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Der Welt-Detektiv Band 6

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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 1 – 1. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 1
Das Geheimnis der jungen Witwe
1. Kapitel
Ein geheimnisvoller Mord

»Wir bekommen Besuch, Harry«, sagte Sherlock Holmes, indem er für einen Moment seine kurze Pfeife aus dem Mund nahm, »und zwar ist es eine elegant gekleidete Dame, die mich zu dieser ungewöhnlichen Stunde noch sprechen will.«

»Es hat allerdings geläutet, Mr. Holmes«, gab Harry Tacon, der Gehilfe und Famulus des berühmten Detektivs zur Antwort, »aber woraus schließt Ihr denn, dass es eine vornehm gekleidete Dame ist? Ihr sitzt in Eurem Lehnsessel und seht doch nicht, wer soeben die Treppe herauf kommt.«

»Dass es eine Dame ist«, antwortete Sherlock Holmes, »hörte ich an dem Ton der Glocke; denn so stürmisch reißt nur ein Frauenzimmer an einer Türglocke. Ferner unterscheidet mein Ohr ganz genau den leichten Schritt eines Weibes, dann höre ich das Rauschen von Seidenröcken, und schließlich dringt ein ziemlich widerwärtiger Parfümgeruch durch die geöffnete Tür; du siehst also, mein Junge, es war durchaus nicht schwer, dir zu sagen, dass …«

Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, und, ohne anzuklopfen, stürzte eine große, wunderbar schöne Frauengestalt in das von der Lampe traulich erleuchtete Arbeitszimmer Sherlock Holmes hinein.

Ein langer Abendmantel, mit Pelz verbrämt, fiel der schönen blondhaarigen Dame von den Schultern bis zu den Füßen herab.

Aber der Mantel war vorn geöffnet, und man sah, dass diese Dame darunter eine Balltoilette trug: rosa Seide mit Brüsseler Spitzen besetzt und so weit dekolletiert, dass man die sanften Ansätze des Busens sehen konnte.

Die sonst entblößten Arme der Dame wurden von langen weißen Handschuhen umhüllt. In der Hand trug die Dame einen Fächer, und über das Haupt hatte sie einen Spitzenschleier geworfen, der in der Eile nicht einmal unter dem Kinn geknotet worden war.

Sherlock Holmes hatte sich erhoben und sich leicht verbeugt.

»Madam«, sagte er zu ihr, »es ist jetzt dreiviertel elf; in Ihren Augen spiegelt sich Entsetzen wider, und daraus schließe ich, dass Sie mir die Mitteilung von einem furchtbaren Verbrechen zu machen haben!«

»Mein Gatte, Mr. Sherlock Holmes«, rief die schöne blonde Frau mit zitternder Stimme, »er ist ermordet … tot … ah … ich kann nicht mehr!«

Sie brach in einem Sessel zusammen, ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und verzweiflungsvoll drückte sie die gerungenen Hände an die Stirn.

»Harry, ein Glas Wasser für die Lady!«, befahl Sherlock Holmes.

Aber die Dame hob ihre Hände abwehrend und rief: »Nein, bleiben Sie, ich bedarf keiner Labung. Ich flehe Sie an, Mr. Sherlock Holmes: Kommen Sie unverzüglich mit mir. Bei dem Anblick der Leiche meines unglücklichen Gatten war mein erster Gedanke, dass dieses Verbrechen fürchterlich gesühnt werden müsse, und da ich weiß, dass es keinen Detektiv auf Erden gibt, der sich mit ihnen vergleichen könnte, so warf ich mich sofort in einen Wagen und fuhr zu Ihnen!«

»Haben Sie die Polizei vorher benachrichtigt?«, fragte Sherlock Holmes.

»Die Polizei?«, versetzte die schöne, blonde Frau, während es geringschätzig um ihre Lippen zuckte, »ich bitte Sie, Mr. Sherlock Holmes, hat die Londoner Polizei in der letzten Zeit überhaupt ein Verbrechen entdeckt, dass unter geheimnisvollen Umständen verübt worden ist? Waren Sie es nicht, immer und immer wieder sie, der die geheimnisvollen Rätsel gelöst hat, welche das Leben den Menschen ab und zu aufgibt?«

»Es handelt sich also um ihren Gatten?«, fragte Sherlock Holmes, »ihn hat man ermordet?«

»Erstochen!«, rief die schöne Frau und begann aufs Neue krampfhaft zu schluchzen.

»Fassen Sie sich, Madame; vor allen Dingen haben Sie die Güte, mir die näheren Umstände des Verbrechens zu erzählen, natürlich nur soweit Sie dieselben wissen. Bevor Sie aber anfangen, sagen Sie mir: Wer sind Sie und wer war Ihr Gatte?«

»Mein Gatte ist Paul Estrade, von Geburt ein Franzose. Er lebt aber seit zehn Jahren in London und hat eines der ersten Börsenkontore begründet.«

»Ich kenne es«, sagte Sherlock Holmes, »befindet es sich nicht auf der Lundgate Street, der Kathedrale von St. Paul gegenüber?«

»Ganz recht, und da Sie den Namen meines Gatten kennen, so werden Sie auch wissen, dass er ein reicher Mann ist!«

»Man hielt ihn allerdings allgemein dafür«, lautete die Antwort des Detektivs, während er seine hohe hagere Gestalt wieder in den Armsessel hatte sinken lassen. »Seit wann sind Sie denn mit ihrem Gatten vermählt?«

»Seit zwei Jahren«, antwortete Mrs. Estrade. »Es war die glücklichste Ehe von der Welt, die wir führten, und unser Leben war ein beneidenswertes. Wir liebten einander, wir waren von der Gesellschaft geachtet, überall gern gesehen. Unser Haus in der Somerset Street war oft der Sammelplatz der besten Gesellschaft Londons, ja, ich darf behaupten, unsere kleinen Feste erfreuten sich einer gewissen Berühmtheit in London. Und das alles ist nun zerstört – vernichtet für immer, durch den Dolchstoß eines Elenden!«

»Wie alt war ihr Gatte?«, unterbrach Sherlock Holmes ein wenig ungeduldig die schöne blonde Frau.

»Paul zählte 33, ich – 22. Ich habe aufgesehen zu ihm, wie zu einem Gott.«

»Nun, und heute Abend?«

»Wollten wir den Ball der Kaufmannschaft Londons besuchen. Mein Gatte hatte mir versprochen, um acht Uhr abends zu Hause zu sein und um neun Uhr mit mir auf den Ball zu fahren. Aber gegen Abend sandte er mir eine Karte aus dem Büro mit der Nachricht, dass er eines wichtigen Geschäftes halber wahrscheinlich noch bis neun Uhr in Anspruch genommen sein würde. Ich sollte ihm aber völlig angekleidet erwarten, er würde mich spätestens halb zehn abholen. Ich hatte Toilette gemacht, unser Wagen stand bereit. Aber mein Gatte kann nicht. Gegen zehn Uhr vernahm ich ein heftiges Läuten an der Torglocke und dann – trat der Hausmeister ganz blass herein und rief mir zu: ›Madame, machen Sie sich auf das Entsetzlichste gefasst, – man hat soeben unseren Herrn gebracht!‹

›Gebracht?‹, schrie ich auf, ›so ist er erkrankt?‹

›Tot!‹, sagte er zu mir und öffnete die Tür.

Zwei Männer standen vor mir, die einen in Tüchern gehüllten regungslos am Körper trugen.«

»Was waren denn das für Männer?«, unterbrach Sherlock Holmes die Erzählende.

»Es war ein Matrose und ein Kutscher. Sie erzählten, dass sie den Leichnam meines Gatten soeben am Saum des Hyde Parks, gegenüber der Audley Street, unter einem Baum liegend gefunden hätten. Mit einem Schrei des Entsetzens schlug ich das Tuch zurück. Noch hoffte ich, dass eine Verwechslung vorliege, dass es nicht der Leichnam meines Gatten sei, den sie gebracht hatten; doch – er war es! Es war Paul, der mit wachsgelbem Gesicht vor mir lag, mit gebrochenen Augen und mit einer blutigen Wunde über dem Herzen. Ohnmächtig brach ich zusammen. Der Hausmeister hatte indessen die Polizei geholt. Der Policecaptain war mit einigen Policen gekommen und richtete eine Menge Fragen an mich, nachdem ich das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Und dann raffte ich mich auf, um zu Ihnen zu kommen, Mr. Sherlock Holmes, denn ich wiederhole nochmals«, die Stimme der schönen Mrs. Estrade erhob sich hier zu einem feierlichen Klang, »ich werde nicht eher ruhen und rasten, bis ich den fluchwürdigen Mörder meines Gatten ermittelt habe und das an ihm begangene Verbrechen gesühnt worden ist. Ich verspreche Ihnen Mr. Sherlock Holmes …«

»Das ist Nebensache«, unterbrach sie der Detektiv, »davon reden wir jetzt nicht, Madam. Ich habe indessen noch eine Menge Fragen an Sie zu richten, bevor ich Ihnen folge. Vor allen Dingen: Wie die beiden Männer, welche die Leiche ihres Gatten brachten, feststellen konnten, dass es Mr. Estrade war, den sie tot aufgefunden hatten?«

»Mein Gott«, antwortete das schöne junge Weib, »er hatte Papiere bei sich, welche seinen Namen und seine Wohnung verrieten.«

»Welcher Art waren die Papiere?«

»Wenn ich nicht irre, war es ein Notizbuch. Paul war sehr genau, auf dem ersten Blatt des Notizbuches standen Name, Wohnung und Alter verzeichnet und seltsamerweise auch die Worte: Falls mir ein Unglück widerfahren sollte, bitte ich Sherlock Holmes davon zu benachrichtigen!«

»Ah, das ist interessant«, sagte der Detektiv, das Kinn mit den Fingern seiner linken Hand bearbeitend, wie es seine Gewohnheit war. »Ihr Gatte war also so liebenswürdig, noch bei Lebzeiten an mich zu denken. Da hatten sie, Madam, sogar die Verpflichtung, mich aufzusuchen!«

»Gewiss, und das bestärkte mich auch in dem Vorhaben, Sie sofort zu konsultieren.«

»Hatte ihr Gatte Feinde?«

»Ich glaube«, gab Mrs. Estrade zur Antwort, »jeder Mensch hat Feinde; aber solche Feinde, die ihm nach dem Leben getrachtet hätten, hatte Paul gewiss nicht. Er war so gut, so wohltätig und rücksichtsvoll.«

»Gingen seine Geschäfte bis in die letzte Zeit hinein gut?«

»Ich verstehe diese Frage, Mr. Sherlock Holmes, Sie denken vielleicht daran, dass es sich hier nicht um einen Mord handelt, sondern dass ein Selbstmord vorliegen könnte, und das, wenn sich diese Annahme bestätigen, man schließen könnte, dass mein Gatte …«

»Ganz gewiss keinen Selbstmord plante«, unterbrach der Detektiv die Sprechende, »sondern das – ein Verbrechen an seiner Person geplant sei. Doch nun kommen Sie«, fuhr Sherlock Holmes fort, »haben Sie ihren Wagen vor der Tür? Wir wollen so schnell wie möglich in Ihre Wohnung fahren.«

»Mein Wagen wartet. Oh, Mr. Sherlock Holmes, wie danke ich Ihnen, dass Sie sich so schnell bereit erklären …«

»Nur meine Pflicht! Harry, meinen Rock, meinen Hut, – mein Vergrößerungsglas! So, Madam, ich bin fertig, lassen Sie uns gehen!«

Als Sherlock Holmes die Tür erreicht hatte, wandte er sich noch einmal um und rief Harry zu: »Du erwartest mich hier, selbst wenn ich die ganze Nacht ausbleiben sollte, – du bleibst wach.«

Der hübsche, klug aussehende, etwa 18-jährige junge Mann verbeugte sich. Sherlock Holmes öffnete die Tür und ließ dann Mrs. Estrade zuerst hinaustreten.

Im selben Moment bückte sich Harry und hob einen Gegenstand vom Boden auf.

»Der Fächer Madams!«, rief er Sherlock Holmes zu, der nun allein an der Schwelle stand. »Madam hat den Fächer vergessen.«

Harry wollte schnell an Sherlock Holmes vorüber, um der unglücklichen Frau den Fächer nachzutragen.

Allein Sherlock Holmes flüsterte: »Zurück – bleibt! Behalte den Fächer. Er ist wichtig. Auf dem dritten Schild von rechts gesehen, stehen ein paar mit Bleistift gekritzelte Worte auf diesem Fächer. Ich denke, er wird noch eine Rolle spielen.«

»Mein Fächer, ich habe meine Fächer vergessen!«, ertönte in diesem Augenblick die Stimme der schönen Mrs. Estrade, indem sie wieder an der Tür erschien.

Harry hatte den Fächer blitzschnell in der Brusttasche seines Rockes verschwinden lassen. Er ging nun im Zimmer auf und ab und suchte.

»So viel ich mich erinnern kann«, sagte Sherlock Holmes ganz ruhig, »haben Sie keinen Fächer gehabt, als Sie bei mir eintraten, Madam.«

»Oh doch, ich glaube mich bestimmt zu erinnern, dass ich ihn in der Hand hielt!«

»In der Hand ganz sicher nicht, das weiß ich, ihre Hände waren frei!«

»Es ist kein Fächer zu finden«, sagte Harry.

»Wirklich nicht?«, stieß die schöne Frau mit einer Stimme hervor, der man ein leises Zittern anhörte. »Es ist aber seltsam; ich hätte darauf schwören mögen, dass ich einen Fächer mitgebracht habe.«

»Vielleicht haben Sie ihn unten im Wagen gelassen«, sagte Sherlock Holmes ruhig.

»Das ist möglich – gehen wir also.«

Und Mrs. Estrade verließ das Gemach des Detektivs, während Sherlock Holmes ihr folgte, nachdem ihm Harry den geheimnisvollen Fächer zugesteckt hatte.