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Der Detektiv – Band 25 – Das Fernrohr Kapitän Pellertans – Kapitel 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Fernrohr Kapitän Pellertans

Kapitel 1

Der tote Maschinist

Es war ein altehrwürdiges Sehfernrohr aus Messing mit sechs Auszügen, so ein Ding, wie man es heute in der Handelsmarine kaum noch gebraucht. Es hatte vorn einen Durchmesser von 12 Zentimeter, und Harald Harst meinte einst scherzend zu dem glücklichen Besitzer, Kapitän Joe Pellertan, eigentlich gehöre zu diesem Rieseninstrument beim Gebrauch stets ein Stativ, da man schon über gehörige Muskelkräfte verfügen müsse, um es frei in den Händen ruhig zu halten.

Joe Pellertan war jedoch noch ein Seemann aus der alten Schule, der von modernen Trieder-Binokeln und so weiter nichts wissen wollte, der noch manchen Aberglauben festhielt und der bessere Münchhausiaden erfand als der älteste Förster.

Die große Motorjacht India Lord Wolpoores schaukelte bei völliger Windstille auf einer langen Dünung träge auf und ab. Über dem Meer lag eine erschlaffende Backofenglut. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel unbarmherzig auf das stets feucht gehaltene Deck der India herab. Aber was nützte diese stete Bewässerung der Deckplanken bei einer Temperatur von 35 Grad im Schatten?

Es war kurz nach der gemeinsamen Mittagsmahlzeit im Salon der Jacht. Die Familie Wolpoore hatte sich in ihren Wohnsalon zurückgezogen. Dass der Lord mit den seinen gern allein sein mochte, konnte man verstehen. Wer wie er seine Gattin und seine Söhne jahrelang als tot betrauert hatte, wem sie dann plötzlich wiedergegeben werden, der will auch das lang entbehrte Glück eines trauten Familienlebens ohne Zeugen auskosten.

Wir saßen nun zu fünft in der Kajüte Kapitän Joe Pellertans um den ovalen Tisch herum in bequemen Korbsesseln und lauschten mit jener völligen Abspannung, die die Folge der Tageshitze war, der Erzählung des Kapitäns, deren spannende Momente an unserer matten Gleichgültigkeit heute sozusagen wirkungslos abprallten.

Pellertans braunrotes, zerfurchtes Gesicht mit dem grauen Schifferbart wurde immer finsterer.

»Den Deubel!«, rief er nun. »Ihr hört ja gar nicht zu! Ich rede mir das Maul trocken, und ihr sitzt da wie schlafkranke Kerle.« Er langte nach seinem steifen Eispunsch und nahm einen tüchtigen Schluck, fuhr dann fort: »Natürlich glaubt ihr nicht an derlei Vorkommnisse, ihr modernen Herren! Natürlich nicht! Und doch: Es ist Tatsache, was ich soeben berichtete. Der Kopf des enthaupteten Piraten sprach tatsächlich noch den Satz, den ich vorhin wiederholte. Der Unterkiefer bewegte sich. Es war, dass einem das Grausen ankam!«

In diesem Augenblick trat nach kurzem Anklopfen der Jachtingenieur Moore ein, nickte uns zu und wandte sich dann an Pellertan.

»Käpt’n, haben Sie sich mein Fernglas ausgeliehen? Es ist aus meiner Kabine verschwunden.«

»Ich … nein! Aber … verschwunden? Deubel, was ist denn jetzt eigentlich los auf der Jacht? Heute früh fragt mich Sinclair (das war der Steuermann) genau dasselbe. Auch dessen Glas ist futsch!«

»Nicht möglich!«, meinte der Ingenieur, ein noch junger Mann von sehr gewinnenden Umgangsformen, der einen ölfleckigen Leinenanzug anhatte und recht übermüdet aussah. »Wir haben doch keine Diebe an Bord! Bei der Polizeiaufsicht, unter der wir dauernd stehen!«, fügte er hinzu.

Er lachte Chester Blindley vergnügt an, denn dieser kleine dürre Herr war ja der Chef der Privatpolizei Lord Wolpoores, die dieser sich lediglich zum Schutz seiner Person hielt. Sie bestand aus zwanzig ausgesuchten tüchtigen Detektiven.

Blindley zuckte die Achseln. »Die Ferngläser werdet ihr verlegt haben! Macht doch nicht so viel Aufhebens davon!«

Doktor Halfing, des Lords Leibarzt, meldete sich nun jedoch gleichfalls und gab der Angelegenheit plötzlich ein weit ernsteres Aussehen.

»Leider muss ich hierzu bemerken, dass auch ich meinen Krimstecher seit zwei Tagen umsonst suche. Er ist verschwunden – spurlos!«, meinte er bedächtig und schaute Blindley ein wenig ironisch an. »Verschwunden, obwohl der Herr Polizeichef mit fünf Detektiven die Reise wie stets so auch jetzt mitmacht. Lieber Blindley, Sie haben also Arbeit! Suchen Sie die drei Ferngläser. Wenn Sie sie finden, können Sie wenigstens in diesem Monat behaupten, Ihr fürstliches Gehalt nicht umsonst bezogen zu haben.«

Es war das eine harmlose Neckerei vonseiten des Doktors. Denn Halfing kränkte nie jemanden mit Absicht.

Blindley lachte. »Das ist ja die reine Fernglasflucht! Bester Pellertan, ich rate Ihnen, legen Sie Ihr Kanonenrohr an die Kette, sonst reißt es auch noch aus!«

»Oho, das sollte mal einer wagen, mir mein Glas zu stehlen!«, brummte der alte Seebär und schaute zu dem Wandbrett hin, wo das Messingperspektiv halb ausgezogen lag.

»Scherz beiseite!«, sagte nun aber Blindley in ganz anderem Ton. »Wer wie ich in diesen Jahren, seit ich über Seiner Lordschaft Leben und Gesundheit wache, die scheinbar auch noch so gleichgültigsten Vorfälle mit ganz anderen Augen anzusehen gelernt hat, wer wie ich stündlich auf der Lauer liegt und nach irgendwelchen Anzeichen für ein neues Attentat sucht, der beachtet selbst das Verschwinden von drei Ferngläsern, zumal wenn diese an Bord einer Jacht abhandenkommen, deren Besatzung aus alterprobten Leuten besteht.«

Ich schaute unwillkürlich zu Harst hinüber. Ich war neugierig, wie er über diese Sache dächte. Aber er rauchte sehr gelassen seine Zigarette weiter und blickte durch das runde Fenster hinaus auf die wie flüssiges Blei schillernde endlose See.

Ingenieur Moore hatte sich ein Glas mit Eislimonade aus der großen Kanne gefüllt, die auf einem Stuhl in einem Eiskühler stand, trank, sagte dann: »Wenn es so weiter geht, haben wir sehr bald kein einziges modernes Fernglas mehr auf der India. Es muss doch jemand die Dinger gestohlen haben! Drei Krimstecher – drei! Das ist doch kein Zufall! Die können doch nicht alle drei verlegt worden sein!«

Eine Weile herrschte Schweigen. Dann wandte Chester Blindley sich an Harald.

»Was halten Sie davon, lieber Harst?«

»Ich möchte Sie bitten, mir mitzuteilen, weshalb Sie heute vor neun Tagen, als wir uns vor dem Schloss des Lords auf der Landstraße trafen, mir zuraunten, dass etwas passiert sei. Sie haben mir bisher nichts Näheres darüber gesagt, Blindley.«

»Ganz richtig. Ich habe es nicht vergessen, aber ich glaubte, durch diese Seereise, die wir auf Ihre Veranlassung nun unternehmen, wäre jede Gefahr vorläufig beseitigt. Wenn ich mich damals wirklich so ausgedrückt habe – es ist etwas passiert –, dann meinte ich damit nur, dass gewisse Anzeichen dafürsprachen, es sei wieder etwas im Gange. Sie verstehen: gegen Seine Lordschaft!«

»Und diese Anzeichen?«, fragte Harst ohne besonderes Interesse.

»Waren vier Siegellacktröpfchen!«

»Ah!«, machte Harst und beugte sich vor.

Dieser Ausruf war berechtigt. Der Leser besinnt sich noch auf unser vorheriges Abenteuer, bei dem ja die vier silbernen Siegellacktröpfchen eine so große Rolle spielten.

»Vier Siegellacktröpfchen auf der Schreibunterlage des Herrn Daberton, Eigentümer der Daberton-Werft in Madras«, erklärte Blindley weiter. »Ich bemerkte sie, als ich Daberton kurz nach unserer letzten Seereise mit der India von Kapstadt nach Madras besuchte. Ich war eine Weile allein in seinem Privatkontor, bevor er kam. Da fiel mein Blick auf die rote Löschblattunterlage auf dem Schreibtisch. Sie war noch sauber. Die vier silbernen Tröpfchen hoben sich deshalb sehr scharf ab. Als ich eins davon berührte, war es noch nicht völlig erhärtet, wie ich sehr wohl fühlte. Ich ging sofort nebenan in den großen Raum, wo die Buchhalter und so weiter arbeiteten. Man antwortete mir auf meine Frage, dass soeben ein vornehmer Hindu bei Daberton gewesen sei. Daberton wäre aber nicht sofort von der Werft herübergekommen, und da hätte der Inder sich wieder empfohlen mit dem Versprechen, nachher nochmals sich einfinden zu wollen. Niemand kannte den Inder. Auch Daberton hatte keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Mithin dürfte dieser vornehme Eingeborene die Tröpfchen auf dem Löschblatt zurückgelassen haben.«

»Wie – und das erzählen Sie mir erst jetzt, Blindley!«, meinte Harst kopfschüttelnd. »Die Sache hätten wir doch in Madras genau untersuchen müssen!«

»Ja – und dann hätte seine Lordschaft davon erfahren, und wir würden ihm die ganze Freude über die Wiedervereinigung mit den seinen verdorben haben!«

»Aber Blindley – welch falsche Rücksichtnahme! Bedenken Sie doch: Es muss ja unbedingt etwas auf sich haben, dass der Inder gerade dort seinen berüchtigten Stempel zurückließ, wo Sie kurz darauf auftauchten! Begreifen Sie nicht, dass der Mann gewusst haben muss, Sie würden Philipp Daberton aufsuchen! Verstehen Sie nicht, dass dieser Inder Ihnen beweisen wollte, wie gut er über jeden Ihrer Schritte unterrichtet ist? Sehr schade, dass Sie sich aus einem Sicherheitsgefühl heraus, das ich nicht teilen kann, dazu verleiten ließen, über dieses Vorkommnis bisher zu schweigen. Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Blindley: Ich beurteile dieses Verschwinden der drei Ferngläser hier an Bord inmitten einer durchaus zuverlässigen Besatzung keineswegs harmlos. Im Gegenteil, ich werde jetzt die Augen sehr gut offenhalten und rate Ihnen und Ihren fünf Leuten dasselbe. Natürlich darf der Lord vorläufig nichts erfahren. Nur das nicht! Er ist jetzt endlich wieder aufgelebt und heiter. Nein – wir anderen haben nur die Pflicht, wir alle hier, jeder Kleinigkeit, mag sie auch noch so geringfügig aussehen, eine gewisse Bedeutung beizumessen, sofern sie nur irgend aus dem Rahmen alltäglicher Vorgänge herausfällt.«

Nach diesen Sätzen Harsts waren die Gesichter der Anwesenden urplötzlich verändert.

In demselben Moment klopfte es auch schon gegen die mattglänzende Mahagonitür der Kajüte.

Joe Pellertan hatte sich erhoben. »Deubel – es muss was passiert sein!«, meinte er und öffnete die Tür.

Davor standen der Steuermann Sinclair und zwei Matrosen.

»Käpt’n«, meldete Sinclair erregt, »Käpt’n – der Maschinist Ambermakry hat sich im großen Vorratsraum aufgehängt. Soeben hat der Bill hier ihn gefunden.«

Harst warf mir einen langen Blick zu. Das hieß nichts anderes als: Da ist schon etwas, das aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt!

Blindley war aufgesprungen.

»Ambermakry – aufgehängt?«, fragte er bestürzt und trat auf Sinclair zu. »Dieser frische, lebensfrohe Mensch soll, das ist ja Unsinn, das ist einfach unmöglich!«

»Es ist so. Er ist tot. Er ist auf eins der Butterfässchen gestiegen, hat die an einem Wandhaken befestigte Schlinge um den Hals gelegt und dann das Fässchen umgekippt. Das geht aus dem Befund an Ort und Stelle klar hervor.«

Blindley winkte Harst zu. »Gehen wir! Die Sache gefällt mir nicht!«, meinte er kleinlaut.

Pellertan, Halfing, Blindley und wir beide folgten dem Steuermann. Der sogenannte große Vorratsraum lag im Vorschiff hinter der blitzsauberen, geräumigen Schiffsküche, hatte aber noch einen zweiten Zugang vom Gang des Mannschaftslogis aus. Diese Tür wurde jedoch selten benutzt. Den Schlüssel hatte Pellertan in Verwahrung.

Der Erhängte war von Sinclair abgeschnitten und auf den Boden des Proviantraumes gelegt worden. Dieser Ambermakry, ein Mann von etwa vierzig Jahren, war klein und schmächtig und als witziger Spaßmacher allgemein beliebt gewesen. Jedem ging sein Tod nahe. Niemand konnte sich erklären, weshalb er dieser Erde Lebewohl gesagt hatte, auf der es ihm bisher stets nur gut gegangen war.

Blindley ließ Harst den Vortritt bei der Untersuchung des Strickes, der zur Hälfte noch an dem Haken hing, und bei allem anderen, was man hier in Augenschein nehmen musste, um nachzuprüfen, ob nicht vielleicht nur ein vorgetäuschter Selbstmord, also ein Verbrechen, vorliege.

Harst war sehr bald mit dieser Nachprüfung fertig, lehnte sich nun an den großen, in der Mitte des Raumes stehenden Trinkwassertank aus Eisenplatten und meinte zu Blindley: »Bitte – jetzt sind Sie an der Reihe.«

Halfing, der Arzt, untersuchte den Toten noch immer, sagte nun, während der Polizeichef gerade den Strick und den Haken sich ansah: »Ambermakry ist kaum eine Stunde tot. Aber tot ist er. Wiederbelebungsversuche sind zwecklos.«

Harst kniete neben Halfing nieder und befühlte den dick angeschwollenen Hals des Erhängten. Dann wandte er sich an den Schiffskoch, einen Franzosen namens Chaprin.

»Ambermakry muss doch durch die Küche gegangen sein. Sahen Sie ihn nicht, Chaprin?«

Der Koch stand in der Tür nach der Kombüse.

»Nein, ich sah ihn nicht. Vor einer Stunde war ich gerade drüben in Sinclairs Kabine. Wir saßen und plauderten. Dann kam Bill und bat um den Schlüssel zur Kombüse. Er wollte Trinkwasser aus dem Tank holen. So fand er Ambermakry.«

»Wie ist dieser dann aber hier in den Proviantraum hineingelangt?«, fragte Joe Pellertan zögernd. Man sah ihm an, wie sehr ihn dieser Selbstmord aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. »Den Kombüsenschlüssel hatten Sie doch bei sich, Chaprin«, fügte er hinzu. »Und den anderen Schlüssel zur Tür zum Mannschaftslogis weiter vorn habe ich eingeschlossen! Mir ist das alles unerklärlich!«

Harst hatte sich wieder aufgerichtet.

»Vielleicht hatte Ambermakry sich hier versteckt, um später in aller Ruhe sich aufknüpfen zu können«, meinte er nun.

»Ja, ja – so wird es sein!«, konstatierte Pellertan.

In der Kombüse drängten sich nun die Leute der Jacht und machten lange Hälse, um einen Blick auf den Toten werfen zu können.

»Der Maschinist hat nicht mal sein Mittag verzehrt«, rief einer der Matrosen. »Ich musste es ihm in seine Kabine bringen. Aber es steht noch unberührt da.«

»Sehr wichtig!«, mischte sich nun Chester Blindley ein. »Dieses nicht angerührte Mittagessen beweist, dass Ambermakry sich tatsächlich hier eingeschlichen und verborgen hatte, ganz wie Master Harst soeben vermutete.« Dann drehte er sich nach Harald um. »Na – Selbstmord oder etwas anderes?«, fragte er leiser.

»Selbst … mord!«, erwiderte Harst. Wohl nur mir fiel es auf, dass er die beiden Silben mit einer winzigen Pause aussprach, dass er sie also trennte.

»Auch meine Ansicht!«, sagte Blindley. »Wer sollte auch dem braven Ambermakry was zuleide tun?!«

»Was wird nun?«, warf Pellertan ein. »Sollen wir Seiner Lordschaft sofort Meldung erstatten?«

»Sofort? Das hat noch Zeit,« erklärte Blindley. »Ich werde Seiner Lordschaft dann vorschlagen, Ambermakry in aller Stille nach Seemannsbrauch bestatten zu lassen. Lady Geraldine und die Knaben sollen nicht beunruhigt werden.«

Die Leiche des Maschinisten wurde nun in dessen Kabine getragen und dort auf das schmale Bett gelegt.

Harst hatte mir einen heimlichen Wink gegeben. Er blieb in der Kombüse, unterhielt sich mit dem Koch und ließ die anderen erst alle hinaus, bevor er dann zu dem Franzosen sagte: »Hören Sie, Chaprin, ganz im Vertrauen: Hier stimmt etwas nicht!«