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Schattenwolf Band 1

Der Fluch der Wölfin

September 2009, vier Tage nach Vollmond

Glühende Augen. Entblößte Fänge. Geifer, der aus dem Maul tropfte, das riesige Ausmaße anzunehmen schien, als der Wolf auf ihn zuflog und zuschnappte – immun gegen alle Kugeln, die er auf ihn – sie – abfeuerte. Er warf sich zur Seite. Nicht schnell genug. Die Kiefer schnappten zu. Er schrie. Schlug um sich und …

Keeeeevvvin! …vin …vin …vin …

»Kevin!«

Er fuhr hoch. Hände packten ihn.

»Nein!«

»Ruhig, Bruder. Ganz ruhig. Das war nur ein Albtraum.«

Seine Sicht klärte sich. Er blickte in das dunkle Gesicht eines Hunkpapa, der leise in der Lakota-Sprache zu singen begann. Erstaunlicherweise beruhigte der Singsang ihn. Er atmete tief durch.

Tom Shadowchaser lächelte. »Diese Träume hören eines Tages auf.«

»Wann?« Das klang so sehnsüchtig und zutiefst verzweifelt, dass Kevin rot wurde. Verdammt, er war ein gestandener einundvierzigjähriger Detective beim Homicide Department, kein Weichei, das sich von Alträumen ins Bockshorn jagen ließ.

Von der Tatsache, plötzlich und unerwartet zu einem Werwolf geworden zu sein, schon. Er schauderte.

Tom legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie ermutigend. »Sobald du in deinem Herzen und in deiner Seele akzeptiert hast, was du bist. Danach hört diese Art von Albträumen auf.«

Mit anderen Worten, es lag allein an ihm. Aber, Gott im Himmel, wie könnte er diese Existenz akzeptieren? Dass er zu einem halben Tier geworden war mit tierischen Instinkten und Vorlieben, zu denen gehörte, dass er frisches Blut und rohes Fleisch ungemein schmackhaft und begehrenswert fand. Von allem anderen ganz zu schweigen.

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wurde sich bewusst, dass er splitterfasernackt war. Hastig zog er die Decke über seinen Unterleib und spürte sein Gesicht heiß werden.

Tom grinste. »Auch daran gewöhnst du dich. Körperscheu ist uns Werwölfen fremd. Es ist wunderbar, die Luft auf der nackten Haut zu fühlen. Besonders vor und nach der Verwandlung im Wald.«

Kevin konnte sich nicht vorstellen, dass er Nacktheit jemals wunderbar finden würde. Außer in Momenten, in denen er sich mit einer Frau in einer intimen Situation befand. Er war es gewohnt, in Unterhose und T-Shirt zu schlafen und im Winter einen Schlafanzug zu benutzen. Dass er jetzt nichts anhatte, lag daran, dass er den Geruch seiner Kleidung nicht ertrug – den Gestank nach Waschmittel, der ihm in der Nase stach und ihn niesen ließ. Leider verwandelten sich die Sinne nicht auch in normal menschliche, wenn der Körper vom Wolf wieder zum Menschen wechselte. Auch als Mensch blieben sie so scharf wie als Wolf. Deshalb war er froh, dass er sich offiziell hatte krankmelden können und frühestens übermorgen wieder zum Dienst erscheinen musste. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er den in Zukunft bewältigen sollte.

Verdammt, sein ganzes Leben stand Kopf – nein, es war vorbei. Kevin Bennett war vor fünf Tagen gestorben, als die Werwölfin ihn gebissen hatte. Dabei war es nur ein winziger Kratzer gewesen, so unbedeutend, dass er ihn zunächst weder gesehen noch gespürt hatte. Erst Stunden später unter der Dusche hatte er ihn bemerkt, als die Seife unangenehm darin brannte. Und als am nächsten Abend der Vollmond aufgegangen war, hatte er am eigenen Leib erfahren, dass die Legenden stimmten, die behaupteten, dass der Biss eines Werwolfs einen Menschen ebenfalls in einen verwandelte, sofern er ihn nicht tötete.

Vielleicht sollte er dankbar sein, dass er noch lebte, denn die Wölfin, die ihn gebissen hatte, wollte ihn definitiv umbringen.

Tom blickte ihn immer noch an.

»Ich, hm, wäre gern ein bisschen allein.«

Der Indianer erhob sich. »Kein Problem. Wir sehen uns gleich zum Unterricht.«

Unterricht? Kevin blickte aus dem Fenster, da er seine Armbanduhr abgenommen und in die vom Bett am weitesten entfernten Ecke des Zimmers unter ein dickes Kissen gelegt hatte, weil ihr Ticken am Arm ihm wie Donner in den Ohren hallte. Den langen Schatten nach zu urteilen, die die Bäume warfen, die er sehen konnte, war es schon Nachmittag. Er hatte lange Stunden geschlafen. Wenigstens hatte er überhaupt schlafen können, womit er nicht gerechnet hatte. Übergangslos einschlafen zu können war, wie Tom gesagt hatte, eine normale Fähigkeit von Wölfen. Tagsüber zu schlafen und nachts putzmunter zu sein, gehörte ebenfalls zu den Veränderungen, an die Kevin sich noch lange nicht gewöhnt hatte. Sobald er sich aber daran gewöhnt hatte, würde irgendein Kollege jubeln, wenn Kevin in Zukunft freiwillig die Nachtschicht bevorzugte.

Er stand auf und ging unter die Dusche. Keine Seife, kein Deo. Das Zeug stank bestialisch. Für seine Mitmenschen würde dafür er künftig stinken ohne Deo. Gab es dafür eine Lösung? Und Mitmenschen – die hatte er nicht mehr, denn er war kein Mensch. Oh Gott! Wie sollte er damit umgehen? Gerade in seinem Beruf, wo er täglich mit Dutzenden von Menschen Kontakt hatte?

Unterricht, in dem er lernte, diese erschreckenden Veränderungen zu meistern, war dringend erforderlich. Nicht nur für ihn. Er war nicht der einzige Mensch, der vor ein paar Tagen verwandelt worden war. Sieben junge Studenten von der Cleveland State University waren ebenfalls Opfer des »Schwarzen Rudels« verbrecherischer Werwölfe geworden, das Cleveland zu seinem Territorium machen wollte.1 Um ihre Zahl zu vergrößern und den Männern unter ihnen Gefährtinnen zu verschaffen, hatten sie Menschen verwandelt, fünf Frauen und zwei Männer. Vier von ihnen gehörten zu einer Gruppe, die in einem Waldstück zwischen Lakeshore Boulevard und Lakeland Freeway eine Lagerfeuerparty gefeiert hatten. Die übrigen drei hatten in der Nacht davor im Wendy Park beim Jachthafen am Ufer des Eriesees ein kleines Saufgelage veranstaltet. Warum die Werwölfe ausgerechnet diese sieben auserwählt hatten, in ihr Rudel aufgenommen zu werden, blieb deren Geheimnis. Die übrigen elf Studenten, die an den beiden Zusammenkünften teilgenommen hatten, wurden bestialisch ermordet.

Inzwischen waren die Verbrecher tot, hingerichtet von einem ihrer eigenen ehemaligen Mitglieder, dem Bruder des Anführers. Nick Roscoe. Nach den Gesetzen der Wölfe war er nun der rechtmäßige Rudelführer. Er hatte die Stellung abgelehnt und war verschwunden. Patrick Connolly, der Älteste der Studenten, hatte sich sofort die Stellung des Alphawolfes unter den Nagel reißen wollen. Aber das junge Rudel brauchte Stabilität und musste lernen, in der Gesellschaft von Menschen zu leben, ohne aufzufallen. Patrick war ein arroganter Heißsporn und nicht nur deshalb denkbar ungeeignet, ihnen das beizubringen.

Im Gegenteil war er der Einzige, der sich darüber freute, ein Werwolf zu sein, und der die Kraft und die damit einhergehende Macht genoss. Gerade das war gefährlich, da er sich dadurch nur allzu leicht verraten konnte. Und wenn ein Werwolf aufflog, gefährdete das alle. Kevin brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was passierte, wenn die Menschen erfuhren, dass Werwölfe, Vampire, Dämonen und andere Wesen tatsächlich existierten und nicht nur Ausgeburten der Fantasie von Schriftstellern und Filmemachern waren. Es gab schon mehr als genug Wissende, und etliche von ihnen jagten jeden Werwolf, den sie identifizieren konnten.

Kevin zog sich an und verspürte nagenden Hunger. Er ging in die Küche. Sheila Partridge, eine der Studentinnen, stand vor einem geöffneten Becher Eiscreme, von der sie einen Löffelvoll gekostet hatte, und weinte.

»Hey, was ist denn los?«

Sie deutete auf die Eiscreme. »Das ist los. Das war immer meine Lieblingseiscreme. Aber sie schmeckt scheußlich! Total nach Chemie. Von wegen ›naturidentische Aromastoffe‹. Chemischer Scheiß ist das!« Sie schluchzte und fegte den Becher vom Tisch. Er knallte gegen die Kühlschranktür, platzte von der Wucht des Aufpralls auf und das Eis spritzte nach allen Seiten. Sheila weinte noch heftiger.

Kevin wusste nicht, was er tun sollte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Streichelte sie. Zu seiner Überraschung und Verlegenheit drückte Sheila sich an ihn und weinte an seiner Schulter. Er legte einen Arm um sie und strich ihr beruhigend über das dunkelblonde Haar.

»Hey, wir schaffen das, Sheila. Wir müssen nur Geduld haben, bis wir uns an all die Veränderungen gewöhnt haben.«

Der Duft ihres Haares und ihres Körpers stieg in seine Nase, betörend süß und verführerisch. Ein Duft nach Weiblichkeit, der ihm alle Geheimnisse des Frauseins zu verraten schien und seine Lust weckte. Verdammt, das hatte ihm gerade noch gefehlt! Sheila war erst neunzehn und könnte seine Tochter sein. Am liebsten hätte er sie weggeschoben, aber sie brauchte den Halt, den er ihr gab, also hielt er sie weiter im Arm und hoffte, dass sie seine Reaktion auf sie nicht bemerkte.

Sie beruhigte sich und blickte ihn verlegen lächelnd an. »Danke, Vin. Du musst mich für ein Baby halten.« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, wandte sich ab und begann, die Eiscreme aufzuwischen.

Er half ihr. »Ich halte dich ganz und gar nicht für ein Baby.« Dazu war sie viel zu sehr Frau. »In Anbetracht der Situation, in der wir alle uns befinden, finde ich, dass wir verdammt gut damit umgehen.«

Sie hielt mit dem Aufwischen inne, blieb auf den Fersen hocken und starrte ins Leere. »Ich habe gesehen, wie er Jimmy die Kehle rausgerissen hat.« Mit ›er‹ meinte sie den Wolf, der sie verwandelt hatte.

»Oh Sheila.« Kevin ignorierte die Wirkung, die sie auf ihn ausübte. Er zog sie hoch, nahm sie noch einmal in die Arme und wiegte sie hin und her. »Das tut mir so leid.«

Nicht nur sie hatte das Grauen gesehen, sondern er ebenfalls. Er war Zeuge geworden, wie die Wölfe Nick Roscoe in Stücke zu reißen versucht hatten. Er sah in seinen Albträumen, wie dessen Eingeweide aus der aufgerissenen Bauchdecke quollen. Noch schlimmer war aber der Anblick, wie die zerfetzten Innereien auf buchstäblich magische Weise sich wieder zusammengefügt hatten, als Samantha Tyler dem Werwolf mit ihrer Heilmagie das Leben rettete.

Sam. Sie war der Grund, warum ihm das alles passiert war. Als er ihr vor einem Jahr in Carlsbad zum ersten Mal begegnet war, hatte er geahnt, dass sie Ärger für ihn bedeutete.2 Nicht nur weil er von Privatdetektiven sowieso nichts hielt; auch nicht von den weiblichen, die manchmal noch mehr als ihre männlichen Kollegen für jede Schererei gut waren. Er hatte etwas an ihr wahrgenommen, das ihn förmlich dazu drängte, mehr über sie herauszufinden. Ihre Behauptung, sie wäre eine leibhaftige Dämonin, hatte er selbstverständlich für einen Scherz gehalten. Inzwischen wusste er es besser. Sie war tatsächlich eine Dämonin, ein Sukkubus, der sich vom Sex ernährte. Wäre er nicht so neugierig gewesen, hätte er sich niemals nach Cleveland versetzen lassen, wo sie lebte, nur um in ihrer Nähe zu sein und ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Nun ja, nicht nur wegen ihres Geheimnisses. Er hatte mit ihr geschlafen; ein einziges Mal nur einen wilden Quickie im Auto gehabt. Der Sex war so toll gewesen – berauschend, dass er seitdem fast jede Nacht davon träumte und sich nichts sehnlicher wünschte als möglichst viele Wiederholungen. Auch deshalb hatte er um seine Versetzung nach Cleveland gebeten. Offiziell hatte er als Begründung die besseren Karrierechancen angegeben; immerhin war Cleveland eine der Städte mit der höchsten Rate an Gewaltverbrechen und konnte ein guter Cop hier Karriere machen. Vor einer Woche war er angekommen und hatte vor fünf Tagen seinen Dienst angetreten.

Die Stelle war mit einer Beförderung zum Sergeant einhergegangen; die Prüfung dafür hatte er noch in Carlsbad abgelegt und mit »sehr gut« bestanden; schon vor über einem halben Jahr. Da aber in Carlsbad genau wie bei Clevelands Homicide Department gegenwärtig keine Sergeant-Stelle frei war, blieb er offiziell Detective, bis Sergeant Foster in fünfzehn Monaten in Pension ging. Ihm war es recht, denn er bezog bereits das Gehalt eines Sergeants als Ausgleich für die vorübergehende Rückstufung. Hauptsache, die Verbrecher wurden dingfest gemacht. Ob er sie als Detective oder als Sergeant verhaftete, machte keinen Unterschied. Und wenn Foster in Ruhestand ging, konnte er bis dahin sogar noch die Lieutenant-Prüfung schaffen und gleich noch eine Stufe aufrücken.

Gleich an seinem ersten Tag im Dienst war er mit seinem neuen Partner, Lieutenant Ronan Kerry, für die Ermittlungen in der Mordserie eingeteilt worden, die zunächst aussah, als wäre sie von einem psychopathischen Serienkiller begangen worden. Ronan hatte sofort gewusst, dass es sich bei den Mördern nicht um Menschen, sondern um Werwölfe handelte. Wie Kevin inzwischen wusste, war er der Sohn einer Dryade, einer Baumnymphe, und besaß ein akkurates Gespür für das Übersinnliche. Da er mit Sam gut befreundet war, hatte er sie zu dem Fall hinzugezogen.

Kevin hatte sich am selben Abend mit Sam getroffen. Da ein Sukkubus selbst die verborgensten Bedürfnisse seines Sexpartners durch angeborene Empathie erspüren kann, wusste Sam, dass eine seiner Lieblingsfantasien, die er bisher noch mit keiner Frau hatte ausleben können, ein wilder Akt mitten im Wald war, umgeben von nichts anderem als freier Natur weit weg von der Zivilisation. Der Cuyahoga Valley National Park, etwa dreißig Meilen vom Stadtgebiet entfernt, bot dafür ideale Bedingungen; erst recht bei Nacht. Mann, der Sex war überwältigend gewesen und das Herrlichste, was Kevin je erlebt hatte. Wie hätten sie ahnen können, dass ausgerechnet in unmittelbarer Nähe das »Schwarze Rudel« sich versammelt hatte, um Nick Roscoe zu töten.

So hatte das Verhängnis seinen Lauf genommen. Sein Leben stand völlig Kopf. Er musste sich an seine neue Existenz gewöhnen, die nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Vor allem mussten er und seine jungen Leidensgenossen – sein »Rudel« – Strategien entwickeln, wie sie ihre Existenz vor den Menschen verbergen und vorgeben konnten, nach wie vor die ganz normalen Menschen zu sein, die ihre Freunde und Familien kannten. Keine Chance, wo schon so normale Dinge wie die Lieblingseiscreme zum Horrorfaktor geworden waren.

Wenigstens war das Wohnungsproblem gelöst. Der Anführer des Schwarzen Rudels hatte das Haus 674 Canyon View Road im Cuyahoga Valley gekauft, in dem sie sich gegenwärtig aufhielten. Auf Anraten von Brian Wolfheart, dem Werwolfwächter, zu dessen Rudel Tom Shadowchaser gehörte, waren sie hier geblieben, da es zu gefährlich wäre, wenn sie in ihr altes Leben zurückkehrten, ohne vorher gelernt zu haben, sich als Menschen zu tarnen und mit Dingen umzugehen wie dem Gestank von Putzmitteln und dem Geschmack normaler Speisen, ohne sie angeekelt auszuspucken oder sich zu übergeben.

Sam hatte das Haus mit ihrer dämonischen Magie in ein zweistöckiges Apartmenthaus verwandelt, in dem jeder zwei kleine Zimmer mit einem eigenen Badezimmer bewohnen konnte. Die geräumige Küche, das Esszimmer und das große Wohnzimmer im Erdgeschoss benutzten sie alle gemeinsam. Wenn sie wollten. Dazu gab es noch ein paar Gästezimmer, in denen Tom und seine drei Rudelgeschwister untergebracht waren.

Damit auch bei den Behörden alles seine Richtigkeit hatte und niemand auf den Gedanken kam, unangenehme Fragen zu stellen, hatte Sam die Grundbucheintragungen magisch dahin gehend verändert, dass Kevin das Haus von dem Vorbesitzer, Ian Reynolds alias Ivan Rassimov, geerbt hätte, der angeblich sein Cousin gewesen war. So hatte das junge »Rudel« wenigstens ein Zuhause, in dem es sicher war. Das Haus lag weit genug weg von den nächsten Nachbarn, sodass die ihre Aktivitäten in den Vollmondnächten nicht mitbekommen würden und auch der Gestank der Zivilisation sie nicht allzu sehr belästigte, sofern der Wind nicht ungünstig stand.

In einem Punkt hatte zumindest Kevin Glück. Als Lieutenant Kerry erfahren hatte, dass Kevin ein Werwolf geworden war, bot er ihm sofort Unterstützung und vor allem Deckung bei ihrem Vorgesetzten an, wann immer es in Zukunft nötig werden sollte. Zum Beispiel um zu erklären, warum der neue Detective Bennett an den drei Tagen des Vollmonds grundsätzlich nicht zum Nachtdienst eingeteilt wurde und an solchen Tagen zu Hause sein musste, bevor der Mond aufging. Seine Leidensgenossen hatten dieses Glück nicht und würden sich verdammt anstrengen müssen, um ihre Tarnung als Menschen ohne solche Rückendeckung aufrechtzuerhalten.

Sheila hatte sich wieder beruhigt. Sie löste sich von ihm. »Danke, Vin. Du bist echt nett.«

»Hast du einem alten Knacker wie mir gar nicht zugetraut, wie?«

Sie musste lachen. »So habe ich das nicht gemeint.« Sie grinste verlegen. »Na ja, irgendwie doch. Typen in deinem Alter sind immer so uncool. Besonders wenn sie Cops sind.«

Er schnitt eine Grimasse. »Danke, jetzt fühle ich mich wie ein konservativer alter Tattergreis.«

Sie lachte wieder, ehe sie das Gesicht verzog, als hätte sie Zahnschmerzen. »Wenn ich da an meinen Vater denke …«

»Ist der auch Cop?«

»Schlimmer: Anwalt.«

Jetzt musste Kevin lachen. »Ich weiß, was du meinst. Die meisten Anwälte sind die Pest.«

Sie nickte und machte sich daran, den Rest der Eiscreme vom Boden zu wischen. Kevin tauchte den Finger in einen rosaroten Haufen und leckte daran. Er verzog das Gesicht. »Du hast recht, das Zeug schmeckt widerlich.«

Tom tauchte in der Tür auf. »Kommt ihr? Zeit für die Unterweisung.«

Sie beseitigten schnell, was von der Eiscreme noch übrig war, und gingen ins Wohnzimmer, wo sich die anderen bereits versammelt hatten. Außer den Studenten, die zu seinem »Rudel« gehörten, waren neben Tom, Brian Wolfheart, seine Frau Kayla Skyfire und Toms Frau Annie Rabbit Dancing anwesend. Die vier Hunkpapa Sioux gehörten zu einem in Standing Rock, South Dakota, lebenden Rudel. Brian war ein sogenannter »Wächter«, dessen Aufgabe es war, zusammen mit seinen weltweit verteilten Kollegen dafür zu sorgen, dass alle Werwölfe sich an die Gesetze ihrer Art hielten. Eigentlich war er nicht für Cleveland zuständig; Standing Rock war immerhin gute tausend Meilen entfernt. Doch Nick Roscoe hatte im Auftrag von Brian und anderen Hunkpapa-Wächtern das Schwarze Rudel seines Bruders über elf Jahre lang verfolgt, weshalb sie sich zuständig fühlten. Besonders dafür, dass die letzten Opfer dieses Rudels lernten, so gut wie möglich als Werwölfe in der Gesellschaft der Menschen zu leben.

Kevin blickte sich um. »Wo steckt Patrick?«

Eine der jungen Frauen wollte antworten, aber Tom hob abwehrend die Hand. »Konzentriere dich auf ihn, und dann versuche zu erspüren, wo er sich aufhält. Zu spüren, wo in deinem Revier sich ein anderer Wolf befindet – egal ob er zu eurem Rudel gehört oder nicht –, ist für euch alle essenziell. Sollte einer von euch mal in Gefahr geraten, müsst ihr fühlen können, wo er ist, um ihm zu Hilfe zu kommen.«

Die Aufforderung behagte ihm nicht. Er mochte mit den jungen Leuten aufgrund ihrer aller Natur als Werwölfe so eng verbunden sein wie noch mit niemandem zuvor, aber einem von ihnen nachzuspüren, empfand er als grenzüberschreitendes Eindringen in dessen Privatsphäre. Die anderen mochten jung genug sein, um seine Kinder zu sein, aber er war nicht ihr Vater und hatte nicht vor, sie in dieser Weise zu kontrollieren.

Dafür war er ihr Rudelführer und damit für sie alle verantwortlich. Er tat, was Tom verlangte.

Er spürte die anderen in einer Weise, die fast wie eine Berührung wirkte, verbunden mit einem Gefühl von Vertrautheit, Verbundenheit, als würden sie einander schon ewig kennen. Aufgrund dieses Gefühls konnte er genau sagen, wer zu seinem »Rudel« gehörte und wer nicht, ohne dass er hinsehen musste, wer wo saß.

Er dehnte diese Wahrnehmung widerwillig aus. Nach einer Weile spürte er außerhalb des Hauses zwei Präsenzen, eine in der Nähe, eine so weit weg, dass er sie nur schwach wahrnehmen konnte. Beide wurden begleitet von demselben Gefühl der Verbundenheit. Er glaubte zu wissen, dass die Präsenz in der Nähe Patrick gehörte. Die andere musste demnach Nick Roscoe sein. Dass sich auch zu ihm dieses »Familiengefühl« einstellte, machte ihm bewusst, dass Nick ebenfalls zum Rudel gehörte.

Ein unbehaglicher Gedanke, nachdem er von Brian erfahren hatte, dass Nick seinen eigenen Bruder buchstäblich in Stücke gerissen und so nachhaltig zerfetzt hatte, dass nicht mehr genug von ihm übrig geblieben war, was man hätte beerdigen können. Noch unbehaglicher war der Gedanke, dass Nick dadurch der rechtmäßige Rudelführer war und jederzeit kommen und diesen Posten beanspruchen könnte. Da Kevin noch lange nicht genug »Wolf« war, um einen Kampf um die Führerschaft gegen Nick zu bestehen, war von vornherein klar, wie eine solche Konfrontation ausgehen würde. Brian hatte ihm jedoch versichert, dass Nick weiterziehen würde, sobald er sich nach seinem Blutrausch wieder gefangen hatte.


Die vollständige Story steht als PDF, EPUB und MOBI zur Verfügung.

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  1. siehe Sukkubus 9 »Das Schwarze Rudel«
  2. siehe Sukkubus 6 – »Die Fackel des Thanatos«

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