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Der Detektiv – Band 25 – Das Siegellacktröpfchen – Kapitel 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Siegellacktröpfchen

Kapitel 2

Ein Attentat auf Harst

Vier Siegellacktröpfchen! Eins immer kleiner als das andere. Das Größte links, das Kleinste rechts auf dem Briefbogen aus feinstem Büttenpapier unter den sieben Zeilen Schrift.

Harst hatte, nachdem wir uns kaum gesetzt hatten, in die Tasche gelangt und einen Brief hervorgeholt, der ziemlich zerknittert war.

Der Umschlag weiß, Büttenpapier, war nur zugeklebt. Als Adresse stand darauf in etwas ungeübter, lateinischer Schrift: Herrn Harald Harst

Nichts weiter. Es stand Herrn da, nicht etwa Master oder Monsieur.

Kaum hatte ich den Brief gesehen, als ich auch schon wusste, was Harst vorhin so schnell vom Frühstückstisch zu sich gesteckt hatte: diesen Brief.

Auf meine Frage hin bestätigte er mir dies lediglich durch ein Kopfneigen. Dann schnitt er den Umschlag sauber auf, nahm den einmal gefalteten Briefbogen heraus und hielt ihn so, dass auch ich das Geschriebene lesen konnte.

Es war dieselbe etwas kindlich-unbeholfene Schrift wie auf dem Umschlag. Die Zeilen lauteten aus dem Englischen ins Deutsche übertragen:

Ich rate Ihnen dringend, sich nicht mit der Angelegenheit zu befassen, die Sie mit Master Chester Blindley während der Überfahrt von Kapstadt nach Madras besprochen haben. Sie würden sich nur Gefahren aussetzen, wenn Sie trotz dieser Warnung etwa Lord Wolpoore aufsuchen wollten. Eine Probe von dem, was ich zu tun vermag, haben Sie heute erhalten.

Eine Unterschrift fehlte. Das Englisch war fehlerfrei. Etwa zwei Fingerbreit unter der Mitte der letzten Zeile schimmerten wie mattes Silber vier Siegellacktröpfchen! Sie lagen genau in einer Reihe; fast wie eine besondere Art von Stempel!

Harst hielt den Briefbogen still und blieb auch minutenlang völlig schweigsam.

»Ein recht vielversprechender Anfang!«, meinte er dann, nachdem er auch die leeren Seiten des Briefbogens und ebenso den Umschlag eingehend gemustert hatte. »Auf diese Lösung war ich doch nicht vorbereitet«, fügte er hinzu. »Ich glaubte, der arme kleine Bursche musste nur sterben, damit er nicht lebend ergriffen wurde. Jetzt denke ich anders darüber. Dieser Rabindra ben Misore hat ihn geopfert, um mir recht eindringlich vor Augen zu führen, was uns bevorsteht, falls wir die Warnung missachten.«

»Gestatte eine Frage«, warf ich ein. »Hat der Junge uns denn wirklich beobachtet? Ich weiß von der Vorgeschichte …«

»Schon gut! Gewiss, er hat uns beobachtet. Jetzt, wo ich diesen Brief gelesen habe, wird mir auch klar, dass der Knabe von uns bemerkt werden sollte. Wir sollten auf ihn aufmerksam werden, damit der Ausgang des Dramas desto kräftiger auf uns wirkte. Es müssen Leute mit viel verbrecherischer Fantasie sein, die etwas Derartiges ersinnen können, Leute, die über große Machtmittel aller Art verfügen, die kühn, schlau und kaltblütig jede Einzelheit berechnen. Der Tod des kleinen Burschen ist nichts als eine versteckte Drohung. Der Junge hatte den Brief bei sich. Als du unsere Zimmer verließest und in den Flur eiltest, ist er zu unserem Balkon hinübergeturnt, hat den Brief auf den Tisch gelegt und sich in dem Koffer verborgen. Dass dieser leer war, muss derjenige gewusst haben, der das arme Kind in den Tod schickte. Und dieser Mann war natürlich unser Zimmernachbar, der am Morgen nach uns in das Hotel einzog. Es ist dies vielleicht die schrecklichste und hinterlistigste Warnung, die jemals Leute, die mich zu fürchten Anlass hatten, mir zugehen ließen. Besinne dich auf den Chef der Privatpolizei Lord Edward Wolpoores, auf Chester Blindley, und auf seine Bitte, ihm zu helfen, das bereits durch 17 Attentate bedroht gewesene Leben des Lords vor einem achtzehnten zu schützen und die geheimnisvolle Bande zu ermitteln, die diese Attentate vorbereitet hatte, ahnte, dass jemals auch nur ein Einziger von ihnen dabei abgefasst wurde. Blindley behauptet, es seien Mitglieder der seiner Überzeugung nach noch immer fortbestehenden Mördersekte der Thug. Tatsache ist ja, dass seit fünfzig Jahren kein einziger Wolpoore, ob Mann oder Frau, eines natürlichen Todes gestorben ist und dass vor sechs Jahren Lord Edwards Gattin und beide Söhne spurlos verschwunden sind. Damals hat Lord Edward seine aus 20 Mann bestehende Privatpolizei sich zugelegt. Und jetzt … jetzt schickt mir jemand einen Warnungsbrief zu, der in seinem Inhalt klar beweist, dass den Verfolgern Lord Edwards sogar meine damalige Unterhaltung mit Chester Blindley bekannt ist! Ist das nicht etwas unheimlich, lieber Schraut? Deutet das nicht darauf hin, dass an Bord der India sich ein Verbündeter dieser Verfolger des Lords befinden muss? Jedenfalls: Wir haben fortan alle Ursache, um unser Leben sehr besorgt zu sein – sehr! Diese geheimnisvollen Widersacher Lord Wolpoores, mögen es nun wirklich Thug oder andere Leute sein, werden uns nicht schonen. Gegen Blasrohrpfeile kann man sich kaum schützen. Oder doch nur auf eine Art – indem man Indien schleunigst wieder den Rücken kehrt. Und … das werden wir tun.«

Er erhob sich. »Komm, mein Alter, kaufen wir uns einen Koffer, packen wir und reisen wir mit dem nächsten Dampfer nach Colombo, wo wir leicht ein Schiff nach Europa finden.«

Ich verstand ihn, sagte nur: »Natürlich zum Schein!«

»Was sonst! Oder glaubtest du, lieber Alter, ich würde vor diesem ben Misore ausreißen, von dessen Anwesenheit im Hotel ich leider erst etwas erfuhr, als ich mir hinsichtlich des Todes des armen Jungen das Richtige zusammenreimte. Ich hätte mir diesen Misore zu gern aus der Nähe angesehen. Na, vielleicht später …«

Wir schritten der Stadt wieder zu. Harst ging stumm und nachdenklich neben mir. Ganz unvermittelt meinte er dann: »Diese vier Silbersiegellacktröpfchen scheinen so eine Art Unterschrift zu sein. Übrigens hast du auf der Innenseite des linken Armgelenks des kleinen Burschen die blasse Tätowierung gesehen? Sie glich etwa einer sitzenden Puppe mit drei Köpfen. Hm, mir stieg da gleich eine besondere Vermutung auf …«

»Welche denn?«, fragte ich gespannt.

»Die Tätowierung kann vielleicht ein Götzenbild vorstellen – kann! Vielleicht gar die blutige Chali oder Bhowani, die Schutzpatronin der Thug!«

»Ah … Du meinst, dass …«

»Ich meine gar nichts, mein Alter. Wir werden Chester Blindley sprechen … bald, hoffentlich! Dann werden wir über die Thug Näheres hören.«

Drei Tage darauf gegen Abend.

Der Feuerball der Sonne versank nach einem glutheißen Tag hinter den bewaldeten Bergen von Katschar.

Katschar ist ein kleines, nun unter englischer Schutzherrschaft (lies Kontrolle und Bevormundung) stehendes Fürstentum im Westen von Madras. Es ist nicht größer als etwa Mecklenburg-Strelitz. Und es ist ein armes Land, das heißt, der Radscha hat nur ein Einkommen von 50 000 Pfund Sterling – für einen indischen Fürsten ein Nichts! Deshalb hatte auch der jetzige Radscha Chan Bir Singbar Dalmi das Schloss seiner Väter an den reichsten Plantagenbesitzer Indiens, Lord Edward Wolpoore, vor acht Jahren für die Kleinigkeit von zwei Millionen Mark verkauft und war in das kleinere Schloss seiner Residenz Katschar übergesiedelt, nebenbei bemerkt, ein besseres Dorf von 8000 Einwohnern.

An diesem Abend wanderten auf dem Weg zu dem ehemaligen Radschaschloss zwei jämmerlich abgerissene Inder dahin, ein schlanker, jüngerer Mann und ein kleinerer, wohlbeleibter, der eben nur so schwitzen konnte, wie Max Schraut des Öfteren schwitzte.

Wir hatten unter allen nur irgend erdenklichen Vorsichtsmaßregeln den Küstendampfer nach Colombo unterwegs in einem kleinen Hafennest wieder verlassen und ebenso heimlich und vorsichtig uns in zwei zerlumpte Inder verwandelt, hatten uns Gesicht, Nacken, Hände, Arme und Beine mit dem Wurzelsaft der Kukussastaude braun gefärbt, trugen eine durchaus echt wirkende Schmutzkruste mit uns herum und außerdem auf dem Rücken jeder ein Bündel mit den allernotwendigsten Habseligkeiten. Bisher hatten wir auch nicht das Geringste davon gemerkt, dass man uns verfolgte oder dass wir irgendwie beobachtet wurden.

Wir wanderten nun zwischen endlosen, rotblühenden Indigofeldern dahin. In rote Glut getaucht war auch die alte Radschaburg dort drüben, ein sehr ausgedehnter, auf drei einzelnen Felsen stehender Bau aus Granitquadern. Überdachte Brücken verbanden die drei Teile des Riesenschlosses miteinander, das auch ohne diesen Standort auf den mächtigen Felsen einen recht fantastischen Anblick gewährt hätte.

»Wenn wir nur erst drin wären!«, meinte Harst nun und warf seinen Zigarettenrest in die Indigostauden. »Wolpoore lässt ja sein Schloss, wie uns bekannt, besser bewachen, als es bei uns daheim in Deutschland mit einem Zuchthaus geschieht. Ich beneide diesen Milliardär weiß Gott nicht! Was hat er von seinem Geld? Nichts – gar nichts! Dauernd schwebt er nur in Angst vor diesen Leuten, die ihn schon siebzehn Mal umzubringen versucht haben. Siebzehn Mal! Etwas viel, selbst für ein noch so mutiges Herz.«

Ich war zu müde, um zu antworten. Wir waren bereits acht Stunden auf den Beinen. Und wir trugen nur elende Sandalen an den Füßen.

Harst griff plötzlich nach meinem Bündel. »Gib her, mein Alter«, meinte er. »Du bist ja schon erschöpft. Das kann ich nicht mehr mitansehen.«

Vor uns auf der schnurgeraden Straße tauchte ein offenes Auto auf. Es kam vom Schloss her. Harst wurde sofort lebhafter.

»Du, die Gelegenheit müssen wir benutzen!«, rief er. »Sobald das Auto auf hundert Meter heran ist, beginnst du zu taumeln und fällst dann quer über den Weg.«

Mir war das nur lieb. Ich würde den Ohnmächtigen schon naturgetreu spielen.

Harsts Berechnung stimmte. Das Auto hielt zehn Meter vor uns. Ein Europäer sprang heraus: klein, mager, o-beinig, ganz wie ein Jockey aussehend.

Es war Freund Chester Blindley, der Chef der Privat-Polizei des Lords. Er kam langsam auf uns zu. Der andere Europäer, der einem Greis glich und nun im Auto aufrecht stand und argwöhnisch nach uns herüberspähte, war der erst vierzigjährige Lord Edward Wolpoore. Der Chauffeur auf dem Vordersitz, gleichfalls ein Europäer, gehörte fraglos mit zu der Polizeitruppe.

Chester Blindleys mageres Vogelgesicht drückte gleichfalls Argwohn aus. Er traute diesem Ohnmachtsanfall offenbar nicht ganz, zumal ich die Augen offen behalten hatte und ihm allzu vertraulich entgegenschaute. Vor Blindley brauchte ich mich nicht weiter anzustrengen, sehr echt zu wirken.

Zwei Schritt vor uns machte er halt. Bevor er noch etwas sagen konnte, begrüßte Harst ihn schon mit einem kurzen: »’n Tag, Blindley! Wie geht’s?«

Der Detektiv hatte sich gut in der Gewalt.

»Donner noch eins, Master Harst!«, meinte er leise. »Das trifft sich ja großartig. Wir sind gerade mit Seiner Lordschaft unterwegs nach Madras und wollten versuchen, Sie in Pondicherry telefonisch zu erreichen. Es ist nämlich etwas passiert!«

»Ah – Attentat Nr. 18?«

»Nein. Noch nicht. Nur Anzeichen dafür.«

»Gut. Fahren Sie nur nach Madras, bleiben Sie dort eine halbe Stunde und kehren Sie dann zurück. Um Mitternacht können Sie uns vor dem Schloss erwarten. Dort rechts steht eine Felsengruppe mit ein paar Palmen. Um 12 Uhr nachts werden wir an jener Stelle sein. Ich schleppe jetzt den armen Ohnmächtigen beiseite. Wir müssen unsere Rollen als Eingeborene unbedingt sorgsam weiterspielen. Auf Wiedersehen.«

Gleich darauf rollte das Auto vorüber. Wir schwenkten dann nach rechts ab auf die Felsengruppe zu, machten es uns unter den Palmen bequem, packten unsere Lebensmittel aus und aßen mit wahrem Heißhunger.

Es wurde dunkler und dunkler. Gegen halb zehn kam ein alter Hindu mit einer weißen Ziege am Strick dicht an uns vorbei, blieb stehen und fragte im Dialekt der Küstenvölker, ob wir nicht lieber im Rasthaus der Residenz Katschar nächtigen wollten.

Harst deutete an, dass wir taubstumm seien. Der alte Hindu nahm darauf unseren großen Zinnbecher und molk ihn uns voll Ziegenmilch. Dann nickte er uns freundlich zu und zog weiter.

»Ein Gemütsmensch!«, meinte Harald. »Ich bin kein Kostverächter. Deine Abneigung gegen Ziegenmilch kenne ich. Also darf ich den Becher wohl allein leeren. Es lebe der alte Hindu!«

Er trank erst mit langen Schlucken. Dann immer zögernder, dann spie er plötzlich die Milch, die er im Mund hatte, aus, rief mit verzerrtem Gesicht: »Gift – der Schuft hat beim Melken Gift in den Becher getan.« Er lief abseits und zwang den Magen alles herzugeben, was darin war.

»Schraut … die Kognakflasche!«, verlangte er nun mit einer so matten Stimme, dass mir himmelangst wurde.

Ich musste ihn stützen, als er die Flasche an den Mund führte. Er trank. Aber der Magen behielt nichts mehr bei sich – nichts!

Dann kamen Stunden für mich, wie ich sie schon einmal durchgemacht hatte – damals in Palermo, als Harst starb und begraben werden sollte. In Band 11 habe ich geschildert, welche Angst ich damals um Harst ausstand! Und jetzt … jetzt hier in der Einsamkeit der Nacht genau dasselbe.

Harst lag am Boden mit seinem Bündel als Kopfkissen, hatte die Augen geschlossen, atmete keuchend, war gelb im Gesicht und hatte klebrigen Schweiß auf der Stirn. Er hörte auf keinen Anruf mehr. Er war vollständig apathisch. Wenn ich ihm nach dem Puls fühlte, musste ich lange tasten, ehe ich eine Spur von Pulsbewegung vernahm.

Endlich … endlich dann ein Geräusch. Chester Blindley kam. Er war entsetzt, als er Harst in diesem Zustand erblickte. Wir stellten schnell aus Ästen eine Tragbahre her. Gegen ein Uhr kamen wir am Fuß des nördlichen der drei Felsen an, auf denen die alte Radschaburg sich erhob, deren Hauptzugang jedoch im Osten lag. Hier gab es nur einen geheimen Eingang in Gestalt einer unauffällig vermauerten breiten Felsspalte, in der eine Steintreppe hochlief. Sie mündete in dem Wohngemach Blindleys. Im Wandgetäfel war eine verborgene Tür vorhanden, ähnlich wie unten am Fuß des Felsens. Wir legten Harst auf den Diwan. Dann eilte Blindley davon und holte Lord Wolpoores Leibarzt Doktor Halfing, den wir gleichfalls von der India her schon kannten.

Harst regte sich noch immer nicht. Halfing machte ihm eine Einspritzung. Aber auch sie half nichts. Während wir noch um sein Lager herumstanden, trat Lord Wolpoore ein. Stumm reichte er mir die Hand. Traurig schaute er nun auf Harsts verfallenes Gesicht, sagte dann zu Chester Blindley: »Es ist dasselbe Gift anscheinend, dem auch ich einmal beinahe erlegen wäre.«

Blindley nickte nur.

In dem sehr wohnlich ausgestatteten Gemach brannten außer der elektrischen Deckenlampe noch zwei dreiflammige Wandleuchten. Das Schloss hatte, seit Seine Lordschaft es besaß, eigene elektrische Beleuchtung. Das ruhige, kalte elektrische Licht ließ jede Einzelheit der entstellten Züge Haralds genau erkennen.

Plötzlich gewahrte ich, dass er die Augen halb offen hatte. Ich beugte mich schnell über ihn.

»Harald, fühlst du dich besser?«

Er wandte nun sogar den Kopf zur Seite, musterte die Anwesenden, winkte dann matt. Wir umstanden dicht das Kopfende des Diwans.

»Niemand darf erfahren, dass es mir besser geht«, flüsterte er. »Niemand – wer es auch sei. Ich muss scheinbar weiter mit dem Tod ringen. Niemand auch zu mir lassen!«

Harst verbrachte die Nacht so gut, dass Halfing ihm nur noch am Morgen eine Einspritzung machte. In allem wurde jedoch Harsts Wunsch sorgsam befolgt. Nur wir vier Herren wussten, dass er in Kurzem wieder völlig hergestellt sein würde.