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Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl – 15. Kapitel

Heinrich Döring
Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl
Verlag C. F. Schmidt, Leipzig, ca. 1840

Fünfzehntestes Kapitel

Wie Rübezahl eines armen und tief betrübten Mägdleins sich mit Rat und Tat annahm

Als nun mit Anbruch des dritten Morgens die Neugier manche hinauslockte aus ihrer Wohnung, um auf dem Markt den Galgen vorläufig zu betrachten, an welchen der arme Bendix gehängt werden sollte, wurden sie durch das widrige Gekrächze eines großen schwarzen Raben, der sich auf die Spitze des Galgens gesetzt hatte, wieder zurückgescheucht und trotz aller Bemühungen, ihn fortzujagen, seinen Platz durchaus nicht verlassen wollte. Erst als das Gewühl sich wieder zerstreute, flatterte Rübezahl – denn er war es – herab von dem Galgen und erfuhr, als er in eines ehrsamen Bürgers Gestalt durch die Straßen wanderte, zu seinem großen Leidwesen, dass die Exekution, unvorhergesehener Hindernisse wegen, bis zum nächsten Tag habe verschoben werden müssen.

Da wanderte er zum Tor hinaus und strich in der Umgegend umher.

Es begab sich aber, dass er ein junges und anmutiges Mägdlein auf einem grünen Rasenabhang sitzen sah, wo ihn sein Weg vorbeiführte. Das holde Kind senkte das blonde Lockenköpfchen und schaute den Berggeist mit ihren großen blauen Augen so wehmütig an, dass er teilnehmend fragte: »Was fehlt dir, liebe Kleine? Warum weinst du?«

»Ach«, sprach das Mädchen und ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen, »ach, lieber Herr, ich bin das unglücklichste Geschöpf auf Gottes Erdboden und mir ist nicht zu helfen, weil ich an meinem grenzenlosen Unglück selbst schuld bin. Ich bin eine Mörderin.«

»Eine Mörderin?«, entgegnete Rübezahl, ein paar Schritte zurücktretend. »Eine Mörderin? Du, noch so jung und mit diesen sanften unschuldsvollen Augen. Es ist unmöglich. Doch, sei offen und erzähle mir alles. Vielleicht könnte ich dir doch noch helfen.«

Da schüttelte die Kleine ungläubig ihr Lockenköpfchen und meinte, ihr zu helfen stehe in keines Menschen Macht. »Ich kenne Euch nicht, lieber Herr!«, sprach sie, »aber schon Euer Mitleid heischt Vertrauen. Wisset denn, dass morgen um meinetwillen ein edler Jüngling stirbt, ach, und eines schmachvollen Todes.«

Als sie so sprach, wurde Rübezahls Blick plötzlich finster und mit Mühe unterdrückte er das bekannte gellende Gelächter. »Ein edler Jüngling?«, sprach er. »Kennst du etwa den Schneidergesellen Bendix, der morgen auf dem Markt zu Hirschberg, des Straßen­raubs wegen, den er verübt hat, hingerichtet werden soll?« Da weinte und schluchzte das Mädchen abermals, dass es einen Stein hätte erbarmen mögen. »Bin ich es doch«, sprach sie, »die ihn zu dem Frevel verleitet hat. Lasst Euch erzählen. Ich und Bendix waren Nachbarskinder und hatten uns lieb von Jugend auf, und unsere Liebe wuchs mit den Jahren, sodass es allen unseren Freunden bedünken wollte, wir wür­den einst ein Pärchen. Und ich muss sagen, ich hatte meinen Bendix auch recht lieb. Als er nun aber von der Wanderschaft heimkehrte, denn er hatte wie sein Vater das Schneiderhandwerk erlernt, da waren meine Eltern gestorben und hatten mir ein nettes Häuslein hinterlassen und einige Taler dazu. Da plagte mich nun der leidige Hochmut und die schnöde Habsucht, und, wohl wissend, dass Bendix arm war und so gut wie gar nichts hatte, wies ich seinen Freiersantrag von mir zurück mit den unfreundlichen Worten Mache dir keine Rechnung, in mein Kämmerlein zu kommen, es wäre denn, dass du einige harte Taler zubrächtest. Als ich aber so zu ihm sprach, da wurde er plötzlich bleich wie die Wand und bebte. ›Du hast recht‹, sprach er kalt, ›nicht eher sollst du mich wiedersehen, bis ich dir einen reichen Mahlschatz mitgebracht habe.‹ So sprechend, verschwand er und ich sah ihn nicht wieder in Jahr und Tag und hörte kein Wörtlein von ihm, bis vor wenigen Tagen, als ich erfuhr, dass er den reichen Juden Moses im Riesengebirge überfallen und ihm seine Barschaft geraubt und dass man ihn gefangen genommen habe. O Jammer! Herzeleid! Schon morgen früh büßt er das Verbrechen, zu dem er durch mich ver­leitet worden war, mit dem schmachvollsten Tod.«

Als das Mädchen so sprach, trostlos die Hände rang, weinte und schluchzte, da wollte es dem erzürnten Berggeist bedünken, als sei es doch gar unedel, durch seine grausame Rache so unsägliches Leid und Elend über ein treues Liebespaar zu verhän­gen.

»Sei getrost, liebes Mädchen«, sprach Rübezahl, »Zu deiner Beruhigung kann ich dir so viel sagen, dass dein Geliebter unschuldig ist. Er hat den Juden Moses nicht beraubt und wird nicht gehängt werden, das schwöre ich dir. Aber höre! Geh zurück in dein Häuschen und harre bis Mitternacht. Hörst du ein leises Pochen, so öffne schnell die Tür, denn es wird kein anderer sein als dein Bendix. Lebe wohl und tue, wie ich dir geheißen.«

So sprechend, zerfloss Rübezahls Gestalt plötzlich in einen Nebel, und Maria, so hieß das Mädchen, ging kopfschüttelnd, doch von leisem Hoffnungsschimmer belebt, zurück ins Dorf und in ihre Wohnung, dort mit Sehnsucht des Geliebten harrend.