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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wildschütz – Kapitel 26

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Zeuge

In einer kleinen Kammer der Wohnung des Henkers lag der wieder zum Leben erwachte Delinquent auf dem Bett, obwohl seine Kräfte durch das lange Schwanken zwischen Tod und Leben völlig erschöpft waren. Aber die Natur seiner Jugend kam ihm zu Hilfe, und unter dem Beistand seines Erlösers ging er einer schnelleren und vollkommeneren Genesung entgegen.

Der Kranke hatte sich in seinem Bett aufgerichtet, den Kopf auf die Hände gestützt, das trübe Auge zweifelnd um sich blickend. Alles, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war, erschien ihm wie ein wirrer Traum, und der Gedanke an das Hohe Gericht und seine Schrecken ließ den jungen Mann zittern.

»Es kann nicht sein«, murmelte er nach einer Weile, »und das, was ich bisher geträumt habe, soll sich noch an mir erfüllen. Ja, ja, es wird nicht mehr lange dauern, so werden dich die Schergen zu einem schmachvollen Tode führen. Hör, sie kommen!« fuhr er erschrocken fort, während sein ganzes Wesen unter der Gewalt einer schrecklichen Einbildung zitterte.

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und Herr John trat mit einem freundlichen Gesichtsausdruck ein.

»Nun, wie geht es dir, mein Freund?« fragte er in teilnehmendem Ton, »ich will gern glauben, dass dir das Schwanken zwischen Himmel und Erde etwas übel gemacht hat, aber es ist vorüber, und ich werde dich gewiss wieder so herstellen, wie du warst, bevor du diese schreckliche Galgenfahrt unternommen hast.«

Der junge Mann heftete seinen Blick unverwandt auf den Sprecher und begann erneut, an dem Gehörten zu zweifeln.

»Ist es wirklich wahr, dass ich durch Ihr Mitleid gerettet wurde?«, fragte er nach einer kurzen Pause. »Ach, mein Herr«, fuhr er fort, »sagen Sie mir die Wahrheit und treiben Sie nicht so einen unbarmherzigen Scherz mit Ihrem armen Opfer. Was immer mich erwartet, glauben Sie mir, ich werde es mit mehr Mut, mit mehr Gelassenheit ertragen als die Ungewissheit, in die Sie mich durch die gegenwärtigen Umstände versetzen.«

»Sei unbesorgt, mein Freund«, erwiderte Herr John, »und glaube, dass ich weit davon entfernt bin, unnötige Scherze mit dir zu treiben; mit einem Wort, lass dir sagen, dass du wieder das Leben hast, das ich dir gegeben habe, als niemand mehr an deinem Tod zweifeln konnte. Enthalte dich aller Aufregung«, fuhr der Sprecher fort, »du würdest deine Genesung verzögern, deren Vollendung ich bald herbeisehne, um deine vollständige Befreiung herbeizuführen. Du lebst hier unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und deine Entfernung von diesem Ort muss zu deinem Besten ein Geheimnis bleiben. Du bist hier vollkommen sicher und niemand wird dich bei mir suchen, obwohl dein plötzliches Verschwinden vom Galgen genug Aufsehen und Nachforschungen erregen wird. Aber um dir die lange Zeit zu vertreiben, wirst du einen Begleiter haben, dessen Anblick dir sicher willkommen sein wird«, fuhr Herr John fort, »es ist ein gutmütiger Bursche, und da ihn fast dasselbe Unglück verfolgt hat wie dich, brauchst du ihm nicht zu misstrauen, zumal er viel zu deiner Rettung beigetragen hat.«

»Ich werde mich glücklich fühlen, ihm dafür danken zu können«, sagte der Kranke, »und wenn ich bitten darf, so wünsche ich seinen Besuch recht bald.«

»Er wird kommen«, erwiderte Herr John, »und ehe die Sonne untergeht, werdet ihr beide euch kennen und gute Freunde sein.«

Der Hausherr entfernte sich, und eine Stunde später betrat Curt, der Wildschütz, das Krankenzimmer.

Die beiden jungen Männer blickten sich mehrere Minuten an, jeder sah in dem anderen einen Fremden, und jeder schien den Anstand zu haben, das eingetretene Schweigen zu unterbrechen.

Schließlich streckte Johns Schützling Curt die Hand entgegen. »Nach dem, was mir mein gütiger Wirt vor kurzem mitteilte, habe ich Sie als einen Freund zu betrachten, und Ihr Anblick sagt mir, dass ich daran nicht zweifeln darf; das Unglück behält selten einen Freund«, fügte er hinzu, »aber wenn es doch der Fall ist, so ist anzunehmen, dass der eine ebenso unglücklich sein muss wie der andere«.

»So mag es wohl sein, besonders zwischen uns beiden«, sagte der Wildschütz, »ich für meinen Teil habe genug Ungemach erlitten, und es wäre eine falsche Annahme, wenn ich glauben wollte, dass mir von nun an bessere Zeiten bevorstünden.« Nach diesem gegenseitigen Gedankenaustausch setzte sich Curt auf einen Stuhl, worauf der andere fortfuhr: »Ich bin bisher von unsäglichem Unglück verfolgt worden, der Schein war gegen mich, und bald hätte ich dafür mit meinem Leben bezahlen müssen. Man beschuldigte mich der Mitschuld an dem Verbrechen, das unbekannte Frevler an dem Pächter Andreas verübt hatten. Ich bin weiß Gott unschuldig und weiß nicht, wo und zu welcher Stunde die Tat geschah.

Der Wildschütz hatte die letzten Worte mit Erregung vernommen. »Ha!« rief er dann voll Überraschung aus, »das kann niemand besser sagen als ich, der ich Zeuge war. Ich habe gesehen, und zwar unter Einsatz meines eigenen Lebens, wie sie ihn abgeschlachtet haben, als wäre er ein erlegtes Wild. Ich war Zeuge, wie sie ihm den Kopf abschlugen, den Leichnam in einen Sack steckten und wegtrugen.«

»Was sagen Sie, mein Freund!« rief der Jüngling, »Sie haben es gesehen, o sprechen Sie, wo ist es geschehen, und wer waren diese schrecklichen Übeltäter?«

»Es waren Leute, die Sie nicht kennen, die mir aber umso vertrauter sind – Berthold mit seinen beiden Gesellen Julian und Georg.

Der junge Mann zeigte sich über diese Aussage außerordentlich erregt. »Gott sei Dank«, rief er. »Dann können sie ihrer Strafe nicht entgehen; die beiden Gesellen Bertholds sind im Kerker, und es fehlt nur ein starkes Zeugnis, um sie zu überführen.«

»Dieses Zeugnis wird gewiss erbracht werden«, entgegnete Curt, »und da auch Berthold von mir und Herrn Johann gefangen genommen worden ist, so kann es nicht ausbleiben, dass er mit seinen Helfern das gleiche Schicksal teilt.«

»So wird meine Unschuld doch noch ans Licht kommen«, sagte der Kranke, »ach, hätte ich doch jemanden, der sie verteidigen wollte, ich würde diesen Dienst in meinem Leben nie vergessen.«

“Diesen Dienst will ich Ihnen leisten”, antwortete der Wildschütz rasch, “obwohl es eine Tat ist, deren Ausführung für mich selbst nicht ohne Gefahr ist. Auch mir ist das Gesetz auf den Fersen, und es kann sein, dass mich die Strafe trifft, die ich verwirkt habe.«

»Nein, nein!« rief der andere, »ich will nicht, dass Sie um meinetwillen in Gefahr geraten; es liegt mir fern, meine Freiheit auf Kosten eines anderen zu erlangen.«

»Lassen wir das«, erwiderte Curt, »ich hoffe, dass meine Strafe gemildert wird, sobald ich in einer so wichtigen Angelegenheit, wie wir sie eben besprochen haben, Aufklärung zu bringen vermag. Ich will selbst in die Stadt gehen und dem Gericht meine Aussage machen; ich will den drei Verbrechern gegenübertreten und ihnen ihre Frevel ins Gesicht sagen, dass sie schweigen sollen.«

Curt ließ sich von diesem Vorsatz durch keinen Einwand abbringen; er war fest entschlossen, und was er sich einmal vornahm, unterlag selten einer Änderung. Er teilte Herrn John seine Absicht mit, ihn zu verlassen.

»Bist du verrückt?«, rief der gute Mann. »Und willst du deine Hand in den Rachen des Wolfes stecken? Bedenke, wie der alte Graf Praßlin sich freuen wird, dich so leicht zu fangen. Er wird alles daran setzen, dich für deine ihm bewiesene Frechheit exemplarisch zu bestrafen. Du wirst mindestens sechs Jahre Kerkerluft atmen müssen, und das ist, bei Gott, eine lange Zeit, um den Schritt zu bereuen, den du jetzt tun willst.«

»Ich hoffe auf eine mildere Strafe«, erwiderte Curt, »wenigstens habe ich dann die Beruhigung gewonnen, die Schuldigen dem Gericht übergeben und die Unschuldigen von dem geringsten Verdacht befreit zu haben, und dass ich das gewiss tun werde, ist mein unwandelbarer Entschluss, den niemand ändern soll.«

Bedenke es wohl, ehe du gehst«, erwiderte Herr Johann, »ich kann dich nicht zurückhalten und entbinde dich auf dein Verlangen von jeder Pflicht mir gegenüber. Ich habe es gut mit dir gemeint, und es ist nicht meine Schuld, wenn es dir schlecht geht.«

»Es soll nicht die Ihre sein«, versetzte Curt, »und ich erkenne dankbar an, dass Ihre Güte, Ihr Edelmut alles für mich tun will, was nur ein treuer Freund für den anderen zu tun vermag, und ich will nicht scheiden, ohne den innigen Wunsch auszusprechen, dass der Himmel Sie segnen möge für das Mitleid und die Barmherzigkeit, die Sie einem armen Verfolgten erwiesen haben, der hierher kam, verfolgt von seinen Häschern wie ein gehetzter Hund, den man zu töten sucht, um irgendeinen Nutzen für das Gemeinwohl daraus zu ziehen. Auf Wiedersehen. Herr John, ich verlasse Ihre Schwelle, wie ich sie betreten habe, und lege Ihnen meinen innigsten und wärmsten Dank als Opfer dar. Leben Sie wohl!«

Und der junge Mann ergriff gerührt die Hand seines Wohltäters und drückte sie an sein Herz.

»Bleib noch ein Weilchen«, sagte der gute Johann, »in diesem Zustand sollst du mein Haus nicht verlassen, folge mir hinauf, ich will dich vorher noch etwas besser ausstatten, damit deine Erscheinung einen besseren Eindruck auf die mache, denen du begegnest.«

Curt weigerte sich anfangs, den neuen Beweis der Freundschaft des edlen Mannes anzunehmen, aber dieser ließ sich nicht von seinem Willen abbringen. Es dauerte nicht lange, so stand Curt gut gekleidet vor seinem ehemaligen Herrn, der den jungen, kräftigen Mann mit einer Mischung aus Sorge und Freude betrachtete.

»Geh mit Gott«, sagte er dann, »und handle nach den Eingebungen deines Inneren, das im Grunde gut ist, auch wenn du nicht frei bist von Verfehlungen, die dir gefährlich werden müssen. Lebe wohl und gedenke meiner als eines Mannes, den du als deinen aufrichtigsten Freund betrachten darfst.«

Curt zögerte nicht länger, eine Träne und ein Händedruck waren alles, was er erwidern konnte, dann griff er nach seinem Stock, hängte sich ein kleines Bündel über den Arm und schritt rasch zur Tür hinaus. Herr John sah dem Wanderer mit bewegtem Herzen nach und wandte seinen Blick nicht von der entschwindenden Gestalt, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Mit raschen Schritten folgte Curt dem Weg, der ihn der Residenz am nächsten brachte, die er glücklich erreichte. Der Zufall führte ihn an der Wohnung der alten Martha vorbei, und er konnte nicht umhin, in sie einzutreten, um sich nach dem Befinden der armen blinden Fanny zu erkundigen, die er seit dem Tage ihres Unfalls nicht mehr gesehen hatte.