von Jorjakara – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 27
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Zweite Geschichte des Bandes
Die Wahrsagerin von Jorjakara

Teil 1

Oft genug sind Harald Harst und ich lediglich durch einen Zufall zu einem neuen Abenteuer, einem neuen Problem gekommen, meist dann auf sehr merkwürdige Art, sobald es sich um einen solchen Zufall handelte.

Am seltsamsten jedenfalls war in dieser Beziehung die Verkettung von Umständen, die uns nach Jorjakara führte, wo wir vom Union-Klub zu einem Herrendiner eingeladen waren, das um 5 Uhr nachmittags begann und dessen letzter Gang etwa um 9 Uhr abends serviert wurde.

Der Großkaufmann van Diemen, der Klubpräsident, hatte dann eine besondere Überraschung vorbereitet; ein Wasserfeuerwerk auf dem kleinen, malerischen See, der mitten in dem ausgedehnten Park des Klubhauses lag.

Der von Palmen umgebene See besaß nun eine besondere Merkwürdigkeit, eine kleine Felseninsel, die schroff aus dem Wasser wie ein halb verfallener Turm aufstieg.

Dicht vor diesem Inselchen war ein Bambusfloß verankert, auf dem die Feuerwerkskörper abgebrannt wurden, die ein Chinese aus Semarang geliefert hatte. Bekanntlich sind gerade die Chinesen im Erfinden neuer Feuerwerkseffekte groß. Lange bevor man in Europa die erste Rakete abbrannte, erfreuten sich die bezopften Bewohner Chinas schon an buntsprühenden Feuerrädern, an selbsttätig aufsteigenden Drachen und Ähnlichem.

Am Ostufer des Sees waren für uns Zuschauer in zwanglosem Durcheinander Bänke und Korbsessel aufgestellt. Van Diemen, ein paar Vorstandsmitglieder, Harst und ich saßen auf einem breiten, ein Stück in den See hinausgebauten Bootssteg.

Der chinesische Pyrotechniker, der Feuerwerkskünstler Lian Schen, brannte das Feuerwerk selbst ab. Ich war überrascht, mehr noch, ich war entzückt von dem, was ich sah. Wie kläglich nahm sich gegenüber diesen eigenartigen Erfindungen Lian Schens doch eine gleiche Vorführung in der Heimat aus! Wie glänzend gelang der Aufstieg einer Riesenrakete, die in fünfzig Meter Höhe einen leuchtenden Schmetterling ausspie, der sich dann graziös auf die Seeoberfläche niederließ und hier als Wasserlibelle zischend und farbige Sterne auswerfend hin und her schoss.

Harst saß rechts von mir. So und so oft rief er mir leise ein »Famos! Großartig!« oder Ähnliches zu.

Nun stieg von dem Floß ein gut zwei Meter langer Papierlindwurm auf, in dessen aufgeblähtem Leib rote Flämmchen strahlten und der aus seinem Schweif wie ein Komet weiße Feuergarben in das nächtliche Dunkel schickte.

Langsam segelte das Ungetüm heran, fiel dann dicht vor dem Bootssteg ins Wasser und ging in Flammen auf.

Sofort folgte ein zweiter, ganz ähnlicher Drache, nur mit grünen Flämmchen im Inneren. Er flog über uns hinweg und in die Krone einer Palme hinein, wo er kurz aufflackernd wie der erste verbrannte.

Und ein Dritter kam, strich kaum ein Meter über uns hinweg und rief unter den am Ufer sitzenden Herren einige Verwirrung hervor, da er mitten zwischen den Sesseln landete.

Gelächter, laute Rufe, Händeklatschen begleiteten den Feuertod dieses kecken Papieruntiers.

Ich war aufgestanden und hatte die Szene beobachtet, wie die Herren mit ihren Sesseln schleunigst ausgerissen waren.

Da – ein harter Griff an meinem Arm. Gleichzeitig Harsts Stimme – leise, aufgeregt, überstürzt: »Schraut – eine Teufelei! Vorsicht!«

Dann rief er den anderen vier Herren, die mit uns auf dem Steg saßen, halblaut zu: »Sollte noch einer dieser Drachen aufsteigen und auf uns zufliegen, so müssen wir schleunigst weg von hier. Ah – da kommt er schon! Fort mit uns – nur fort!«

Er riss van Diemen hoch, der etwas viel getrunken hatte, rannte ans Ufer, brüllte hier: »Unter die Bäume, meine Herren, unter die Bäume und alles sich lang hinwerfen!«

Hätte nicht gerade Harst die warnenden Worte ausgestoßen, würde man sie vielleicht als schlechten Scherz aufgefasst und nicht befolgt haben. So aber rannte alles der nahen Palmenallee zu. Im Nu war das Ufer leer.

Ich stellte mich hinter einen Stamm; ich sah den gelbleuchtenden Drachen heransegeln, sah wie er sich senkte – wie er gerade auf den Brettersteg fiel.

Ein furchtbarer Krach dann.

Holzstücke flogen umher, Balkenenden sausten durch die Luft. Und der Luftdruck der Explosion warf mich wie einen Ball meterweit rückwärts in ein Gebüsch, wo ich halb betäubt liegen blieb.

Ein ungeheurer Tumult erhob sich nun. Alles rief, schrie, fragte wild durcheinander.

Dann eilten Diener mit Fackeln herbei. Ich rappelte mich auf. Van Diemen stürzte auf mich zu.

»Wo ist Harst? Was ist eigentlich passiert?«

Er war leichenblass.

Man umdrängte uns. Immer wieder wollte man von mir wissen, was diese Explosion zu bedeuten hätte, wo Harst geblieben wäre.

»Es kann sich nur um ein Attentat handeln«, erklärte ich. »Ein sehr raffiniertes Attentat gegen meinen Freund, der jetzt sicher schon dabei ist, der Sache auf den Grund zu gehen.«

Allmählich trat Ruhe ein.

Dann – von der Insel her ein lauter Ruf – Harsts Stimme: »Schraut, nimm ein Boot, komm hierher!«

Ich riss einem der Diener eine der Harzfackeln aus der Hand und rannte zu dem völlig zertrümmerten Steg hin, fand auch noch ein unbeschädigtes Boot und trieb es mit den Rudern, nachdem ich die Fackel vorn festgeklemmt hatte, der Insel zu.

Der See war etwa 150 Meter breit. Das Bambusfloß war bald erreicht. Harst stand dort mit triefenden Kleidern, rief mir sofort leise entgegen: »Das galt uns, mein Alter! Ich ahnte es. Ich sah es voraus. Die ersten drei Drachen waren das Einschießen auf das Ziel. Der Erste ging zu kurz, der Zweite zu weit, der Dritte traf schon besser, und der Vierte sollte uns dann das Lebenslicht ausblasen.«

Ich stieg auf das Floß.

»Komm«, fügte Harald hinzu, »ich werde dir etwas zeigen.«

Am anderen Ende des Floßes lagen der Chinese Lian Schen und sein Gehilfe (es war sein Sohn) gefesselt, geknebelt und bewusstlos da.

»Sie haben böse Beulen am Hinterkopf«, meinte Harst. »Sie sind niedergeschlagen worden. Dann haben zwei andere Leute ihre Rollen übernommen: Die Attentäter! Ich wurde argwöhnisch, als der dritte Drache hinter uns in die Sesselreihen am Ufer fiel. Das sah mir doch zu sehr nach Einschießen auf ein bestimmtes Ziel aus. Deshalb auch meine Warnung.«

»Schade – ich kam zu spät«, fuhr Harst fort. »Ich lief sofort um den See herum nach links, sprang ins Wasser und schwamm dem Floß zu. Leider war alles in tiefste Finsternis gehüllt. Ich konnte nichts sehen – nichts von den Leuten, die von hier flüchteten. Als ich auf das Floß kletterte, lagen nur die beiden Chinesen hier.«

Ich hatte die Fackel in der linken Hand. Ich merkte, dass Lian Schen sich zu regen begann.

Harst war schon niedergekniet, hob des Chinesen Kopf etwas an und fragte auf Holländisch: »Wie fühlt Ihr Euch? Könnt Ihr mir einige Fragen beantworten?«

»Ja, Mynheer. Es geht mir leidlich. Nur der Kopf – der Kopf!«

Das dürre Männchen mit dem faltigen, quittengelben Gesicht schloss wieder erschöpft die Augen.

»Sie müssen ins Haus geschafft werden«, meinte Harst. »Eine Eisblase wird nötig sein. Sie sind fraglos mit einem sandgefüllten Schlauch von einem sehr kräftigen Menschen mit zwei Hieben niedergestreckt worden.«

Eine Stunde später.

In einem der Klubzimmer lagen auf den Wandsofas die beiden Chinesen, jeder mit einem Eisbeutel auf dem Kopf. Im Zimmer befanden sich außer Harst und mir noch van Diemen, Kriminalinspektor August Schliepner, unser Landsmann, und der Arzt Dr. Lockmeeren.

Harst saß auf einem Stuhl neben dem Lager Lian Schens. Wir anderen vier standen hinter Harsts Stuhl.

Lian Schen hatte soeben mit weinerlicher Stimme bei all seinen Ahnen beteuert, dass er an dem Attentat ganz unschuldig sei.

»Beruhigt Euch nur, Lian Schen«, sagte Harst freundlich. »Dass Ihr nichts mit dieser Schurkerei zu tun habt, geht schon aus der brutalen Art hervor, wie man Euch wehrlos gemacht hat. Wann wurdet Ihr niedergeschlagen, Lian Schen?«

»Als ich die große Rakete abgebrannt hatte und gerade den ersten Drachen fertigmachte.«

»Wie viele von diesen Drachen hattet Ihr mit auf dem Floß?«

»Drei im Ganzen.«

»Ah – also hatten die Attentäter den vierten mitgebracht. Ihr habt nichts von den Leuten gesehen, die Euch fesselten?«, fragte er dann den Chinesen.

»Nichts. Der Schlag traf mich von hinten unvorbereitet.«

Lian Schens Sohn, ein Bursche von achtzehn Jahren etwa, erklärte dasselbe.

»Gibt es hier in der Umgebung von Semarang oder in Semarang selbst noch einen Mann, der wie Ihr Feuerwerkskörper herzustellen versteht?«, forschte Harst weiter.

»Nein«, erwiderte der Chinese bestimmt. »Nicht einen, Mynheer! Auf ganz Java sogar bin ich der Einzige, der besseres Feuerwerk anfertigt. Insbesondere sind die fliegenden Drachen meine Erfindung und mein Geheimnis. Keiner kann sie herstellen. Es ist nämlich ein Trick dabei, sie zum Aufsteigen zu bringen.«

»Und diesen Trick habt Ihr niemandem bisher gezeigt, Lian Schen?«

»Nein. Er ist Geschäftsgeheimnis. Nur mein Sohn kennt ihn.«

»Nun – das kann nicht stimmen. Ihr habt heute erlebt, dass noch ein anderer einen solchen Drachen anfertigen und hochsteigen lassen kann. Besinnt Euch genau: Habt Ihr wirklich keinem Fremden das Geheimnis mitgeteilt?«

»Mynheer, wo werde ich das tun! Ich würde mich dadurch schwer schädigen. Ich liefere nach Batavia, Surakarta – überallhin Feuerwerkskörper und werde zumeist persönlich hinberufen, wenn ein größeres Fest stattfindet. Jedenfalls lasse ich Drachen nur persönlich aufsteigen. Ich verkaufe auch keine, wenn ich nicht selbst mitengagiert werde.«

Harst flüsterte nun Lian Schen ganz leise zu: »Ist Euer Sohn zuverlässig? Vielleicht hat er sich bestechen lassen und das Geheimnis preisgegeben.«

Der Chinese schüttelte lächelnd den Kopf.

»Er ist zuverlässig, Mynheer. Kein Chinese verrät ein Geschäftsgeheimnis, das sich in der Familie weitervererbt hat.«

Wieder schwieg Harst eine Weile. Dann fragte er Lian Schen: »Wann und wo habt Ihr in den letzten Wochen Eure Drachen bei Festlichkeiten steigen lassen?«

»Oh – im letzten Monat nur dreimal, mit heute viermal, Mynheer. Zuletzt vor fünf Tagen in Surabaja bei Mynheer van den Broock, dann in Batavia bei Mynheer Hußmann, und – ja, es war vor zwei Wochen – bei Mistress Bellingson in Jorjakara.«

»Jorjakara?«

»Ja – so eine Art Badeort oder Luftkurort in den Bergen südlich von Semarang«, beeilte sich der Klubpräsident van Diemen zu erklären. »Übrigens ein reizendes Dörfchen, bester Harst, dessen größte Sehenswürdigkeit die alte Mistress Bellingson ist.«

Schliepner hatte leise aufgelacht.

»Sehenswürdigkeit passt hier wohl nicht recht«, meinte er. »Man sagt besser: Rarität! Die Dame ist nämlich eine Wahrsagerin, die wirklich Erstaunliches leistet.«

»Gibt sie denn auch Feste mit Feuerwerk?«, fragte Harst interessiert.

»Gewiss. Sie ist noch recht lebenslustig und macht ein großes Haus«, erwiderte van Diemen. »Sie sollten sie mal besuchen, Harst. Lassen Sie sich nur von ihr die Zukunft vorhersagen. Die Art, wie sie es tut, ist recht eigenartig. Überhaupt: Die Frau ist das, was man so eine rätselhafte Persönlichkeit nennt. Über das, was man von ihr weiß, oder besser, was man von ihr nicht weiß, muss man in allem ein Soll setzen. Sie soll die Gattin eines Majors der indischen Armee gewesen sein; sie soll dann eines Brahmanen Gattin geworden sein, der irgendeiner besonderen Sekte angehörte; dieser Inder soll wegen verschiedener Verbrechen vor etwa fünfzig Jahren gehängt worden sein; worauf Mistress Bellingson aus Indien geflüchtet sein soll unter Mitnahme ungeheurer Schätze an alten Schmuckstücken und Edelsteinen. Wie gesagt – alles über sie kann man nur mit Soll angeben. In Jorjakara haust sie seit fünfzehn Jahren, hat dort einen alten Steinkasten, ein ehemaliges Jagdschloss eines eingeborenen Fürsten, gekauft und sich den Behörden gegenüber ordnungsmäßig durch Papiere ausgewiesen, die auf den Namen Maria Bellingson lauten, Witwe des in Bangkok vor etwa dreißig Jahren verstorbenen Kaufmanns englischer Nationalität Allan Bellingson!«

Harst hob nun abwehrend und mit etwas ironischer Miene die Hand.

»Genug, bester Diemen, – übergenug! Vielleicht würde ich Mistress Bellingson wirklich besuchen, wenn ich Zeit dazu hätte. Aber ich muss morgen früh bereits nach Batavia zurück. Freund Schliepner wird dieses Attentat hier ja hoffentlich aufklären und mir dann schriftlich mitteilen, was dabei herausgekommen ist. Ich bin jetzt doch zu der Überzeugung gelangt, dass dieses in seiner Art wohl einzig dastehende Verbrechen sich nicht gegen meine und meines Freundes Person richtete, sondern vielleicht Ihnen van Diemen oder Schliepner galt.« Die beiden Chinesen wurden nun in einem Wagen nach Hause geschafft. Da im Klub keine rechte Stimmung mehr aufkam, was nach diesem rätselhaften Vorfall auch nicht weiter wunderbar war, fand der Festabend ein ungewohnt frühes Ende. Bereits um Mitternacht waren wir wieder daheim, das heißt in Schliepners behaglichem Bungalow, wo wir hier in Semarang ein glänzendes Unterkommen gefunden hatten. Wir plauderten mit Schliepner noch eine Weile auf der Veranda und sagten ihm dann Gute Nacht. Wir mussten um 6 Uhr aufstehen, wenn wir noch zum Frühzug nach Batavia rechtzeitig auf dem Bahnhof sein wollten.

Fortsetzung folgt …