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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 2 – Kapitel 5

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Zweite Episode
Die Villa mit den Brillanten

Kapitel 5

Im Sturm

Baruch Jorgell war einer jener Naturen von fast animalischer Energie, für die Skrupel und Reue nie lange existieren. Als er am Ufer stand, wo die steigende Flut, angetrieben von einem wütenden Westwind, mit bedrohlicher Geschwindigkeit eindrang, atmete er tief durch. Der Regen, der in großen Tropfen fiel, verschaffte ihm unaussprechliche Erleichterung und kühlte seine fieberheiße Stirn.

»Alle Ereignisse in meinem Leben, bis zu dieser Minute«, rief er, »sind ein böser Traum, ein schrecklicher Albtraum! Ich will sie vergessen … mich nie wieder daran erinnern! Ich bin jetzt reich. Das Leben wird nun schön und der Kampf lohnend sein! Vorwärts!«

Triumphierend hob er den schweren Koffer, der sein gesamtes blutiges Vermögen enthielt, auf seinen Arm.

Er ging am Ufer entlang in die entgegengesetzte Richtung der Villa des Naturforschers und kletterte auf einem steilen Pfad die Klippen hinauf. Nach einer halben Stunde erreichte er eine Fischerhütte mit Mauern aus Granit und Lehm und einem Strohdach, in deren Nähe in einer engen Bucht des Golfs zwei oder drei Boote im Ebbestrom schaukelten.

Der Regen hatte sich in einen wilden Schauer verwandelt; der Himmel war mit dicken schwarzen Wolken verhangen, die mit bleichem Silber gefranst waren und aussahen wie Leichentücher, die vom wütenden Atem der Winde weggeweht wurden. Baruch fühlte sich trotz seiner Willenskraft unwohl.

Seine Ohren summten, Schritte klangen hinter ihm und er floh, immer schneller, und wagte es nicht, sich umzudrehen.

Als er das flackernde Licht in den Fenstern des Häuschens erblickte, gewann er etwas an Zuversicht.

Er stieß mit der Faust gegen die wurmstichige Tür.

»Hallo, Vater Yvon«, rief er, »sind Sie da?«

Die Tür öffnete sich langsam. Yvon – derselbe, der gekommen war, um Monsieur Bondonnat um Hilfe zu bitten – erschien im Spalt, im rauchigen Schein einer Petroleumlampe.

»Guten Abend, Monsieur Jorgell«, murmelte er.

Ohne die Begrüßung des alten Mannes zu erwidern, betrat Baruch den einzigen Raum. Keuchend und von Wasser triefend setzte er sich mit seinem kostbaren Koffer zwischen den Beinen auf eine Fußbank vor dem Kamin.

Plötzlich hatte er seine Aufregung unter Kontrolle. Mit ruhiger Stimme sagte er:

»Schlechtes Wetter heute, guter Yvon. Wenn ich gewusst hätte, dass eine solche Brise weht, hätte ich meine Reise auf später verschoben.«

»Der Herr will scherzen«, sagte der alte Mann und zwinkerte schelmisch, »ich habe noch nie so gutes Schmuggelwetter erlebt. Wir werden Jersey erreichen, bevor es Tag wird, vorausgesetzt, der Wind ändert sich nicht.«

Baruch schien sich resigniert auf die Seite der Ereignisse zu schlagen.

»Na ja, was soll’s!«, sagte er, »wenn der Wein schon gezapft ist, wie man in Frankreich sagt, dann muss man ihn auch trinken. Ist Ihr Boot bereit?«

»Ja, alles ist bereit!«

Baruch Jorgell war schon ein- oder zweimal in Yvons Begleitung nach Jersey gereist – und das unter größter Geheimhaltung. Er hatte es verstanden, den ehrlichen Fischer davon zu überzeugen, dass er sich mit Schmuggel beschäftigte, ohne dass die Messieurs de Maubreuil und Bondonnat von seinen Machenschaften wussten.

Vater Yvon war – mit scheinbarer Vernunft, denn er hatte die Feinheiten der Moral nicht studiert – davon überzeugt, dass es kein Diebstahl ist, den Staat zu bestehlen.

Baruch hatte ein Interesse daran, dem alten Seebären seine Illusionen zu lassen, also heuchelte er bei dem Wort Schmuggel ein gewisses Unbehagen.

»Lassen Sie uns nicht darüber reden!«, flüsterte er mit gespielter Verlegenheit. »Kann uns wenigstens niemand hören, Vater Yvon?«

»Seien Sie ganz unbesorgt.«

»Ob ich schmuggle oder nicht, das geht niemanden etwas an. Ich muss nach Jersey, um meine Geschäfte zu erledigen, und das ist alles.«

Baruch ließ mit einer mechanischen Geste einige Goldmünzen in seinem Geldbeutel klimpern.

»Verstanden«, kicherte der alte Seebär, »ich bin nicht derjenige, der etwas dagegen hätte, wenn ein ehrlicher Monsieur wie Sie bei unseren guten Freunden, den Engländern, Tabak oder Spitzen für Fräulein Andrée holen würde, ohne die Beamten zu verärgern.«

Bei dieser Anspielung auf Mademoiselle de Maubreuil war Baruch bleich geworden.

Dieses Gespräch, das Vater Yvon nur zu gern noch länger geführt hätte, ärgerte ihn über allen Maßen.

Er hörte dem alten Seemann kaum zu, der langsam sprach und gemächlich an einer dunklen Pfeife zog, und lauschte dem Trommeln des Regens an den Fenstern, der schrillen Klage des Windes, der über die Heide tobte, dem dumpfen Rauschen der Brandung auf den Kieselsteinen. Es schien ihm, als könne er durch diese wirren Gerüchte hindurch Todesschreie, herzzerreißende Rufe und den hastigen Galopp einer Verfolgungsjagd ausmachen.

»Na los«, rief er und stand aufgeregt auf, »beeilen wir uns, Vater Yvon, wir verpassen sonst die Flut.«

»Wir haben alle Zeit der Welt«, antwortete der alte Fischer ruhig.

Baruch antwortete nicht.

Ihm war klar, dass er dem alten Schwätzer keine Widerworte geben durfte, um Zeit zu sparen, aber er trat auf der Stelle. Jeden Moment, das wusste er, konnte sein Verbrechen aufgedeckt werden. Die Minute war entscheidend.

Schließlich zog Yvon, nachdem er ein Glas Apfelwein getrunken und sich eine neue Pfeife angezündet hatte, langsam seinen Wachstuchpaletot und sein Schuhwerk an, setzte sich seinen Suroit auf und stieg in Seestiefel, die ihm bis zum Gürtel reichten.

»Wir gehen los«, sagte er, als die Vorbereitungen abgeschlossen waren.

»Das wird aber auch Zeit!«, murrte Baruch, dessen Geduld langsam zu Ende ging.

Yvon drehte den Schlüssel an der Tür seines Häuschens und ging als Erster hinaus. Baruch folgte ihm, der sich fast unter der Last des Koffers mit den Edelsteinen beugte, seine Mütze über die Augen gezogen hatte und seine Regenjacke bis zu den Ohren hochgezogen hatte.

Als sie den Rand des Sandes erreichten, glaubte der Mörder, aus dem Rauschen des Windes und des Regens ein klägliches Bellen heraushören zu können.

Er erschauerte am ganzen Körper und sehnte sich danach, weit weg vom Schauplatz seines Verbrechens zu kommen.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte er sich in Yvons Boot, das dieser ans Ufer gezogen hatte.

So träge und ungeschickt der alte Seemann an Land wirkte, so entschlossen und wendig war er an Bord. Im Handumdrehen war das Schiff startklar.

Als das Segel gehisst war, setzte sich Yvon hinten neben seinen Passagier und nahm das Ruder in die Hand, um Kurs auf die große Bucht zu nehmen, die von zwei kleinen Leuchttürmen markiert wurde.

Das Fischerboot sauste über den Kamm der Wellen. Solange man sich im Schutz der Klippen befand, die die Küste säumten, war die Kraft der Wellen trotz Wind und Regen nicht allzu sehr spürbar.

Baruch Jorgell sah mit unaussprechlicher Genugtuung, wie die graue Linie des Ufers in der Dunkelheit verschwand, wo nur die Lichter der Villa des Naturforschers und die des Diamond Manor wie zwei blutige Flecken leuchteten.

Als das Boot, die Rose-Adélaïde de Kérity, die Landspitze passiert hatte und auf das offene Meer hinausfuhr, wurde es von einer Windböe erfasst. Eine Welle füllte sie zur Hälfte mit Wasser und sie neigte sich bedenklich.

Yvon hatte nur noch Zeit, das Großsegel zu raffen und die Fock, das kleine dreieckige Vorsegel, zu setzen.

Baruch Jorgell, der bis auf die Knochen durchnässt war und sich an die Achterbank klammerte, war außer sich vor Angst. Seine Zähne klapperten wie Kastagnetten. Allein mit diesem alten Mann in dem Boot, das so zerbrechlich wie eine Nussschale war und bereits voll Wasser lief, stellte er sich vor, dass die endgültige Katastrophe nur noch eine Frage von Minuten war. Er hätte seinen Koffer voller Edelsteine hergegeben, um an Land in Sicherheit zu sein.

Yvon hingegen war völlig unbeeindruckt.

Er war auf See genauso wortkarg wie an Land, hielt das Steuer mit fester Hand und kümmerte sich nicht mehr um seinen Passagier.

Die Rose-Adélaïde, die wie eine Feder vom Sturm angehoben wurde, fuhr mit einer erschreckenden Geschwindigkeit. Sie flog wie ein Blitz. Schon waren die Leuchttürme nur noch wie kleine blinkende Pupillen am Horizont zu sehen.

Plötzlich tauchte ein weißes Licht zwischen den hohen Wellen auf, auf der Backbordseite, ganz in der Nähe der Rose-Adélaïde.

»Tausend Donner!«, brüllte Vater Yvon, »das ist die Zollpatrouille! Nur sie kann bei diesem Wetter draußen sein!«

»Na, was soll’s!«, stotterte der Amerikaner, der gerade von Kopf bis Fuß mit Wasser überschüttet worden war. »Ruf die Zöllner, vielleicht können sie uns an Land bringen …«

Der Mörder rechnete sich bereits aus, dass er, wenn er in den nächsten Hafen gebracht würde, vielleicht noch Zeit hätte, den Zug zu nehmen, bevor das Verbrechen entdeckt würde.

Yvon war jedoch nicht bereit, die Grünröcke zu Hilfe zu rufen.

»Sie hätten mir sagen müssen, dass Sie einen Anflug von Nervosität haben, sonst hätte ich Sie nicht mit auf mein Boot genommen«, erwiderte er in einem etwas schnippischen Ton. »Ich für meinen Teil lege keinen Wert darauf, dass sich die Gabelous in meine Angelegenheiten einmischen. Weiß ich, welche Waren Sie in Ihrem Koffer haben?«

Baruch Jorgell blieb stumm. In der Verwirrung der Angst, die ihn umklammerte, hatte er nicht daran gedacht.

»Kommen Sie«, sagte Yvon grob, »helfen Sie mir, wenn Sie nicht aus der großen Tasse trinken wollen. Nehmen Sie die Stange für eine Minute und halten Sie sie so, wie sie ist!«

Baruch gehorchte wortlos. Er war weit davon entfernt, die Absichten des alten Fischers zu erahnen.

Trotz des Seegangs, der das zerbrechliche Schiff überschwemmte, und trotz der Wellen, die es auf die Höhe eines Berges hoben, um es dann zwischen zwei riesigen Wellen wie in einer Schlucht wieder hinunterzuziehen, war er zur Schot des Großsegels geeilt.

Er beugte sich zwischen die beiden Wände des Bootes und zog mit aller Kraft an den Seilen.

Das Segel begann sich mit einem lauten Knall zu spannen, der das Boot fast zum Kentern brachte.

»Bitte hören Sie auf! Was haben Sie vor?«, rief Baruch erschrocken.

Yvon ließ sich nicht einmal zu einer Antwort herab. Er setzte das Segel und befestigte die Schot fest, dann riss er dem bestürzten Passagier die Pinne aus der Hand und setzte sich wieder ans Ruder.

Der Wind brach mit einem dumpfen Heulen in das nun zum Zerreißen gespannte Tuch ein und riss die Rose-Adélaïde mit einem wilden Sprung mit sich, die wie eine Möwe über die Monsterwellen flog und mit schwindelerregender Geschwindigkeit mitten in den Orkan, in die Dunkelheit, eintauchte.

Eine Minute später war das weiße Lichtsignal verschwunden.

Baruch war erschöpft auf seine Bank gesunken. Er glaubte nun, auf dem bleichen Kamm einer schäumenden Wellenfront das schadenfrohe Gesicht des Monsieur de Maubreuil zu sehen.