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Das Gespensterbuch – Vierte Geschichte Teil 1

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Der Horla
von Guy de Maupassant

8. Mai. – Nein, ist der Tag schön! Den ganzen Morgen habe ich im Gras lang ausgestreckt vor meinem Haus gelegen unter der riesigen Platane, die es vollkommen beschattet, bedeckt und überragt. Ich liebe diese Gegend und lebe dort gern, weil dort meine Wurzeln sind, die tiefen, zarten Wurzeln, die einen Menschen an die Scholle knüpfen, wo seine Väter geboren und gestorben sind, die ihn mit dem verbinden, was man denkt, was man isst, mit den Sitten wie mit der Nahrung, mit der Sprechweise der Bauern und ihrer Betonung, mit dem Erdgeruch, den Dörfern und sogar der Luft.

Ich liebe das Haus, wo ich groß geworden bin. Von meinen Fenstern aus sehe ich die Seine längs meines Gartens hinter der Straße, beinahe bei mir, die breite, große Seine, die von Rouen nach Havre fließt, mit Schiffen bedeckt, die vorübergleiten.

Dort drüben links liegt Rouen, die große Stadt mit den blauen Dächern von einem Heer von spitzen, gotischen Türmen überragt. Sie sind nicht zu zählen, schmal oder breit und von der Zink-Spitze der Kathedrale beherrscht. Überall läuten die Glocken am schönen Morgen und ihre metallene Stimme klingt bis zu mir herüber, ihr Gesang aus Erz, den mir der Windhauch zuträgt, bald stärker bald schwächer, je nachdem der Ton sich erhebt oder abschwillt.

Es war so wundervoll heute Morgen!

Gegen elf Uhr fuhr an meinem Gartenzaun ein langer Zug von Schiffen vorüber, die den Strom ein Schlepper heraufbrachte, nur wie eine Fliege groß und der fortwährend vor Anstrengung stöhnte und dicken Dampf ließ.

Dann kamen zwei englische Schoner, deren rote Wimpel in der Luft flatterten, ein stolzer brasilianischer Dreimaster, ganz weiß, wunderbar sauber und leuchtend. Ich grüßte ihn, ich weiß nicht warum, so sehr gefiel mir das Schiff.

12. Mai. – Seit einigen Tagen habe ich etwas Fieber, ich fühle mich elend oder vielmehr traurig.

Woher stammen diese wunderlichen Eindrücke, die unser Glücksgefühl oft in Entmutigung, unser Vertrauen in Angst verwandeln? Es ist, als ob die Luft, die unsichtbare Luft voller Kräfte wäre, die wir nicht kennen, die uns nur manchmal nachbarlich streifen. Ich wache heiter auf, lustig, dass ich singen möchte. Warum? Ich ergehe mich an Wassers Rand und plötzlich kehre ich nach kurzem Spaziergang bedrückt heim, als ob mich zu Hause irgendein Unglück erwartete. Warum? War es ein kalter Lufthauch, der, als er meine Haut streifte, meine Nerven erschüttert, meine Seele beschattet hat? Ist es die Form der Wolken oder das farbige Licht des Tages, die wechselnde Beleuchtung der Dinge, was meine Gedanken beeinflusste, als meine Augen es sahen? Unsere ganze Umgebung, alles, was wir gedankenlos betrachten, was wir unwillkürlich streifen, alles, was wir unvermutet berühren, alles, was verschwommen an uns vorüberzieht, macht auf uns, unsere Sinne und durch sie auf unsere Gedanken, sogar auf unser Herz den Eindruck des Plötzlichen, Überraschenden, Unerklärlichen.

Ein tiefes Mysterium ist das Unsichtbare. Mit unseren elenden Sinnen können wir es nicht fassen, nicht mit unseren Augen, die weder das zu Kleine sehen können noch das, was zu groß ist, nicht das, was zu nahe ist, noch das, was zu weit, weder die Bewohner der Gestirne noch die Infusorien im Wassertropfen, nicht mit unseren Ohren, die uns betrügen, denn das Zittern der Luft übersetzen sie uns in starke Töne. Sie sind Feen, die das Wunder zustande bringen, diese Bewegung in Geräusch zu verwandeln und durch diese Metamorphose die Musik erzeugen, die das stumme Weben der Natur ertönen lässt, – nicht mit unserem Geruchsinn, der schwächer ist als der des Hundes, nicht mit unserem Geschmack, der kaum das Alter eines Weines zu bestimmen vermag.

O, wenn wir andere Organe besäßen, die für uns andere Wunder täten, was entdeckten wir wohl alles um uns herum.

16. Mai. – Ich bin unbedingt krank. Den letzten Monat ging es mir sehr gut. Aber nun habe ich Fieber, ein wildes Fieber oder vielmehr, ich fühle mich fieberhaft entnervt, sodass meine Seele krank ist wie mein Körper. Auf mir lastet fortwährend das Gefühl, als sei ein Unglück nahe, die Besorgnis vor drohendem Unheil oder vor dem nahen Tod, dieses Vorgefühl, das ohne Zweifel eine Krankheit ist, die wir noch nicht kennen, die in Blut und Fleisch liegt und mich befallen hat.

18. Mai. – Ich habe eben meinen Arzt zu Rate gezogen, denn ich konnte nicht mehr schlafen. Er fand meinen Puls beschleunigt, die Pupillen erweitert, die Nerven erregt, aber sonst keine besonderen Symptome. Ich soll Duschbäder nehmen und Brom.

25. Mai. – Keine Änderung ist eingetreten. Mein Zustand ist eigentümlich: Wenn es Abend wird, überfällt mich eine unbegreifliche Unruhe, als ob die Nacht eine fürchterliche Gefahr für mich berge. Schnell schlinge ich mein Essen hinunter, dann versuche ich zu lesen, aber ich verstehe die Worte nicht, ich kann kaum die Buchstaben unterscheiden. Ich laufe in meinem Zimmer auf und ab und eine wundersame Angst lastet auf mir, die Angst schlafen zu gehen, die Angst vor dem Bett.

Gegen zehn Uhr gehe ich in mein Schlafzimmer hinauf. Sobald ich darin bin, schließe ich zweimal herum ab und riegle zu. Ich habe Angst. Wovor? Bis jetzt fürchtete ich mich vor nichts. Ich öffne die Schränke, sehe unter mein Bett, horche, lausche; wonach? Ist das nicht seltsam, dass ein einfaches Unwohlsein, vielleicht eine Blutstockung, vielleicht die Erregung eines Nervenzentrums, etwa eine Verdauungsstörung, irgendein kleiner Fehler in dem so unvollkommenen und zarten Gang unserer lebenden Maschine aus dem lustigsten Menschen einen traurigen machen kann, aus dem tapfersten einen Feigling? Dann lege ich mich zu Bett und warte auf den Schlaf, wie auf den Henker. Ich warte auf ihn mit Entsetzen, dass er kommt; mein Herz schlägt, meine Knie zittern, mein ganzer Körper bebt trotz der Wärme des Bettes, bis zu dem Augenblick, wo ich plötzlich in Schlaf falle, wie einer, der sich in ein Wasserloch stürzt, um sich zu ertränken. Ich fühle den Schlaf nicht allmählich kommen wie früher. Dieser Schlaf ist niederträchtig, er versteckt sich vor mir, er lauert mir auf. Plötzlich packt er mich beim Genick, drückt mir die Augen zu, und mir vergehen die Sinne.

Ich schlafe – lange, – zwei oder drei Stunden, – dann träume ich oder vielmehr, mich überkommt das Alpdrücken. Ich fühle genau, dass ich zu Bett liege und schlafe, ich fühle es, ich weiß es und ich weiß auch, dass jemand sich mir nähert, mich ansieht, mich betastet, auf mein Bett steigt, sich auf meine Brust kniet, den Hals zwischen seine Hände nimmt und zusammenpresst mit aller Kraft, um mich zu ersticken. Ich wehre mich, aber diese entsetzliche Unfähigkeit mich zu bewegen, lähmt mich, wie im Traum, ich möchte schreien, ich kann nicht, ich will mich bewegen, ich kann nicht, ich versuche mit fürchterlicher Anstrengung, atemlos, mich herumzudrehen, dieses Wesen, das mich erdrücken und ersticken will, von mir zu schleudern, aber ich kann nicht.

Und plötzlich wache ich auf, ganz verstört, in Schweiß gebadet. Ich stecke ein Licht an, ich bin allein.

Nach dieser Krisis, die mich jede Nacht befällt, schlafe ich endlich ruhig bis zum Morgengrauen.

2. Juni. – Mein Zustand ist schlimmer geworden. Was habe ich nur? Brom hilft nichts, die Duschen nützen nichts. Manchmal versuche ich, um meinen doch schon so erschöpften Körper noch mehr müde zu machen, im Wald von Roumare spazieren zu gehen. Zuerst dachte ich, dass die frische, linde, wonnige Luft voll Gras- und Blätterduft mir neues Blut in die Adern gießen würde, und neue Tatkraft ins Herz. Ich ging einen langen Jagdweg hinab, wandte mich dann durch eine enge Allee nach La Bouille zwischen zwei Gruppen riesiger Bäume, die ein grünes, dichtes, fast schwarzes Laubdach zwischen dem Himmel und mir wölbten.

Plötzlich überkam mich ein Schauer, kein Kälteschauer, sondern ein seltsamer Schauer des Entsetzens.

Ich ging schneller, weil ich mich fürchtete, allein im Wald zu sein, ängstlich ohne Grund, in der tiefen Stille.

Plötzlich war es mir, als ob mir jemand folgte, als ob jemand hinter mir herginge, ganz nahe, ganz nahe und mich beinahe berührte.

Ich drehte mich schnell um. Ich war allein. Hinter mir sah ich nur die gerade und breite Allee, öde, hoch, grausig leer, und vor mir dehnte sie sich ebenso aus, so weit das Auge reicht, furchtbar.

Ich schloss die Augen. Warum? Und ich drehte mich schnell auf dem Absatz herum wie ein Kreisel. Ich wäre beinahe gefallen, ich schlug die Augen auf, die Bäume tanzten vor mir, die Erde schwankte, ich musste mich setzen. Und da, da wusste ich nicht mehr, von wo ich eigentlich gekommen sei, wunderliche Idee, wunderliche, wunderliche Idee, ich hatte keine Ahnung mehr. Ich ging nach rechts und kam wieder in den Weg, der mich mitten in den Forst geführt.

3. Juni. – Die Nacht war fürchterlich. Ich werde ein paar Wochen verreisen; eine kleine Reise wird mich ohne Zweifel wieder herstellen.

2. Juli. – Ich bin zurückgekehrt, bin geheilt. Übrigens habe ich eine wunderhübsche Reise gehabt: Ich habe mir den Mont Saint-Michel, den ich noch nicht kannte, angesehen.

Welcher Anblick, wenn man, wie ich, von Avranches kommt gegen Sonnenuntergang! Die Stadt liegt auf einem Hügel und man wies mich in den öffentlichen Park am Ende des Ortes. Unwillkürlich entfuhr mir ein Ruf des Entzückens. Eine unendliche Bucht dehnte sich vor mir aus, so weit das Auge reichte, zwischen den Küsten, die sich in der Ferne im Nebel verlieren; und mitten in dieser großen, gelben Bucht unter einem gold- und lichtstrahlenden Himmel erhob sich düster und jäh ein seltsamer Berg mitten in den Dünen. Die Sonne war eben niedergetaucht und auf dem noch glühenden Himmel zeichnete sich das Bild dieses fantastischen Felsens ab, der auf seinem Gipfel die fantastische Burg trägt.

Sobald es Tag geworden war, ging ich hin. Es war Ebbe, wie den Abend vorher. Und ich sah die wunderbare Abtei, je näher ich kam, desto größer vor mir emporwachsen. Nachdem ich ein paar Stunden gegangen war, erreichte ich den gewaltigen Felsen, der die kleine Stadt oben trägt, über welche die große Kirche noch hinausragt. Nachdem ich die schmale, steile Straße hinaufgeeilt, trat ich in das wundersamste gotische Gotteshaus, das je auf dieser Erde errichtet worden, groß wie eine Stadt, voll niedriger Säle, die erdrückt schienen trotz der Wölbungen und der hohen von schlanken Säulen getragenen Galerien. Ich trat in dieses gigantische Schmuckstück aus Granit, das so duftig dasteht wie Spitzengewebe mit Zinnen und schlanken Türmen, in denen Wendeltreppen hinaufsteigen und die in das himmlische Blau der Tage und das Dunkel der Nächte hinaus wundersam verzerrten Fratze von Ungeheuern, Teufelsköpfe, fantastische Tiere, Riesenblumen, die durch feine, durchbrochene Bogen verbunden sind, strecken.

Als wir ganz oben standen, sagte ich zu dem Mönch, der mich begleitete:

»Ehrwürdiger Vater, hier lässt sich’s schon leben!«

Er antwortete: »Ach es ist sehr windig bei uns!«

Und wir fingen an zu sprechen, während wir die Flut nahen sahen, die über den Sand lief und ihn wie mit einem Stahlpanzer umgürtete.

Und der Mönch erzählte mir Geschichten, alle alten Geschichten der Gegend, Legenden, immer Legenden.

Eine von ihnen machte mir Eindruck. Die Eingeborenen, die Bewohner des Berges behaupten, dass man nachts in den Dünen sprechen und dann zwei Ziegen meckern hört, die eine mit lauter die andere mit leiser Stimme. Ungläubige behaupten, es sei nichts als der Schrei der Möwen der bald wie ein Meckern, bald wie eine menschliche Stimme klingt. Aber Fischer, die spät heimkehren, schwören in den Dünen, die um die kleine, dort in das Meer hinaus gebaute Stadt liegen, einem alten Hirten begegnet zu sein, dessen Kopf man nie sieht, da er den Mantel darüber gezogen hat und der hinter sich einen Bock herzieht mit einem Mannesgesicht und eine Ziege mit einem Frauenantlitz, beide mit langen, weißen Haaren. Sie schwatzen fortwährend und streiten sich in einer unbekannten Sprache, hören dann plötzlich auf zu sprechen, um laut zu meckern.

Ich sagte zum Mönch: »Glauben Sie daran?«

Er murmelte: »Ich weiß nicht.«

Ich fuhr fort: »Wenn es auf der Erde andere Wesen gäbe als uns, wie käme es dann wohl, dass wir sie nicht längst kannten? Warum würden Sie sie denn nicht schon gesehen haben? Warum nicht ich?«

Er antwortete: »Gewahren wir denn wirklich den hundertsten Teil von all dem, was es gibt? Sehen Sie, der Wind, die größte Naturkraft, die Menschen umwirft, Häuser vom Boden fegt, Bäume entwurzelt, das Meer in Wasserbergen aufwühlt, Klippen und Felsen zermalmt und die mächtigsten Schiffe in die Brandung hinauswirft, der Wind, der tötet, pfeift, stöhnt, brüllt – haben Sie den schon gesehen und können Sie ihn sehen? Und trotzdem ist er doch da.«

Ich schwieg vor dieser einfachen Begründung. Der Mann war ein Weiser oder vielleicht ein Tor. Ich wusste es nicht zu sagen und schwieg. Aber was er da gesagt, hatte ich selbst oft gedacht.

3. Juli. – Ich habe schlecht geschlafen. Es muss wohl irgendeine Ursache für das Fieber da sein, denn auch mein Kutscher leidet an den gleichen Erscheinungen wie ich. Als ich gestern nach Haus kam, fiel mir auf, wie bleich er war und ich fragte ihn:

»Was fehlt Ihnen denn, Johann?«

»Ja, gnädiger Herr, ich kann mich nämlich nicht mehr ausruhen. Die Nächte fressen die Tage auf! Seitdem der gnädige Herr fort waren, hat es mich ganz wunderlich gepackt. Aber den übrigen Dienstboten geht es gut. Ich habe nur große Angst, dass es wieder kommt!«