Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Detektiv – Band 26 – Doktor Satanas – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 26
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Doktor Satanas

Teil 4

Lautlose Stille im Zimmer. Die Prinzessin schluchzte nur hin und wieder kaum hörbar auf.

Dann schritt Harst auf das Nachttischchen zu. Dort lag halb auf dem Bettvorleger, einem prächtigen Tigerfell, eine Zeitung. Sie lag so, wie sie der Hand desjenigen entglitten sein konnte, der vielleicht im Bett noch bei einer Zigarre gelesen hatte.

Harst kniete nun, hatte sich tief über die Zeitung gebeugt. Es war die Batavia-Post. Die Titelseite lag nach oben. Auch das Papier hatte drei Blutspritzer.

»Es ist die Ausgabe von Montag vor dem Mord«, sagte er nun, ohne den Kopf aufzurichten. »Sie ist am Dienstagabend hier in Semarang eingetroffen und zur Verteilung gelangt.« Er nahm das Blatt empor und trat damit vor den Ankleidespiegel, hielt die Titelseite schräg gegen des Licht des einen Wandleuchters und meinte: »Wie ein Stempel hat er sich infolge der weichen Fellunterlage abgedrückt! In der Druckschrift fällt er kaum auf. Schliepner hat das übersehen.”

Er legte die Zeitung genauso wieder hin, wie er sie gefunden hatte.

Dann sagte er in leichtem Plauderton zu der Prinzessin: »Hatten Sie viel Regen während der Jagdpartie, Hoheit?«

»Nein. Nur ein kurzes Gewitter.«

Dieses Gespräch über den Jagdausflug dauerte etwa fünf Minuten. Ich hatte dabei das deutliche Empfinden, dass die Prinzessin jede ihrer Antworten vorher genau erwog. Sie wurde auch zusehends nervöser und bleicher, während in ihren Augen ein unruhiges Flimmern die hochgradige, aber mit aller Gewalt niedergehaltene Erregung verriet.

Ich verfolgte jedes Wort, jede Miene, jede Bewegung der beiden mit atemloser Spannung.

Nun schwieg Harst wieder minutenlang. Dann trat er dicht auf die Prinzessin zu.

»Hoheit, wann sind Sie in diesem Zimmer zum letzten Mal gewesen?«, fragte er ernst. »Ich bitte dringend, mir die Wahrheit zu sagen, denn ich kenne diese Wahrheit bereits. Hat Inspektor Schliepner Sie nach Ihrer Rückkehr aus Surakarta hierhergeführt?«

Sie schaute nicht auf. Ein Zittern lief über ihre Gestalt hin. Dann stieß sie überhastet hervor: »Seit Wochen habe ich diesen Raum nicht betreten. Der Inspektor hat mich sofort in meine Gemächer eingesperrt. Ich war nach meiner Rückkehr nicht hier – ganz bestimmt nicht!«

Harst nickte. »Ja ja, nach Ihrer Rückkehr nicht …«

Ich hielt den Atem an. Ich wartete auf einen Nachsatz. Aber er kam nicht! Harst ging vielmehr wieder an das Bett und hob die Zigarre auf – die in der Mitte glatt durchhauene Zigarre, deren Hälften mit zwei Händen Zwischenraum in dem Blut des Kissens festgeklebt waren. Er prüfte die Stücke sehr sorgfältig, beugte sich dann über das Kissen und murmelte wieder: »Ein Brandfleck ist vorhanden. Vielleicht ist dies der Weg zu einer Lösung …«

Er richtete sich auf und wandte sich an die Prinzessin: »Wir können jetzt gehen, Hoheit. Noch eine Frage: Besitzt Ihr Gatte eine Waffensammlung?«

»Ja. Sie hängt an der Wand des Bibliothekzimmers.«

»Würden Sie uns bitte dorthin führen …«

Die Bibliothek war das dritte Zimmer auf der anderen Seite des Hauses. Harst nahm dann verschiedene Schwerter von der Wand und besichtigte die Klingen. Dies dauerte gut eine Viertelstunde. Dann ließ er Schliepner das Schlafgemach wieder versiegeln und erklärte nun der Prinzessin, er möchte den Hundezwinger noch in Augenschein nehmen. Dieser befand sich im Stallgebäude, das sich an den Wirtschaftsanbau rechtwinklig anlehnte. Die Doggen wurden durch den Zuruf der Prinzessin schnell beruhigt.

Dann verabschiedeten wir uns und schritten der Stadt wieder zu. Schliepner ging zwischen uns. Er brannte förmlich vor Neugier, was Harst wohl ausgerichtet haben könnte.

»Gedulden Sie sich!«, sagte Harst jedoch. »Ich weiß noch nicht alles, lieber Landsmann. Jedenfalls aber: Die Prinzessin war in der Mordnacht hier in Semarang. Und ermordet ist auch jemand worden, nur nicht der Doktor Satanas. Nein, dieser selbst ist der Mörder bei dieser Mordtat ohne Toten! Suchen wir also nun den Toten!«

Wir, Schliepner und ich, waren wie angewurzelt stehen geblieben. Und der Inspektor schob sich nun den Hut aus der Stirn, strich sich mit der Hand über seine übergroße Nase und stammelte: »Aus alledem werde der Teufel klug!«

»Möglich, dass der wirklich schlauer ist als wir«, meinte Harst. »Gehen wir aber weiter. Ich habe Sehnsucht nach meinem Bett und dem dicken Pieter Swaardam.«

Er zog uns halb gewaltsam mit sich fort. »So kommt doch! Ich habe noch allerlei zu erledigen!«, fügte er hinzu. »Wir werden Drygaarden hoffentlich in dieser Nacht noch fassen. Dazu bedarf es noch einiger Vorbereitungen. Damit ihr nun aber in dieser Sache etwas klarer seht, soll zunächst Schraut seine Weisheit zum Besten geben. Lege also los, mein Alter. Wie denkst du über unseren Fall.«

Ich erklärte nun genau dasselbe, was ich vorhin schon angeführt habe, ließ mich in meiner Überzeugung auch dadurch nicht beirren, dass Harst soeben behauptet hatte, die Prinzessin sei in der Mordnacht hier in Semarang gewesen.

»Sehr gut!«, meinte Harst, als ich nun schwieg. »Genau dasselbe hatte ich mir anfänglich ebenfalls zusammengereimt, freilich sofort mit dem inneren Vorbehalt, dass es falsch sein müsse. Denn diese Annahme eines Stelldicheins zwischen der Prinzessin und dem Major war mir eben zu einfach; sie lag zu klar auf der Hand. Derartigen Teillösungen eines Falles soll man stets misstrauen – stets! Und hier war dieses Misstrauen durchaus berechtigt. Gehen wir die Sache nun kurz in ihren einzelnen Abschnitten durch. Dieses Verbrechen hat eine Vorgeschichte, eine Einleitung, die man betiteln könnte Die Opferfreudigkeit einer Tochter. Die Prinzessin heiratet den Doktor, weil der alte Fürst sich durch das Spiel ruiniert hat. Zwei Millionen gibt Drygaarden für die schöne, heißumworbene Javanerin hin, offenbar den größten Teil seines Vermögens. Er muss sie also bis zum Wahnsinn geliebt haben. Ein Mann, dem die Liebe nicht den Verstand verwirrt hat, kauft sich nicht eine Frau, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, da er sich notwendig sagen muss, dass eine solche Ehe niemals für ihn ein Glück werden kann. Es kommt denn auch alles, wie es kommen muss: Die Prinzessin verliebt sich als verheiratete Frau in einen anderen!«

»Aha – Jan de Bartreux!«, rief Schliepner.

»Nein, mein Bester, nicht Jan de Bartreux. Welche Rolle dieser in unserem Drama spielt, ist noch nicht geklärt. Es ereignet sich dann Folgendes: Der Doktor merkt, dass die Liebe seiner Frau einem anderen Mann gehört. In seiner großen Eifersucht will er diesen beseitigen. Sein erster Anschlag gegen dessen Leben missglückt. Dann reist die Prinzessin zu ihrem Vater nach Surakarta, nimmt zwei treue Diener mit auf den angeblichen Jagdausflug und kehrt zu Pferde nach Semarang zurück, wo sie – sehr wahrscheinlich – ein Rendezvous mit ihrem Geliebten verabredet hat. Dieser Teil der Tragödie liegt noch etwas im Dunkeln gehüllt da. Jedenfalls ist sie in der betreffenden Nacht im Mordzimmer gewesen. Auf der Zeitung vor dem Bett ist der Absatz eines Frauenstiefels mit acht etwas hervorstehenden Nägeln abgedrückt. Die Nägelköpfe gehören zu einem Messinghufeisen, wie es die Prinzessin unter ihren Jagdstiefeln trägt. Sie gab das zu, als wir über den Jagdausflug sprachen. Sie ahnte nicht, weshalb ich mich mit ihr darüber so lange unterhielt.«

»Ganz recht!«, warf ich ein. »Auch mir war deine Absicht unklar, die Du …«

»Schon gut. Ich behaupte, die Prinzessin hat ihren Geliebten im Verdacht, ihren Mann ermordet und die Leiche beseitigt zu haben. Sie glaubt, ihr Liebhaber sei jetzt entflohen. Sie wird das Schlafzimmer von der Veranda aus durch das Fenster erst betreten haben, als alles schon vorüber, das heißt, als der Mord und die Wegschaffung des Toten schon geschehen war. Sie, bester Schliepner, erwähnten ja gelegentlich, dass das eine Fenster offen stand. Die Prinzessin fand die Blutspuren, wird in hellem Entsetzen davongestürmt und ebenso überhastet nach Surakarta zurückgeritten sein. Ein guter Reiter braucht für die Entfernung Semarang – Surakarta mindestens zehn Stunden. Um elf Uhr vormittags traf die Prinzessin bekanntlich in Surakarta wieder ein. Mithin muss sie Semarang spätestens gegen Mitternacht verlassen haben, und das Verbrechen dürfte am Dienstag zwischen zehn und zwölf Uhr nachts verübt worden sein. Wie wurde der Mord nun ausgeführt – mithilfe eines indischen Hauschwertes mit sehr dünner Klinge aus der Waffensammlung des Doktors! Denn dieses eine Hauschwert war frisch geschliffen, wenn auch nachher künstlich wieder mit Rostflecken versehen worden. Aber der Mörder – der Doktor – hatte sich zur Hervorrufung dieser Rostflecken nach der Tat nur wenig Zeit gelassen. Die Arbeit war nur sehr oberflächlich. Wahrscheinlich wurde Essig dazu benutzt. Das Hauschwert allein war imstande, eine einem Schlafenden aus dem Mund gefallene Zigarre mit seiner dünnen Klinge gleichzeitig mit dem Hals des Opfers so glatt zu durchschlagen. Die Zigarre ist nicht im Geringsten zerblättert, ist wie mit einem Rasiermesser durchschnitten. Ich sage: einem Schlafenden! Denn das Opfer war von Drygaarden durch irgendein Mittel in einen Zustand versetzt worden, der es zwang, des Doktors Bett aufzusuchen, um sich zu erholen. Bald überwältigte den Mann der Schlaf; die Zigarre entfällt ihm, brennt ein kleines Loch in das Kissen. Dieser Brandfleck verriet mir, dass das Opfer künstlich eingeschläfert worden war. So leicht wird kein Raucher im Bett die brennende Zigarre verlieren. Dass kann nur bei außergewöhnlich starker Übermüdung geschehen, die in diesem Fall auf einen Schlaftrunk zurückzuführen sein dürfte, da dieser dem Mörder noch den Vorteil bot, in aller Ruhe den Mann kaltblütig abschlachten zu können. Die Leiche beseitigt er dann. Der Park und die Umgebung sind umsonst selbst mit Spürhunden nach dem Toten abgesucht worden. Dies ist so auffallend, dass man notwendig auf den Gedanken kommen muss, Drygaarden hat die Leiche dort verscharrt, wo Sie, bester Schliepner, sicher nicht gesucht haben: im Zwinger der Doggen!«

»Donnerwetter – das kann stimmen!«, rief der Inspektor.

»Es wird stimmen. Es war für Drygaarden auch das bequemste und sicherste! So, nun zu der Frage, wie ich erfuhr, dass der Doktor noch lebte. Als der Zug auf dem Bahnhof in Surakarta hielt, bemerkte ich einen Javaner, der mir dadurch auffiel, dass er den Baron van Zeerten und den Major scharf beobachtete. Die Javaner setzen nun ohne Ausnahme wie die meisten farbigen Völker die Füße einwärts. Dieser Javaner aber ging so stark auswärts, dass ich stutzig wurde. Ganz nebenbei fragte ich den Major dann im Zug, ob Drygaarden auswärts gehe. Er bejahte und erwähnte noch, dass der Doktor sehr große Füße hätte. Dies traf auch auf den Javaner zu, dessen Gesichtsschnitt mir zudem verdächtig erschien. Schon damals argwöhnte ich, der Doktor sei noch am Leben und habe aus irgendwelchen Gründen den Major belauert. Als ich dann hier noch erfuhr, dass die vier Doggen so außerordentlich bissig sind und nachts keinen Fremden an das Haus heranlassen, war dies ein weiteres Glied in der Kette der gegen Drygaarden sprechenden Beweise. Ein weiteres! Das erste Glied hatte ich schon in Batavia in der Batavia-Post gefunden. Doch davon später. Drygaarden ist jetzt hier in Semarang. Er dürfte mit demselben Zug eingetroffen sein wie wir. Und – er weiß, dass ich jetzt diesen Mord ohne Toten aufklären will. Da hat ihn die Angst gepackt, es könnte ihm an den Kragen gehen. Nur er kann die Doggen herausgelassen haben, nur er hat die schwere Laterne mir auf den Kopf fallen lassen wollen. Er fürchtet mich, und deshalb wird er fraglos noch in dieser Nacht ein neues Attentat versuchen. Dabei will ich ihn abfassen, obwohl ich ihn auch ganz gefahrlos jetzt schon festnehmen könnte. Ich kenne seinen Aufenthaltsort. Swaardam wird dies sofort bestätigen.«

»Swaardam – Swaardam?«, meinte Schliepner und rieb sich wieder seine große Nase. »Herr im Himmel – mir schwirrt der Kopf. Was müssen Sie nur für Augen und was für einen Verstandskasten haben, Herr Harst, um …«

»Übung ؘ– Routine!«, konstatierte Harst mit einem Lächeln. »So – da sind wir ja daheim angelangt. Bitte holen Sie nun Swaardam ganz unauffällig herbei, Landsmann. Wir setzen uns derweil in Ihr Arbeitszimmer.«