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Der Detektiv – Band 25 – Das Siegellacktröpfchen – Kapitel 3

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Siegellacktröpfchen

Kapitel 3

Die anderen Siegellacktröpfchen

Harst hatte nach der neuen Einspritzung bis gegen fünf Uhr nachmittags fest geschlafen. Dann gestattete ihm Doktor Halfing die erste Mahlzeit, eine Fleischbrühe mit Reis.

Harst bat den Doktor, Seine Lordschaft möchte sich abends mit allem, was die Familientragödie der Wolpoore und die Attentate auf den Lord selbst anginge, hier einfinden; er sei jetzt wieder gesund und wolle sofort sein Versprechen einlösen und behilflich sein, den Attentätern ein für alle Mal das Handwerk legen. Nur müsse er nochmals dringend daran erinnern, dass die Tatsache seiner Genesung unbedingt geheim bleibe und dass es sogar ratsam sei, eher noch im Schloss zu verbreiten, sein Zustand hätte sich verschlimmert.

Doktor Halfing, ein jüngerer, recht sympathischer Engländer, konnte nun doch nicht umhin, Harst zu erklären, dass all das insofern überflüssig wäre, als die hier im Schloss anwesenden Personen sämtlich durchaus zuverlässig seien.

»Seine Lordschaft hält ja nur die allernotwendigste Dienerschaft«, fügte er hinzu. »Im ganzen Schloss gibt es nicht einen einzigen Eingeborenen. Alle Stellen bis hinab zum Küchenmädchen sind mit Engländern besetzt. Gewöhnlich hausen wir hier zu nur zwanzig Personen, die Privatpolizei mit eingerechnet, von der allerdings regelmäßig die Hälfte unterwegs ist und in Madras und anderswo herumspioniert. Der Haushalt wird von einer entfernten Verwandten des Lords, einer Miss Dagna Urbington, aufs Trefflichste und vorzüglich geleitet. Miss Urbington ist selbst ein halber Detektiv. Das eine Attentat auf Seine Lordschaft hat sie allein verhindert. Man hatte in das Sitzkissen des Schreibsessels des Lords fünf vergiftete Nadeln gesteckt. Miss Urbington merkte dies nur daran, dass das viereckige Kissen mit dem Blumenmuster anders gelegt war, als sie es zu tun pflegte. Dann steht ihr noch der mustergültige Hausmeister Thomas Barton aufs Allergewissenhafteste bei der Führung des Wirtschaftsbetriebes zur Seite. Auch Barton ist bereits viele Jahre in Diensten des Lords. Kurz und gut, Master Harst: Ich kann Ihnen nur auf Grund eigener, jetzt vierjähriger Erfahrungen als Leibarzt Seiner Lordschaft versichern, dass Ihnen hier im Schloss keinerlei Gefahr droht. Die Bewachungsmaßregeln sind jetzt derart streng und sorgfältig ausgeklügelt, dass kein Fremder hier eindringen kann.«

»Hm«, meinte Harst, »… und die vergifteten Nadeln in dem Sitzkissen?«

»Oh, der Fall liegt ja viele Jahre zurück. Er ereignete sich kurz nach dem Verschwinden Lady Wolpoores und der beiden sechs und acht Jahre alten Knaben. Kurz danach engagierte Seine Lordschaft dann Chester Blindley, der wieder seine Leute selbst auswählte.«

»Und diese Polizei halten Sie für zuverlässig, Doktor?«

»Aber gewiss, Master Harst, gewiss! Ich kenne doch jeden einzelnen der Leute. Sie alle hängen an Lord Wolpoore mit größter Treue. Es liegt auch in ihrem eigenen Interesse, dass ihm nichts zustößt. Er bezahlt sie glänzend, und sie führen doch alles in allem ein sehr bequemes Leben – sehr.«

Gleich darauf verabschiedete sich Doktor Halfing.

Uns war das, was er uns mitgeteilt hatte, recht interessant gewesen. Harst sagte kopfschüttelnd zu mir: »Weshalb der Lord diesen alten Steinkasten gekauft hat, der doch sicherlich an die hundert Gemächer enthält, ist mir unverständlich. Allerdings – die Lage des Schlosses bietet ja den einen Vorteil, dass niemand ohne Weiteres hineingelangen kann. Die drei Felsen sind steil wie Mauern und dreißig Meter mindestens hoch. Nur – nur wenn es zum Beispiel einen zweiten Geheimzugang gibt wie den, der in Blindleys Wohngemach mündet, dann nützt alle Vorsicht nichts. Ich meine einen Zugang, von dem der Lord nichts weiß. Ob der Radscha von Katschar dem Lord bei der Übergabe des Schlosses dessen sämtliche Geheimnisse mitgeteilt hat, möchte ich stark bezweifeln. Na – wir werden ja sehen!«

Ich rückte ihm die Kissen zurecht. Dann ging ich ins Nebenzimmer, setzte mich an eines der kleinen Bogenfenster mit den bleigefassten Scheiben, öffnete es und schaute in das Land hinaus.

Dann – im Zimmer ein Geräusch. Ich drehte mich schnell um. Vor mir stand eine überschlanke, blonde Frau mit schmalem, schon etwas scharfgezeichnetem Antlitz, aus dem ein Paar helle, große Augen mich prüfend anschauten.

Ich erhob mich schnell. Es konnte nur Miss Dagna Urbington sein. Ich verbeugte mich, nannte meinen Namen.

Sie streckte mir zwanglos die Hand hin.

»Geht es Ihrem Freund wirklich so schlecht?«, meinte sie besorgt. »Ach – dieses Schloss ist wirklich kein angenehmer Aufenthalt.« Sie seufzte leise. »Ich habe hier schon viele traurige Stunden durchlebt, Master Schraut. Ich bin ehrlich: Hätte ich gewusst, welches Verhängnis über den Wolpoores schwebt, dann würde ich mich doch wohl besonnen haben, hierher zu kommen, als Geraldine, ich meine Edwards Frau, mich seiner Zeit bat, hier die Führung des Haushalts zu übernehmen. Sogar sehr besonnen hätte ich mich! Ich lebe hier wie im Gefängnis. Und Edward in seiner Zerfallenheit mit sich und seinem Geschick heitert einen wirklich nicht auf. Es ist auch nicht von ihm zu verlangen. Wer so viel durchgemacht hat wie er!«

Wir plauderten noch eine Weile miteinander. Ihr freimütiges Wesen gefiel mir sehr. Dann war ich wieder allein. Ich dachte daran, dass dieses Mädchen, das ich auf vielleicht dreißig Jahre schätzte, wahrlich kein beneidenswertes Dasein führte. Sie tat mir leid. Fraglos war sie arm. Sonst hätte sie sich hier wohl kaum in ihren Jahren lebend begraben.

Abends acht Uhr. Harst und ich hatten soeben gespeist. Einer der Leute der Polizeitruppe hatte das Geschirr hinausgetragen. Harst saß in einem Ledersessel, den Blindley hier ins Schlafzimmer getragen hatte. Dann kam der Lord, hinter ihm Chester Blindley.

Wir waren vor Lauschern sicher. Blindley hatte draußen im Flur vor seiner Tür einen der Polizisten postiert.

Harst begann sofort, nachdem er sich aus der kleinen Kiste Importen bedient hatte, die Wolpoore mitgebracht hatte. »Mylord, ich ließ Sie bitten, alles mir heute vorzulegen, was mit Ihrer Familientragödie in Beziehung steht. Ich habe nämlich in Pondicherry eine besondere Art Warnung erhalten …«

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte Wolpoore. »Master Schraut hat Blindley davon erzählt; auch von den vier Siegellacktröpfchen. Nun – ich kann Ihnen mit drei Schreiben ähnlicher Art dienen …«

Wolpoore hatte in die Brusttasche gefasst und reichte Harst drei Briefe.

»Bitte – das ist alles, was von greifbaren Dingen existiert, die mit unserem Familienschicksal etwas zu tun haben. Der oberste Brief, der älteste, war an meinen Onkel Horace gerichtet. Sie sehen, das Schreiben enthält nur die Worte: ›Übermorgen lebst du nicht mehr.‹ Als Unterschrift stehen da lediglich vier Silbersiegellacktröpfchen. Mein Onkel Horace starb an demselben Tag, wie ihm angedroht war. Er wurde in Kalkutta im Exzelsior-Klub während eines Diners vergiftet.«

Harst besichtigte diesen Brief, legte ihn auf den Tisch und meinte zu mir: »Es ist genau dieselbe Schrift wie die unseres Warnungsbriefes.«

Wolpoore fuhr fort: »Der nächste Brief ist an mich gerichtet. Dieses Schreiben fand ich vor elf Jahren auf dem Schreibtisch in meinem Haus in Madras. Es lautet: ›Auch du musst sterben. Richte dich darauf ein. Kein Wolpoore wird eines natürlichen Todes enden.‹ Wieder als Unterschrift die vier Siegellacktröpfchen.«

Harst legte auch diesen Brief weg und erklärte: »Es ist dieselbe Schrift.«

Er hatte nun den letzten Brief in der Hand.

Der Lord hatte plötzlich die Augen mit der Linken bedeckt. Als er nun zu sprechen begann, klang seine Stimme wie von Tränen verschleiert.

»Dieser Brief, Master Harst, wurde mir vor sechs Jahren auf meinen Schreibtisch hier im Arbeitszimmer im Ostflügel des Schlosses gelegt. Ich fand ihn, als ich von einer zweitägigen Bereisung meiner Plantagen bei Bangalore zurückkehrte. Ich fand ihn als Ankündigung dessen, was wirklich geschehen war: Meine Frau und meine Söhne waren an demselben Tage verschwunden! Der Brief lautet ja: ›Du wirst die drei nie wiedersehen. Sie sind tot. Wenn der Kummer dein Herz genügend zermürbt hat, wirst auch du endlich sterben?‹ Und wieder die vier Siegellacktröpfchen als Unterschrift abermals dieselbe Handschrift.«

Harst saß nun vornübergebeugt da und hatte den Brief auf dem Schenkel liegen.

»Wie verschwand Ihre Gattin, Mylord?«, fragte er erst nach mehreren Minuten.

»Das weiß niemand, Master Harst. Niemand kann sagen, ob sie mit den Knaben hinab in den Park gegangen war, der sich vom Westflügel des Schlosses aus im Bogen nach Norden zieht. Sie war eben verschwunden – sie und die Kinder! Ach – was ist alles versucht worden, sie wiederzufinden!« Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Wir hörten ein wehes Aufschluchzen. Dann stand der Lord schnell auf und trat an eines der Fenster.

Eine beängstigende, endlose Stille folgte. Niemand wagte zu sprechen. Vor diesem übergroßen Schmerz eines bedauernswerten Vaters und Gatten verstummte selbst jede Regung des Mitleids, die sich vielleicht in Worten äußern wollte.

Harst, der nun genau wie ich einen der Leinenanzüge trug, die der Lord für uns leidlich passend besorgt hatte, behielt seine Haltung bei, hatte noch immer den Brief auf den Knien und starrte auf die Schrift, wobei er fraglos mit seinen Gedanken weit weg war.

Dann hob er etwas den Kopf und schaute mit einem weltentrückten Blick zu mir hinüber. Ich sah nun deutlich all jene Anzeichen erhöhter geistiger Anspannung in seinen Zügen, die mir so gut bekannt waren. Nur der Ausdruck seiner Augen passte nicht ganz dazu. Noch ein paar Sekunden dann sagte er, plötzlich mit recht matter Stimme: »Mylord, wir wollen es für heute genug sein lassen. Sie regt die Erinnerung auf, und ich fühle mich doch noch zu schwach, um heute schon alle Einzelheiten mit Ihnen erörtern zu können. Nur noch eine Frage. Ich interessiere mich sehr für alte, indische Bauten. Besitzen Sie vielleicht einen Grundriss des Schlosses?«

»Ja. Ich habe denselben durch einen Architekten kurz nach Erwerb des Schlosses anfertigen lassen. Er steht Ihnen zur Verfügung. Soll Blindley ihn Ihnen bringen? Ich möchte Sie nicht länger stören. Sie müssen zu Bett. Ich fürchtete gleich, dass Sie sich zu viel zumuten würden. Gute Nacht, meine Herren.«

Blindley begleitete den Lord. Kaum waren wir allein, als Harst sehr elastisch aufsprang. »Schraut, schließe die Tür von Blindleys Wohngemach von innen ab«, befahl er kurz.

Ich hatte schon gemerkt, dass seine Mattigkeit nur Komödie war. Er folgte mir denn auch sofort in Blindleys Wohnzimmer. Als ich die Tür abgeschlossen hatte und mich umdrehte, stand er vor dem hohen Bücherregal und schaute sich die Rücken der dicken Bände in einer der oberen Reihen an. Dann zog er eins der Bücher heraus, ging in unser Zimmer zurück und winkte mir, die Tür wieder aufzusperren. Als ich darauf an den Tisch trat, wo er wieder in seinem Sessel Platz genommen hatte, meinte er: »Schweig von dem Buch.«

Blindley kehrte mit dem Grundriss des Schlosses zurück. Es war das eine große Rolle Zeichenpapier mit zwei Leisten ähnlich einer Landkarte.

»Setzen Sie sich, Blindley. Ich habe nachher mit Ihnen zu reden«, sagte Harst mit frischer Stimme. »Ich wollte den Lord nicht unnötig noch mehr ängstigen. Ich habe nämlich etwas sehr Wichtiges herausgefunden. Spielen Sie mit Schraut eine Partie Schach und stören Sie mich vorläufig nicht.«

Unsere Schachpartie wurde von beiden Seiten nur mit recht geringer Aufmerksamkeit gespielt. Das war weiter kein Wunder. Wir saßen mit Harst an demselben Tisch.

Zunächst hatte er den dritten Brief, die Ankündigung von der Beseitigung der Lady Geraldine und der Kinder, zerrissen, die anderen beiden Briefe in eine Reihe gelegt und unseren Drohbrief darüber. Seine Augen verglichen offenbar jeden einzelnen Buchstaben. Verschiedentlich nickte er sehr befriedigt. So verging gut eine halbe Stunde.

Dann holte er sich vom Nachttisch einen Leuchter mit Kerze, steckte das Licht an, nahm sein Taschenmesser und löste mit der großen Klinge von jedem der vier Briefe das größte Siegellacktröpfchen ab, die er dann nacheinander auf die Messerklinge legte und über der Flamme des Lichtes schmelzen und anbrennen ließ. Jedes Tröpfchen prüfte er dem Geruch nach, nickte wieder sehr befriedigt, murmelte auch einmal undeutlich Etwas sehr unvorsichtig! vor sich hin und griff nun nach dem dicken Buch, das er hinter sich auf den Sessel gelegt hatte.

Er blätterte, suchte offenbar eine bestimmte Stelle und las dann sehr aufmerksam mehrere Seiten, klappte das Buch zu, schob es wieder hinter sich und breitete nun den Grundriss des Schlosses auf seinen Knien aus.