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Die Plauderstube – Dreimal um Mitternacht – Kapitel 1

Dreimal um Mitternacht
Eine historische Novelle
1. Das gefährliche Fenster

Es war am achten Tag des Junimondes im Jahre 1556, als nach Einbruch der Dunkelheit ein heftiges Gewitter über die Stadt Gent hereinbrach. Bald setzte heftiger Regen ein, der alle Straßen unter Wasser setzte, und alle suchten Schutz vor dem Unwetter. Während ringsum alle Bürger in ihre Häuser eilten und sich bei jedem der immer häufiger werdenden Blitze andächtig bekreuzigten, schien sich ein Jüngling allein über die wütenden Ausbrüche der zornigen Natur zu freuen, und seine sonst sorgenvolle Stirn hatte einen ihm fremden Ausdruck von Heiterkeit angenommen. Dieser junge Mann hieß Joos Claes und war, wie schon sein Vater, einer der besten seines Handwerks, des Drechslers. Niemand im ganzen Königreich, den Niederlanden, konnte es ihm gleichtun, wenn es darum ging, die Rückenlehne eines Sessels oder den Griff eines Messers aus Ebenholz zu runden und zu schnitzen, und er war kaum imstande, alle seine zahlreichen Kunden zufrieden zu stellen. Wäre er ebenso fleißig wie geschickt gewesen, hätte er leicht zu großem Reichtum gelangen können, aber Joos arbeitete nur selten. Wenn er sich an die Drehbank setzte, so dauerte es nicht lange, und sein Fuß hatte vergessen, das Rad zu drehen, so wie seine Hand den Grabstichel vergessen hatte, mit dem er das Holz so schön meißelte. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und er selbst war in endlose Träumereien versunken. Weckte ihn dann die Stimme seiner Mutter aus diesem düsteren Sinnen, so zitterte er am ganzen Leibe, schreckte zusammen, als sei er aus tiefem Schlaf aufgeschreckt worden, und wandte sich meist ab, um seine Tränen zu verbergen. Seine Mutter nun, ganz betrübt darüber, das einzige Kind, das ihr noch geblieben war, in Trauer und Kummer dahinsiechen zu sehen, flehte ihn an, er möge ihr nicht länger verheimlichen, was ihn so in Verzweiflung stürze, und versicherte ihm, wenn sie erst wisse, was ihn quäle, werde sie auch ein Mittel dagegen zu finden wissen. Joos aber antwortete, er habe gar kein Geheimnis, machte sich dann wieder an seine Arbeit und fiel bald wieder in den früheren Zustand des starren Brütens zurück, aus dem er nur erwachte, um seine bedrückte Brust wieder mit Tränen zu erleichtern.

Man kann sich den Kummer und die Sorge der armen Witwe erst richtig vorstellen, wenn man weiß, dass ihr von sieben geliebten Kindern und einem ebenso guten wie zärtlichen Gatten nur dieses eine Kind geblieben war. Sechs ihrer Kinder waren in einer einzigen Woche von einer verhängnisvollen ansteckenden Krankheit dahingerafft worden, und der Vater, ein gutmütiger Mann, war einem so schweren Verlust erlegen und bald darauf seinen kleinen Engeln in den Himmel gefolgt. Seine arme Witwe, Gertrud, hatte den kleinen Joos, der damals vier Jahre alt war, nur durch die sorgsamste und beständigste Pflege retten können. Seit jener Trauerzeit hatte sie all ihre Liebe, all ihre Freude, all ihre Hoffnung auf dieses eine teure Haupt übertragen, und sie hätte gern ihr Leben geopfert, wenn sie dadurch auf die Lippen des jungen Mannes jenes heitere, offene Lächeln hätte zurückrufen können, das dort während seiner Knabenzeit geblüht hatte; aber, wie ich meinen Lesern schon erzählt habe, eine dumpfe Traurigkeit, ein Kummer, dessen Ursache er hartnäckig geheim hielt, nagte fortwährend an ihrem Sohn.

Jeden Abend, sobald sich der Schleier der Dunkelheit über die Stadt legte und das Glöcklein der Feuerwehr die Bürger rief, in ihre Häuser zurückzukehren und sich behaglich auf ihre Betten zu legen, jeden Abend ging Joos spät hinaus und irrte, Gott weiß wohin, ohne sich um die Gefahr zu kümmern, dass einer der zahlreichen Nachtwachen, die die Stadt durchstreiften, Feuer auf ihn legen und ihn töten könnte. Ein einziges Mal hatte ihn seine Mutter von diesen lebensgefährlichen nächtlichen Streifzügen abhalten wollen; aber der sonst so gehorsame Sohn hatte sich nicht gescheut, seiner Mutter den Gehorsam zu verweigern, er, der es nie gewagt hatte, gegen ihren Willen zu handeln. Seitdem mochte sie sich einer solchen Kränkung nicht mehr aussetzen, und so ließ sie geschehen, wogegen sie sich nicht zu wehren vermochte, obwohl sie jeden Abend von dem Augenblick an, da Joos das Haus verlassen hatte, bis zu seiner unversehrten Rückkehr von tödlicher Angst gequält wurde.

An dem Tage, an dem unsere Erzählung beginnt, hüllte sich Joos, der, wie ich schon sagte, den Sturm zu begrüßen schien, gegen zehn Uhr abends wie gewöhnlich in seinen Mantel und machte sich auf den Weg zum Ufer der Lieve, eines kleinen Stadtwinkels von Gent, der in die Schelde mündet. Als er endlich in eine der Uferstraßen gekommen war, löste er von einem eisernen Ring einen daran befestigten Kahn, stieg in diesen und ruderte mit Hilfe einer Stange auf ein etwa zweihundert Schritte entferntes Haus zu, dessen Hinterseite dem Fluss zugewandt war und dessen Keller vom Wasser des Flusses umspült wurde. Vor dem Haus angekommen, warf er einen prüfenden Blick auf die Fenster, die fast alle von innen erleuchtet waren, und wartete geduldig, ohne auf den niederprasselnden Regen zu achten, bis die Lichter nacheinander erloschen waren.

Als nun auch das letzte Licht verschwunden war, blieb das Haus noch etwa eine Viertelstunde in völliger Finsternis, bis sich langsam und leise ein Fenster öffnete. Joos hob lebhaft den Kopf, und mit einem vor Freude und Glück strahlenden Wesen löste er eine seidene Strickleiter, die er um den Gürtel unter seinem Mantel geschlungen hatte, und befestigte sie an einem Strick, der vom Fenster herab an der Wand entlanglief. Dann wurde das Seil und mit ihm die Strickleiter hinaufgezogen, und im fahlen Schein eines Blitzes sah Joos, wie zwei kleine weiße Hände die Schlaufen an den Eisenstangen befestigten, mit denen das Fenster verbarrikadiert war. Joos kletterte nun schnell und flink an dem brüchigen Gerüst empor und sah sich bald einem schönen Mädchen gegenüber, das aber, als er es auf die Stirn küssen wollte, sanft zurückwich, so dass Joos’ Lippen nur die kalten Eisenstäbe des Gitters berührten.

»Nein, Joos«, sagte sie, »nein! Du hast geschworen, mir nur ein Bruder zu sein, bis Gott sich in seiner Barmherzigkeit unserer Liebe erbarmen will; halte auch dein Versprechen. Mein Gott! Ist es nicht genug für ein Mädchen, sein Leben und seine Ehre um deinetwillen aufs Spiel zu setzen? Denn wenn auch nur eine lebendige Seele in der Stadt von unseren nächtlichen Zusammenkünften wüsste, so wäre es für immer um meinen guten Ruf geschehen; und wenn mein Vater je herausfände, dass ich trotz seiner wiederholten Verbote meiner Liebe zu dir nicht abgeschworen habe, so würde er mich gewiss auf der Stelle töten.«

»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern«, sagte der junge Mann, »ich habe nicht vergessen, dass Stina Beemans die Tochter des reichen Zunftältesten der Metzger ist und dass mich unüberwindliche Hindernisse von ihr trennen … Leb wohl!«

»Das sind nur deine üblichen Torheiten, Joos! Es lohnt sich wirklich, uns beide so vielen Gefahren auszusetzen, nur um uns zu zanken!«

Zufällig, aber doch mit Absicht, glitt bei diesen Worten sein weißes Händchen durch die Gitterstäbe und kam so nahe an die Lippen des Drechslers, dass er sie darauf drücken konnte, wodurch der Streit sehr bald ein Ende fand.

»Nun«, sagte das Mädchen zu ihm, »hast du deinen Onkel Ullens gesehen, und dürfen wir von dieser Seite her auf ihn hoffen?«

»O nein! Mein Onkel wollte mich nicht einmal anhören. O glaube mir diesmal, Stina, gib deine unglückliche Liebe zu mir auf, eine Liebe, die bisher nur Tränen hervorgerufen hat und die in den Abgrund des Verbrechens führen kann.«

»Meinst du, Stina Beemans ist so wenig standhaft in ihren Entschlüssen, Joos? Nein, bei meiner Schutzpatronin, der heiligen Justina, ich bin die Tochter meines Vaters, und nichts kann mich von meinem einmal gefassten Entschluss abbringen. Als meine Mutter noch lebte, Joos, hat sie unsere Liebe gebilligt und unsere Hände ineinandergelegt, indem sie dich meinen Bräutigam nannte und mir befahl, dich mein Leben lang treu zu lieben. Mein Vater selbst hat damals den Plänen meiner Mutter zugestimmt. Wenn er auch seither seine Meinung geändert hat, so ist doch meine Zärtlichkeit dieselbe geblieben; mein Herz kann man nicht nehmen und geben wie ein Haus. Ich bin dein, Joos, bis in den Tod.«

»Danke, Stina, für deine Liebesworte; du gibst mir mit ihnen Mut und Glück zurück.«

»Leb wohl, Joos, bis morgen! Ich höre Lärm im Haus, flieh schnell!«

Ohne Widerstand zu finden, drückte Joos nun zum Abschied seine Lippen auf Stinas Stirn, und freudetrunkenen Herzens stieg er schnell die Strickleiter hinab, um seinen Kahn zu erreichen, aber die Füße unseres Helden berührten nur das Wasser des Flusses – der Kahn war verschwunden. Joos glaubte, die Bewegung der Wellen habe ihn ein kurzes Stück mitgerissen, und streckte daher seine Beine so weit wie möglich von sich, um ihn zu finden und an sich zu ziehen, aber der Versuch blieb ohne Erfolg. Im selben Augenblick löste Stina, die glaubte, er sei schon die Leiter hinuntergeklettert, diese vom Seil, so dass er bis zum Gürtel ins Wasser fiel und unfehlbar untergegangen wäre, wenn nicht seine Hände, fast wie durch ein Wunder, einen eisernen Haken ergriffen hätten, der aus einer Stelle der Mauer herausragte.

Krampfhaft und mit aller Kraft klammerte er sich daran; aber bald merkte er, dass der alte, verrostete Haken, der nur lose zwischen zwei Mauersteinen steckte, nicht stark genug war, um sein Gewicht zu tragen, sondern allmählich nachgab, so dass er in den Abgrund zu stürzen drohte. Der Tod war unausweichlich, denn wenn er erst einmal in das Wasser gefallen war, gab es bei der ungeheuren Tiefe von mehr als zwanzig Fuß umso weniger Möglichkeiten, sich zu retten, als der Grund aus einem haltlosen Schlamm bestand. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu versuchen, ob er vielleicht schwimmend das gegenüberliegende Ufer erreichen könnte, wo die Häuser weiter vom Fluss entfernt waren und eine Landung möglich war; aber die Entfernung war beträchtlich, außerdem herrschte völlige Dunkelheit, und der Sturm tobte wütender denn je. Um sein Unglück vollkommen zu machen, hatte er, als er die Strickleiter hinaufgestiegen war, seinen Mantel aufbehalten, und dieser, durch das unaufhörlich vom Himmel herabströmende Wasser noch schwerer geworden, hinderte nun nicht nur durch sein Gewicht, sondern auch durch seine Falten den unglücklichen Joos, sich frei zu bewegen, während es ihm zugleich unmöglich war, sich davon zu befreien. So empfahl er in einem kurzen Gebet seine Seele der göttlichen Barmherzigkeit und ließ dann entschlossen den Haken los, indem er die Arme zum Schwimmen ausstreckte. Im selben Augenblick aber erhielt er mit einem Ruder einen heftigen Schlag auf den Kopf, und aus dem tosenden Sturmgetöse drang ein lautes, höhnisches Gelächter an sein Ohr. Dann wurde mit kräftigen Ruderschlägen ein mit zwei Männern besetzter Kahn, der, seit Joos die Strickleiter bestiegen hatte, vor dem Fenster seinen Platz eingenommen hatte, von ihm weggetrieben.

Während dies auf der Lieve vor dem Hause geschah, trat im Hause Meister Beemans in das Zimmer seiner Tochter und ließ den Schein einer Laterne, die er in der Hand hielt, auf das Gesicht der ängstlich und erschrocken zusammenzuckenden Stina fallen.

»Liebchen«, sagte er mit einem bitteren, spöttischen Lächeln, »junge Mädchen, die so spät in der Nacht noch am Fenster frische Luft schnappen wollen, setzen sich zu sehr der Gefahr einer Erkältung aus. Du wirst also von nun an dieses Zimmer mit dem an mein Schlafgemach angrenzenden tauschen und dich gleich dorthin begeben. Es ist zwar ein wenig dunkel, aber umso geeigneter scheint es mir, um dort ein De profundis zu beten; überhaupt würde es dir, meiner Meinung nach, gar nicht schaden, wenn du bald ein wenig an dieses Gebet denken würdest: Es könnte leicht jemand bedürfen.«

»Vater, Vater, was wollt Ihr damit sagen?«, rief Stina, deren entsetzliche Angst und Furcht sie über den Ekel, den ihr Vater ihr einflößte, hinwegtrug.

»Nichts«, antwortete der Metzger. »Müssen wir nicht alle Christen in unser Gebet einschließen? Nun, der Sturm, der draußen heult, ist fürchterlich, und wenn irgendein Fahrzeug so verwegen wäre, sich jetzt auf den Fluss zu wagen, so könnte seine Besatzung durch irgendeinen unglücklichen Zufall ums Leben kommen. Darum sage immer ein De profundis; man weiß nicht, wem es nützen wird.«

»Um Gottes willen, lieber Vater, rette ihn, rette ihn!« rief das Mädchen und fiel vor Beemans auf die Knie. »Oh, lasst ihn nicht untergehen, rettet ihn, ich beschwöre Euch beim Andenken meiner seligen Mutter, die im Himmel ist und uns hört, rettet ihn! O Gott! Ihr stößt mich zurück! O rettet ihn, und ich schwöre Euch bei der Seligkeit meiner Seele, ich will ihn nie mehr sehen, ich will ihn nie mehr suchen, ich will mich bemühen, ihn zu vergessen … Aber um Himmels willen, lasst ihn nicht untergehen, rettet ihn vor dem Tod!«.

»Schweig, du schamlose Dirne! Schweig und sprich nicht mehr von diesem Elenden, um dessentwillen du deine Ehre aufs Spiel gesetzt und dich der öffentlichen Schande preisgegeben hast. Glaubst du, eure nächtlichen Zusammenkünfte wären lange ein Geheimnis in der Stadt geblieben? Du wirst ihn für immer meiden müssen … Aber höre! Du hörst nichts mehr, weder Ruderschläge noch Menschenstimmen … Aber ich höre die Haustür aufgehen … Nun, das sind deine Brüder, die zurückkehren, nachdem sie die Ehre ihrer Familie gerächt haben.«

Aber Stina hörte nichts mehr, denn sie lag ohnmächtig zu Füßen des Metzgers. Dieser warf ihr einen kalten, gleichgültigen Blick zu, hob sie auf das Bett und ging ins Nebenzimmer, wo seine beiden Söhne auf ihn warteten.

»Nun Jungs!«, sagte er.

Der Ältere zeigte ihm eines ihrer Ruder, das noch blutverschmiert war.

»Zerbrich das Ruder«, sagte Beemans, »zerbrich es und wirf die Stücke ins Feuer, damit niemand auch nur die geringste Ahnung von unserer Rache bekommt. Man muss den Tod eines Feindes nur für einen Zufall halten. Wenn man euch morgen davon erzählt, so hütet euch zu antworten: Schade um ihn, er war ein tapferer Bursche – Nun gute Nacht, legt euch zu Bett, ihr seid meine braven Söhne.«

Er umarmte sie und setzte sich dann vor den Kamin, in dem die blutigen Trümmer des zum Mordwerkzeug benutzten Ruders brannten, nachdem er zuvor zwei oder drei große Kriegerbiere geleert hatte, deren Inhalt ausgereicht hätte, einen gewöhnlichen Trinker zu berauschen und krank zu machen. Auf ihn aber machten sie keinen anderen Eindruck, als dass sie ihn in Verbindung mit der wohltuenden Wärme des flackernden Kaminfeuers sanft einschläferten.

Während sich dies in und um das Haus des Metzgers abspielte, schritten zwei Männer, dicht in ihre Mäntel gehüllt und ihre Gesichter unter den breiten, nach unten gezogenen Krempen ihrer Hüte verborgen, schweigend durch die menschenleeren, stillen Gassen von Gent. Von Zeit zu Zeit blieb einer von ihnen stehen, um im fahlen Schein der Blitze das eine oder andere der merkwürdigen Gebäude Gents zu betrachten, dann setzte er seinen Weg in Begleitung seines schweigenden Begleiters fort. So gelangten sie endlich an das Ufer des Flusses. Derjenige der beiden nächtlichen Wanderer, welcher der bedeutendere zu sein schien, setzte sich nun am Ufer nieder, ohne den Regen im Geringsten zu beachten, und als ob er vielmehr eine geheime Lust daran hätte, dem Rauschen des Wassers und dem wütenden Heulen des Windes zu lauschen, heftete er starr und unablässig seine Blicke auf die vom Sturm aufgewühlten und gegeneinanderschlagenden Wogen. Während er aber so mitten unter dem Rasen der entfesselten Elemente seinen Gedanken nachhing, stampfte sein Begleiter, der von weniger träumerischer Natur war und daher weit weniger Vergnügen daran finden konnte, zu so später Nachtstunde und bei so unfreundlich rauem Wetter am Ufer der Lieve Schildwache zu stehen, dumpf mit den Füßen, um sich zu wärmen, und suchte den Regen von seinem Mantel abzuschütteln und sich noch fester in dessen bergende Falten zu hüllen. Trotzdem wagte er es nicht, auf und ab zu gehen, noch seinen Unmut durch Worte kundzutun, während der andere, von der nassen Kälte durchdrungen, den Unglücklichen gar nicht zu beachten schien, sondern sich allein an dem düsteren Ort wähnte. Endlich begann sich der Sturm zu legen, die Wolken, die den Himmel bedeckten, begannen sich zu lichten, und durch eine Lücke des schwarzen Schleiers, der sein Licht bis dahin ganz verhüllt hatte, sandte der Mond seine reichen, glänzenden Strahlen. Die Lieve schien unter dieser plötzlichen Beleuchtung zu glänzen, und der alte Mann, der noch immer am Ufer saß, brach plötzlich in die Worte aus: »Graf, das ist das Bild meines Schicksals! Erst Sturm und Nacht, am Ende aber die Ruhe und der Glanz des ewigen Lebens; erst die dunklen, finsteren Gedanken dieser Welt, dann die strahlend reinen Gedanken des Himmels!«

Der Graf erwiderte nichts auf diesen Ausruf, sondern gab nur durch eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung seine Zustimmung zu erkennen.

»Aber, was sehe ich da unten auf dem Wasser!«, ergriff der Alte wieder das Wort. »Sehen Sie da unten nicht etwas schwimmen? Gott steh mir bei, das ist ein Mensch, der mit dem Tode ringt! Man muss ihm zu Hilfe kommen! Aber nein! Es ist nur noch ein Leichnam. Seht, er schwimmt steif und bewegungslos, soweit ich es im unsicheren Mondlicht erkennen kann. Sein Kopf scheint blutüberströmt. Helft mir, Graf, ihn ans Ufer zu bringen. Seht, die Strömung treibt ihn auf uns zu, und mit Eurem Schwert werden wir ihn aus dem Wasser ziehen können.«

Mit einer ungestümen Bewegung der Ungeduld riss er seinem Begleiter, der ungeschickt mit dem Schwert hantierte, dieses eilig aus der Hand, beugte sich zur Strömung hinab und bekam schließlich den Ertrinkenden mit dem Griff des Schwertes zu fassen, worauf er ihn ohne große Mühe ganz zu sich heranzog und mit ungewöhnlicher körperlicher Kraft aus dem Wasser holte.

»Es ist ein junger Mann«, sagte er, »sein Herz schlägt nicht mehr, und seine Lippen geben keinen Laut mehr von sich. Aber das macht nichts; wir wollen nichts unversucht lassen, was ihn vielleicht ins Leben zurückrufen kann, das in ihm vielleicht doch noch nicht ganz erloschen ist. Hilf mir, ihn zu tragen.«

Der Alte nahm den Leichnam auf die Schultern, sein Begleiter fasste ihn an den Füßen, und so machten sie sich auf den Weg zum Platz von Poel. Unterwegs begegnete ihnen die Scharwache, und der kommandierende Offizier hielt sie natürlich an, denn zwei Personen, die zu so später Nachtstunde mit einem Leichnam beladen durch die Straßen irrten, waren eine mehr als verdächtige Erscheinung. Kaum aber hatte der Begleiter des Greises ein paar Worte gesprochen, als der Offizier auch schon in aller Ehrfurcht sein Haupt entblößte und zwei seiner Soldaten befahl, den Leichnam auf ihre Schultern zu laden und allen Befehlen, die die beiden Unbekannten ihnen geben würden, genau zu gehorchen. Sie trugen den Leichnam bis an die Schwelle einer kleinen, im Dunkeln verborgenen Tür, zu der der Alte den Schlüssel hatte. Kaum hatte er sie geöffnet, eilten drei alte Diener herbei, nahmen auf ein Zeichen des Grafen den Leichnam aus den Händen der Soldaten und trugen ihn vorsichtig eine kleine Wendeltreppe hinauf, die direkt von der Tür zu einer Reihe großer Gemächer führte. Dort angekommen, legten sie den Leichnam auf ein Totenbett, und zwei von ihnen begannen sogleich, unter der Leitung des Greises, dem gegenüber ihr Benehmen alle Zeichen höchster Ehrfurcht trug, ihm die nötige Hilfe zu leisten.

»Geh sofort zu einem Priester und einem Arzt«, sagte der Alte zu dem dritten Diener, der bis dahin schweigend auf seine Befehle gewartet hatte. »Vielleicht kann man, wenn schon nicht den Körper, so doch die Seele retten.«

Kaum waren diese Worte gesprochen, als ein Priester und ein Arzt eintrafen.

Der alte Mann, müde von seinem nächtlichen Spaziergang, setzte sich oder vielmehr sank in einen großen Lehnstuhl, der neben dem brennenden Kaminfeuer stand. Man konnte unschwer erkennen, dass es nicht so sehr die Last der Jahre war, als vielmehr die Anstrengung, die seinen Körper gebeugt und seine Stirn in Falten gelegt hatte. Sein rötlicher, nach spanischer Sitte spitz geschnittener Bart, seine lebhaften Augen, deren durchdringenden Blick man nicht lange ertragen konnte, gaben seinem blassen Gesicht, in dem die Wangenknochen scharf hervortraten, einen mehr bitteren als scharfen Ausdruck, und doch flößten seine Züge im Ganzen eine Ehrfurcht ein, der sich keiner der Menschen, die ihn in diesem Augenblick umgaben, nicht einmal der Priester und der Arzt, zu entziehen vermochte. Seine Kleidung bestand aus einem sehr einfachen Gewand aus grobem, grauem, flandrischem Tuch, bei dessen Schnitt und Anfertigung der Schneider offenbar mehr auf Bequemlichkeit als auf die Erfordernisse von Eleganz und Mode geachtet hatte. Ein Diener entledigte ihn auf einen Wink seiner kleinen, makellos schönen Hand seines vom Regen durchnässten Mantels, während ein anderer ihm statt der schmutzdurchtränkten Schuhe weite, mit Hermelin gefütterte Samtpantoffeln überreichte. Diese Fürsorge für seine persönliche Bequemlichkeit hinderte ihn jedoch nicht daran, die Hilfe für den armen Ertrunkenen, in dem unsere Leser zweifellos den unglücklichen Joos erkannt haben, zu überwachen und zu leiten.