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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 5. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
5. Kapitel

Ein Sherlock-Holmes-Griff

»Da hinein wollt Ihr mich führen? Oho, ein Matrose von der Canada schläft nicht in einer so miserablen Koje. Ich habe Euch fünf Schillinge gegeben, nein, ich bin nicht so betrunken, dass ich fünf Schillinge von einem Pence nicht unterscheide. Ich verlange ein großes luftiges Zimmer.«

»Dann müssen wir ins untere Stockwerk«, sagte der Portier des Hotels, »aber wenn Ihr in diesem Zimmer etwas ruiniert, so müsst Ihr es bezahlen.«

»Ich bezahle alles«, lallte der Matrose, »wir haben Geld – ha ha, hört Ihr es klimpern? Drei Jahre bin ich auf der Canada gefahren, aber jetzt muss alles raus – alles raus, was ich in diesen drei Jahren verdient habe!«

Damit holte der Matrose noch zwei Schillinge aus der Tasche und drückte sie dem Portier in die Hand. Dieser schloss ein recht hübsch möbliertes Zimmer auf und zündete die Lampe an.

»Wann wollt Ihr geweckt werden morgen früh?«, fragte er den Matrosen.

»Hol dich der Teufel«, rief der Matrose, »was brauche ich geweckt zu werden. Wenn die Sonne mir ins Gesicht scheint, dann wache ich auf.«

»Dann wünsche ich Euch eine gute Nacht.« Damit verließ der Portier das Gemach, und Sherlock Holmes war allein.

Sogleich richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf, streifte vor allen Dingen die Stiefel von seinen Füßen ab, eilte zu der Tür, die auf den Gang führte, und schob den Riegel vor.

Im nächsten Moment löschte Sherlock Holmess die Lampe, zog eine kleine elektrische Taschenlaterne hervor und ließ das Licht derselben aufblitzen.

Mit dieser elektrischen Laterne leuchtete er die Wände ab und fuhr tastend mit der Hand über dieselben.

»Holz,« murmelte er befriedigt vor sich hin. »Wenn ich mich recht erinnere, so gibt es in Paulsens Hotel nur drei anständige Zimmer. Eines von ihnen bewohne ich, eins wird links von meinem liegen und das andere befindet sich rechts. Man wird Mrs. Aberdeen sicherlich in eines der besseren Zimmer geführt haben. Sie muss folglich meine Nachbarin sein. Ich werde mich einmal überzeugen.«

Nun zog Sherlock Holmes aus der mit Leder gefütterten Hosentasche seine Einbruchswerkzeuge hervor. Er nahm einen kleinen Drillbohrer und drehte ihn in die linksgelegene Wand hinein.

Der gut eingeölte Bohrer arbeitete geräuschlos, das ausgestoßene Holz sickerte zu Pulver zerrieben nieder und es dauerte nicht einmal zwei Minuten, so hatte Sherlock Holmes ein mäßig großes Loch in die Wand gebohrt – groß genug, nur sein Auge daran legen und den angrenzenden Raum überblicken zu können.

»Teufel«, stieß Sherlock Holmes hervor, »nichts zu sehen, versuchen wir es drüben.«

Blitzschnell schlüpfte er zur gegenüberliegenden Wand, operierte auch hier mit seinem Drillbohrer einige Minuten und hatte wieder ein Lugaus geschaffen.

Durch dieses Loch fiel ihm heller Lichtschein entgegen, das rechts gelegene Zimmer war also erleuchtet.

Im nächsten Moment verzogen sich die hageren Gesichtszüge Sherlock Holmes zu einem triumphierenden Lächeln, denn durch das in die Wand gebohrte Loch erblickte er Arabella Aberdeen.

Die schöne junge Frau des Wucherers Aberdeen, die Stiefmutter der so spurlos verschwundenen Elisabeth, saß auf einem Sofa hinter dem Tisch und stützte das Haupt in die Hände. Sie blickte zur Tür hinüber, die zu dem Korridor hinausführte, und Sherlock Holmes hätte nicht einmal ein gewiegter Menschenkenner zu sein brauchen, denn ein einziger Blick genügte, um zu wissen, was in dieser Seele vorging. Er bemerkte, dass diese schöne Frau voll erwartungsvoller Angst beherrscht wurde.

Dann führte Mrs. Aberdeen eine Bewegung aus, welche Sherlock Holmes Kombination über das rätselhafte Erscheinen dieser reichen jungen Frau in dem Hotel um ein gutes Stück förderte.

Sie öffnete nämlich ein paar Knöpfe ihrer Taille und zog aus ihrem Busen ein kleines Lederportemonnaie hervor, entnahm demselben einige Banknoten und zählte dieselben. Sie seufzte tief auf, blickte abermals furchtsam zur Tür hinüber und ließ die Brieftasche wieder in ihrem Busen verschwinden.

Im nächsten Augenblick zog sich Sherlock Holmes von der Wand zurück, streifte seine Stiefel auf die Füße und verließ sein Zimmer.

Er trat an die Tür des Gemaches, in welchem sich Mrs. Arabella Aberdeen befand, und klopfte an.

Deutlich hörte er, wie Arabella einen leisen Schrei ausstieß, dann näherten sich ihre Schritte der Tür, und mit leiser, zitternder Stimme fragte sie: »Bist du es?«

»Öffnet«, gab Sherlock Holmes mit verstellter Stimme zur Antwort.

Der Riegel wurde zurückgezogen und die Tür ein wenig geöffnet. Aber dieser schmale Spalt war groß genug, um die schmächtige Gestalt Sherlock Holmes hindurchzuzwängen und …

»Erschrecken Sie nicht, Mrs. Arabella Aberdeen«, sagte der Detektiv, als er die schöne Frauengestalt wanken sah, »ich komme als Ihr Freund.«

Während er diese Worte sprach, drehte er den Schlüssel zweimal um.

»Was wollt Ihr, Matrose?«, stieß Mrs. Aberdeen hervor und zog blitzschnell aus ihrer Tasche einen kleinen Revolver hervor. »Noch einen Schritt weiter, und ich schieße Euch nieder. Ich werde meine Ehre zu verteidigen wissen. O, mein Gott! Hätte ich dieses entsetzliche Haus doch nicht mehr betreten.«

»Nicht mehr!«, Sherlock Holmes notierte sich in seinem Gedächtnis diese Worte. Sie bewiesen ihm, dass sich Mrs. Arabella Aberdeen nicht zum ersten Mal in diesem Haus befand, sondern demselben schon öfter ihren geheimnisvollen Besuch abgestattet hatte.

»Madam«, sagte Sherlock Holmes mit leiser, aber energisch klingender Stimme, »ich bin kein Matrose, ich bin Ihnen in dieser Nacht gefolgt, als Sie das Haus Ihres Gatten in der Cannon Street verlassen hatten. Ich bin hier, nicht, um Ihnen etwa ein Leid zu tun, sondern um Sie zu beschützen.«

»Zu beschützen? Gegen wen?«

»Gegen den Mann, den Sie erwarten.«

»Ah, Sie wissen …?«

»Ich weiß, dass Sie hier mit einem Mann sich verabredet haben, dem Sie eine Summe Geldes einhändigen wollen, ich weiß, dass Sie nur widerwillig dieses verrufene Hotel betreten haben, dass Sie aber einem Zwang gehorchen müssen.«

»Sie kennen Sie ihn? O, mein Gott, dann bin ich verloren!«

»Sie sind es nicht, Madam, wenn Sie eine einzige Minute lang aufrichtig gegen mich sind. Erzählen Sie mir, welchen Zwang der Mann auf Sie ausübt, den Sie hier erwarten, aber fassen Sie sich kurz. Er wird vermutlich gleich hier sein.«

»Und wenn ich Ihnen nun das Geheimnis meines Lebens anvertraue, wer bürgt mir dafür, dass Sie es nicht missbrauchen?«

»Der Umstand, Mrs. Arabella Aberdeen, dass ich längst hätte Lärm schlagen und Sie verhaften lassen können. Da ich es aber nicht tue, so mögen Sie es als Beweis dafür nehmen, dass Ich ganz auf Ihrer Seite stehe und Sie vor Schaden bewahren will. Sprechen Sie, Madam, und sagen Sie mir alles, und Sie werden in Zukunft von diesem Mann, der Sie gezwungen hat, Ihren Gatten zu hintergehen, nichts mehr zu fürchten haben.«

Ein tiefer Atemzug hob die Brust der Mrs. Aberdeen, dann stieß sie hastig hervor: »Nun gut, erfahren Sie denn alles. Ich schwöre es Ihnen, dass ich die Wahrheit sagen werde. Ich lernte Mr. Aberdeen in Ostende kennen, in der Spielbank trafen wir uns. Er verliebte sich in mich, und da meine Erkundigungen ergaben, dass er ein vielfacher Millionär sei, so reichte ich ihm die Hand, trotzdem ein gewaltiger Altersunterschied zwischen uns bestand. Ich ging mit ihm nach London, ich wurde seine Frau. O, mein Herr, ich glaube nicht, dass Aberdeen es jemals bereut hat, mich geheiratet zu haben. Ich bin ihm treu gewesen, habe ihn gepflegt, ich habe ihn geachtet und war auch seiner Tochter eine gute Mutter.«

»Das ist alles bekannt, nur weiter, nur weiter!«

»Aber ich hatte bei unserer Verlobung Aberdeen nicht die Wahrheit gesagt. Ich durfte seine Werbung eigentlich nicht annehmen, ich hätte sie zurückweisen sollen, denn ich war nicht frei.«

»Ah, verheiratet?«

»Ja, ich war die Gattin eines schottischen Gutsbesitzers, aber mein Mann war, als er sein ganzes Vermögen verloren hatte, nach Australien gegangen, um dort eine neue Existenz zu gründen. Er ließ mir nur 100 Pfund Sterling zurück, und ich sollte, bis es ihm geglückt war, in Australien festen Fuß zu fassen, durch Sprach- und Musikunterricht in London mein Leben fristen. Aber ich war schön, jung, ich wollte das Leben genießen und beabsichtigte nicht, es in der Schulstube zu verbringen. Ich fuhr deshalb mit diesen hundert Pfund nach Ostende in der Hoffnung, mein kleines Kapital verhundertfachen zu können. Hier lernte ich dann Aberdeen kennen, und ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, Millionärin zu werden.«

»Wahrscheinlich tauchte nun Ihr erster Gatte nach Ihrer Vermählung sogleich wieder in London auf?«

Überrascht blickte Mrs. Arabella den Fragenden an.

»Das war in der Tat der Fall. Vier Wochen nach meiner Vermählung erhielt ich einen anonymen Brief, der mich in dieses Hotel bestellte. In diesem Brief wurde nur angedroht, dass, falls ich die Aufforderung unerfüllt ließe, mir das Zuchthaus wegen Bigamie sicher sei.«

»Natürlich gingen Sie zu dem unwillkommenen Rendezvous?«, fragte Sherlock Holmes.

»Ja, damals betrat ich zum ersten Mal dieses Hotel. Ich glaubte vor Entsetzen wahnsinnig werden zu müssen, als ich Jacques vor mir sah!«

»Jacques – das ist vermutlich Ihr erster Gatte, der schottische Gutsbesitzer. Wie ist denn sein vollständiger Name?«

»Auch den sollen Sie erfahren? Nun denn, ich habe mich in Ihre Hände gegeben, Sie können mich durch den Missbrauch meines Vertrauens selbst dem Galgen in die Arme treiben; Sie mögen es erfahren: Mein erster Gatte hieß Jacques Delauny!«

»Er forderte natürlich von Ihnen Geld?«

»Er verlangte tausend Pfund Sterling; ich schwor ihm, dass ich nicht so viel besäße, und er nahm schließlich vierhundert Pfund, über welche ich gerade disponierte. Dafür versprach er, wieder nach Australien hinüberzugehen!«

»Was er selbstverständlich nicht tat«, ergänzte Sherlock Holmes mit leisem Spott, »sondern er steckte die vierhundert Pfund Sterling ein und kam nach sechs Wochen wieder.«

»Nein, es dauerte drei Monate, dann musste ich ihm aber tausend Pfund Sterling zahlen! Hierauf verschwand er für sechs Monate und kam wieder und immer wieder, bis ich heute Morgen von ihm einen Brief empfing, in welchem er mir schwor, dass er gegen eine nochmalige Zahlung von tausend Pfund Sterling für immer aus England verschwinden werde. Nur durch die große Freigebigkeit, welche Aberdeen stets für mich an den Tag gelegt hatte, seitdem wir vermählt sind, war es mir möglich, das Geld herbeizuschaffen, das der Elende mir bisher erpresste; jetzt aber bin ich am Ende angelangt. Ich verfüge nur noch über hundert Pfund, denn ich habe bereits allen Schmuck verkauft und versetzt, habe Schulden gemacht und habe meinem Gatten unter allen möglichen Vorspiegelungen Geld abgefordert, doch jetzt …«

»Es wäre auch ganz vergeblich«, unterbrach sie Sherlock Holmes, »wenn Sie ihm heute tausend Pfund zahlen wollten; dieser Vampir würde doch nicht nachlassen, Ihr Blut zu fordern! Doch antworten Sie nur noch schnell, Madam, auf eine wichtige Frage: Hat Jacques Delauny Ihnen niemals gesagt, auf welche Weise er sein Vermögen verloren hat?«

»Er hat mich bezüglich seiner geschäftlichen Unternehmungen stets im Unklaren gelassen. Ich lebte auf dem Gut in Schottland, während er sich den größten Teil des Jahres in London aufhielt. Nur einmal hörte ich ihn mit fürchterlicher Stimme rufen: »Es gibt einen Mann in England, der mich zugrunde gerichtet hat; aber ich werde mich an ihm rächen. Wie er mir mein Bestes genommen hat, so werde ich ihm sein Bestes nehmen.«

»Wollen Sie von diesem Dämon ein für alle Mal befreit sein, Madam?«, fragte Sherlock Holmes hastig.

»O, Herr, wenn das möglich wäre – ich will ja nichts anderes als friedlich und glücklich bei meinem Mann leben, der durch den Verlust seiner Tochter fast dem Wahnsinn nahe ist. Mag die Welt auf Aberdeen auch Steine werfen, mag sie ihn einen erbarmungslosen Geschäftsmann, einen Wucherer nennen – zu mir war er gut, mich liebt er, er trägt mich auf Händen, und ich weiß es – am selben Tag, an welchem er erführe, dass ich ihn getäuscht habe, dass ich einem anderen Mann angehöre und er auf mich kein Recht mehr hätte, würde er sterben!«

»Und da Sie, Madam, tatsächlich wegen Bigamie ins Zuchthaus wandern würden«, nahm Sherlock Holmes mit hastiger Stimme leise das Wort, »so wäre Ihre mit Mr. Aberdeen geschlossene Ehe vollkommen ungültig und Sie würden, im Falle Mr. Phineas Aberdeen stirbt, auch nicht einen roten Penny von der Erbschaft bekommen!«

Die junge schöne Frau schlug mit einer verzweifelten Bewegung die Hände vor das Gesicht, und große Tränen quollen zwischen ihren Fingern hindurch.

»Weinen Sie nicht, Madam«, rief Sherlock Holmes, »ich werde Sie retten. Allerdings müssen wir sehr schnell und energisch handeln. Zu diesem Zweck gestatten Sie mir gefälligst, dass ich dort hinter dem Wandschirm eine kleine Metamorphose meines äußeren Menschen vornehme.«

»Ich weiß nicht, woher es kommt, aber eine innere Stimme ruft mir zu, Ihnen blindlings zu gehorchen«, rang es sich von den Lippen Arabellas. »Ich fühle, ich besitze in Ihnen einen wahren Freund. Nun gut, treffen Sie alle Vorbereitungen, die Sie für geboten halten.«

»Ich habe nur nötig, meinen Matrosenanzug abzulegen. Da ich unter demselben noch einen zweiten Anzug trage, so fühle ich mich dadurch in meinen Bewegungen etwas beengt, und bei dem zu erwartenden Rencontre dürfte viel voll körperlicher Gewandtheit abhängen.«

Mit diesen Worten zog sich der berühmte Detektiv hinter die spanische Wand zurück, welche eine Ecke des Zimmers abschnitt. Mit einer Schnelligkeit, die von großer Übung im Maskieren zeugte, verwandelte sich hier Sherlock Holmes aus einem Matrosen in einen elegant gekleideten Herrn. Als er nun hinter dem Wandschirm hervortrat, stand ein völlig anderer vor der erstaunten Mrs. Aberdeen. Der Vollbart und die dem Gesicht vordem aufgetragenen Farben und Pinselstriche, die den Zügen künstlich einen dumm-gutmütigen Ausdruck verliehen hätten, waren entfernt worden, und Mrs. Arabella schaute dafür in ein durchgeistigtes energisches Antlitz.

»Schritte!«, stieß Sherlock Holmes plötzlich hervor. »Die Entscheidung naht! Nur Mut und Kaltblütigkeit, Madam. Nehmen Sie hier am Tisch Platz, während ich mich vorläufig noch verborgen halte, um erst im geeigneten Augenblick handelnd einzugreifen.«

Im nächsten Moment hatte Sherlock Holmes die Gasflamme heruntergedreht, die bisher das Gemach hell erleuchtet hatte, dann schob er den Innenriegel der Tür zurück und verschwand blitzschnell und geräuschlos hinter der lang herabwallenden Portiere eines Fensters. Hier war er, selbst bei heller Beleuchtung des Zimmers, vor einer Entdeckung sicher, während er durch einen schmalen Spalt hindurch das Zimmer und die Personen in demselben genau beobachten konnte. Seinen Revolver hatte er schussbereit in einer Tasche seines Rockes stecken.

Da wurde an die Tür geklopft.

»Arabella, bist du da?«, fragte eine raue Stimme von draußen.

»Antworten Sie, Madam«, flüsterte Sherlock Holmes der am Tisch sitzenden und vor Aufregung am ganzen Körper bebenden Mrs. Aberdeen zu.

»Tritt ein, die Tür ist geöffnet«, rief Arabella und presste die Hand auf das laut pochende Herz.

Die Tür ging auf, und im Rahmen derselben erschien ein hochgewachsener, athletisch gebauter Mann in einem eleganten Rock, einen Zylinderhut auf dem Kopf, in der Hand einen Spazierstock mit einer silbernen Krücke. Der Stock war, das bemerkte Sherlock Holmes, der die ganze Erscheinung des Mannes im Nu mit dem Blick eines Detektivs überflog, offenbar ein Degenstock.

Der Mann blieb einen Moment lang an der Schwelle stehen und überschaute mit einem argwöhnischen Blick das Zimmer.

»Also ganz allein«, presste er hervor, »gut, – unser Geschäft wird schnell erledigt sein – hoffentlich hast du das Gewünschte mitgebracht.«

Er schloss die Tür hinter sich, schob den Riegel vor und näherte sich dann hastig der totbleichen Frau, die am Tisch saß.

Arabella brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

»Keine Szene, wenn ich bitten darf«, stieß der Mann hervor, »hier handelt es sich einfach um ein Geschäft – um nichts weiter! Ich verlange von dir diesmal nur lumpige tausend Pfund Sterling! Bildest du dir denn ein, dass ich, dessen Frau du bist, und der ich ein gutes Recht auf dich habe, dumm genug sein würde, am Hungertuch zu nagen, während du die Frau des Millionärs spielst und von Glanz und Reichtum umgeben bist? Schnell das Geld, denn ich habe Eile!«

Mrs. Aberdeen hob langsam die Hand, um die Brieftasche aus dem Busen zu ziehen.

»Hier, da hast du alles, es ist das Letzte, was ich dir geben kann«, stieß sie dann mit versagender Stimme hervor.

»Gib her«, befahl der Mann und griff hastig zu, während seine Augen vor Habgier funkelten. »Doch lass sehen, ob die tausend Pfund auch vollzählig sind«, rief er und öffnete das Portefeuille, um den Inhalt zu prüfen.

Diese Beschäftigung nahm seine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch, sodass er es gar nicht bemerkte, wie sich Sherlock Holmes lautlos seitwärts an ihn heranschlich.

Überdies hatte auch Mrs. Aberdeen in richtiger Erkenntnis der Situation ihr Schluchzen in diesem Augenblick verstärkt, sodass es jedes leise Geräusch übertönte.

Eben hatte der Schurke die Prüfung der Papiere beendet und dabei entdeckt, dass sie lange nicht annähernd die Summe repräsentierten, die er verlangt und erwartet hatte.

Voller Wut über die Enttäuschung hob er drohend den Arm.

Im selben Moment umklammerte Sherlock Holmes mit eisernem Griff das Handgelenk des Erpressers, während er mit seiner Rechten den Revolver hervorriss.

»Ihr seid verhaftet, Jacques Delauny«, rief er mit scharfer Stimme, »gebt Euch keine Mühe, Sherlock Holmes’ Griff hält wie eine Schraube!«

Ein furchtbarer Fluch folgte diesen Worten, dann – ein teuflisches Lachen, und im nächsten Moment erblickte Sherlock Holmes, obwohl er den Arm des Mannes in seiner Hand hielt, den Verbrecher drüben an der Tür.

»Mehr Licht, Mrs. Aberdeen«, rief der Detektiv der jungen Frau zu, welche beiseite gesprungen war.

Im Nu flammte das Licht einer elektrischen Lampe auf, welche Sherlock Holmes Arabella vorhin übergeben hatte mit der Weisung, sie auf seinen Ruf sofort in Tätigkeit zu setzen.

Da krachte ein Schuss – eine Kugel flog dicht am Haupt Sherlock Holmes’ vorüber, zertrümmerte die Fensterscheibe und verlor sich draußen auf der Straße, während zugleich die Tür ins Schloss fiel und flüchtende Schritte die Treppe hinabeilten.

»Hol’s der Teufel«, rief Sherlock Holmes, sich vom Sessel erhebend, »hier ist ein Wunder geschehen!«

Arabella stand zitternd und bleich da, dann sank sie stöhnend in einen Sessel nieder, und unter heißen Tränen stieß sie die Worte hervor: »Ah, das vergaß ich Euch zu sagen!«

»Dass Jacques einen falschen rechten Arm hat«, rief Sherlock Holmes kopfschüttelnd und lächelnd aus, indem er einen kunstvoll gefertigten, durch einen Mechanismus beweglichen Arm betrachtete, den er in seiner linken Hand hielt. »Ja, Madam, damit haben Sie unseren ganzen Plan zunichte gemacht. Teufel, wer kann auch daran denken, dass man einen künstlichen Arm und keinen echten packt, wenn man eine Verhaftung vornehmen will!«

»Jacques Delauny verlor diesen Arm durch einen Jagdunfall, als er noch ein ganz junger Mann war«, stieß Arabella schluchzend hervor, »aber man kommt, – heiliger Gott, die Leute des Hotels werden eine Aufklärung fordern!«

»Die ich ihnen so geben werde, dass sie zufrieden sein sollen!«, beruhigte sie Sherlock Holmes.

»Einen Augenblick, mein Herr, ich komme sogleich zu Ihnen heraus, ich bin Sherlock Holmes!«

Der Detektiv sprach nur einige Minuten mit dem Besitzer des Hotels, dann war alles geordnet. Mrs. Arabella Aberdeen wurde von dem Detektiv selbst bis zu einem Wagen begleitet, der sie in der Nähe der Shadwall Street erwartete und sie in das Haus ihres Gatten zurückbrachte.

Sherlock Holmes aber wanderte, nachdem er sich von der schönen jungen Frau verabschiedet hatte, langsam der Baxer Street zu.

In der Hand trug er einen in Leinwand gehüllten Gegenstand. Es war der künstliche Arm Jacques Delaunys.

Unterwegs schien Sherlock Holmes einen guten Einfall zu haben, denn er lachte einige Male kurz auf und drückte schmunzelnd, fast liebkosend den Arm an seine Brust.

Dann betrat er den Saloon Lee Bostons, der schon in so mancher Nacht sein Absteigequartier gewesen war.

Lee Boston, ein herkulisch gebauter Kneipenwirt mit vollen grauen Haaren, erkannte ihn sofort und trat ihm schon an der Tür entgegen.

»Ein Zettel für Euch, Sir«, sagte er. »Ein kleiner Schuhputzer hat ihn gebracht. Er sagte, ein Zeitungsjunge hatte ihm denselben übergeben.«

»Schon gut, – wie lange ist es her, dass man Euch den Zettel zugestellt hat?«

»Eine halbe Stunde ungefähr.«

»Seid so gut, Lee Boston«, rief Sherlock Holmes, »und gebt mir auf das Ding da acht. Hebt es auf, es ist ein künstlicher Arm; lasst ihn niemanden sehen, ich werde ihn morgen von Euch fordern.«

»Er wird bei mir gut aufgehoben sein!«

Sherlock Holmes trat in den Lichtkreis einer Lampe, entfaltete den Zettel und zuckte plötzlich betroffen zusammen.

Seine Mienen verdüsterten sich, und über seine schmalen, energischen Lippen rangen sich die Worte: »Armer Junge, er ist verloren, wenn nur seine Rettung nicht sofort gelingt!«

Auf dem Zettel, den Sherlock Holmes in der leicht zitternden Hand hielt, standen nämlich die Worte: »Bin den Sandsackmännern in die Hände gefallen, West-India-Docks, ein alter Stall, siebzig Schritt von Harimans Zuckerlager entfernt, helft schnell!«