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Der Hexer Band 45

Robert Craven (Frank Rehfeld)
Der Hexer, Band 45
Der abtrünnige Engel

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 23. Dezember 1986, 64 Seiten, 1,70 DM, Titelbild: James Warhola

Es war eine Welt aus Nebel und Licht. Ein Land ohne Form, ohne Farben, ohne feste Körper. Noch!!! Die gleißenden Kugeln aus purer Energie, die über der Nebelwelt hingen, sanken langsam tiefer, formierten sich zu einem Kreis, in dem eine weitere Kugel schwebte, kleiner und schwächer als die übrigen. Sekundenlang verharrten die Geistergebilde in schweigender, fast andächtiger Ruhe. Dann eine Stimme: »Im Namen des einen Herrn!« Die Welt versank. Die Zeremonie begann …

Leseprobe

»Der Garten der Beratung«, sprach die Stimme, und aus den grauen Nebelschwaden schälten sich erste Konturen: schlanke, hohe Bäume, die sich in leichter Brise wiegten, und saftiges, grünes Gras unter einem sternenklaren nächtlichen Himmel.

»Der Brunnen der Wahrheit«, fuhr die Stimme fort, und wieder wallte Nebel auf, zog sich zusammen und verlieh einem kleinen Pavillon Gestalt, zwischen dessen Säulen ein leise murmelndes Rinnsal sich über goldene Kaskaden in ein kreisrundes Becken ergoss.

»Es ist alles bereit«, sagte die Stimme. »So nehmt Gestalt an, Schwestern.«

Und die gleißenden Kugeln sanken hernieder auf das Gras und wuchsen wieder empor zu schlanken Körpern wie aus Alabaster, gehüllt in seidene Gewänder aus Licht und Schatten. Allein der Geist in ihrer Mitte wählte eine andere Gestalt, denn über ihn sollte der Schuldspruch gefällt werden im Garten der Beratung. Und doch – in seiner Haltung war nichts, was Schuld erkennen ließ. Aufrecht und stolz stand die junge, dunkelhaarige Frau inmitten ihrer Schwestern, die Hände trotzig, ja provozierend fast in die Hüften gestemmt, den Kopf hoch erhoben.

Doch sie wusste nur zu gut, dass sie die anderen nicht täuschen konnte. Sie alle wussten, wie es in ihrer Seele aussah, dass sie nur mit Mühe die Fassade der Gleichgültigkeit bewahren konnte.

Sie war tot, gestorben unter der grausamen Hand eines sadistischen Magiers, und wenn eine El-o-hym auch nicht wirklich sterben konnte, so hatte sie doch ihren Körper verloren; neben der Seele das höchste und heiligste Gut, das ihr von IHM gegeben war.

In ihren Augen flackerte Furcht, als sie die Blicke der Schwestern erwiderte. Doch auch sie musste sich an das Zeremoniell halten, wollte sie nicht die letzten Sympathien leichtfertig verspielen, die ihr verblieben waren. Ihre Stimme zitterte unmerklich, als sie die Frage stellte.

»Wer ist als Vorsprecherin bestimmt, um mich zu richten?«

Eine der bleichen Schwestern trat vor und senkte ihr Haupt vor den anderen. »Ich bin bestimmt nach SEINEM Willen. So vereint eure Geister und seht.«

Mit diesen Worten öffnete sich der Kreis und wandte sich dem Brunnen zu. Die Vorsprecherin neigte sich über die Schale kristallklaren Wassers und legte die sechs Finger ihrer rechten Hand darauf.

Das goldene Becken begann zu glühen. Feurige Funken tanzten über das Wasser. Und mit ihnen kamen die Bilder …

Eine finstere Burg inmitten einer hitzeflirrenden Wüste, von steinernen Drachen bewacht. Ein Verließ, tief unten, in den Gewölben der Festung. Eine Gestalt am Boden – helles, zartes Fleisch in blutbefleckten Ketten; zerbrochene Flügel, ihrer Federpracht beraubt; ein im Todeskampf verzerrtes Gesicht unter goldenem Haar.

»Dein Tod, Uriel«, klang die Stimme der Vorsprecherin auf. »Der Brunnen der Wahrheit kann nicht irren. Du bist nun wahrlich zu dem geworden, was du unter den Menschen warst – ein Schatten. Und Shadow soll von nun an auch unter deinesgleichen dein Name sein, bis du geläutert bist vom Herrn.«

»Nein!« Shadow war vorgetreten und fuhr mit ihrer menschlichen Hand über das Wasser. Das Bild verschwamm. »Nur mein himmlischer Körper ist gestorben. Ich selbst lebe. Und ich habe meine Mission noch nicht erfüllt!«

Ein erschrockenes Raunen ging durch den Kreis. Die Wirkung ihrer Worte war so groß, dass viele der Schwestern das Gebot vergaßen, sich nur auf gedanklicher Ebene mit den anderen Ratsmitgliedern zu verständigen. Geflüsterte Worte von Ungehorsam und Blasphemie schwangen wie unheilvolle Schatten durch die Nacht. Die Vorsprecherin hob rasch beide Hände und brachte den Kreis augenblicklich zum Verstummen. Lange Zeit stand sie reglos da, sichtlich um Fassung bemüht, bevor sie sich wieder an die menschliche Frau in ihrer Mitte wandte.

»Du weißt, dass du dich fügen musst«, sagte sie fast flehend. »Die Gesetze …«

»Die Gesetze irren«, unterbrach Shadow sie. Wieder klang entsetztes Gemurmel auf, und zwei der Schwestern mussten sich auf ihre Gefährtinnen stützen, einer Ohnmacht nahe. »Kann es Blasphemie sein, das Böse von der Pforte des Paradieses abzuwenden?« fuhr Shadow rasch fort, noch ehe die Vorsprecherin sich wieder gefangen hatte. »Ich sage euch, Schwestern: Die Dunkle Macht steht dicht vor ihrem Sieg, wenn wir ihr nicht Einhalt gebieten! Ahnt ihr denn nicht die Macht der SIEBEN SIEGEL? Wisst ihr nicht, dass die GROẞEN ALTEN ihren Kerker verlassen werden, wenn sich die Siegel zusammenfügen?«

»Das wird nie geschehen«, erklärte die Vorsprecherin, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. »In den Chroniken steht nichts über …«

»Aber so begreift doch!« fuhr Shadow abermals auf. »In den Chroniken kann nichts darüber stehen, weil die Siegel nicht hier geformt wurden, nicht im Machtbereich unseres Herrn. Sie wurden geschaffen von den ÄLTEREN GÖTTERN …«

Ein Schrei ging durch die Reihen der El-o-hym. Einige von ihnen taumelten blind zurück, andere verloren ihren Körper und wurden wieder zu Kugeln aus reiner Energie. Nur die Vorsprecherin blieb unbewegt, doch in ihren Augen blitzte ein gefährliches Feuer. Langsam ging sie auf Shadow zu, die Hände unter den weiten Ärmeln zu Fäusten geballt und ein leises Gebet murmelnd, als hätten Shadows Worte sie beschmutzt.

Sie blieb dicht vor ihr stehen und sah sie lange und eindringlich an. Und als sich ihre Lippen endlich wieder öffneten, hörte nicht nur Shadow, dass ihre Stimme rau war und zitterte.

»Ich habe es geahnt und sehe es nun bestätigt«, sagte die Vorsprecherin. »Du bist schon zu sehr Mensch geworden, um noch eine der unseren zu sein, Shadow. Du hast dir Wissen angeeignet, das uns verboten ist. Du hast das Gesetz der Keuschheit gebrochen, um dich mit einem Menschen zu vereinen. Du bist zu weit gegangen auf deiner Mission, und du hast die wahren Ziele vergessen.« Sie hielt inne und atmete tief ein. Ihre nächsten Worte, das spürte Shadow mit jeder Faser ihres Geistes, würden der letzte rettende Strohhalm sein, an den sie sich klammern konnte.

»Es gibt nur eine Rettung für deine Seele, Shadow. Kehre dich ab von deiner bisherigen Existenz. Trete die Reise an in SEINE Gefilde und beginne ein neues Sein. Du weißt, dass ER vergibt, dass ER dir einen neuen Körper und einen neuen, gesunden Geist geben wird. Löse dich von deiner Erinnerung und dem, was du in dir trägst.«

»Genug!« Shadow presste die Handflächen mit aller Macht gegen ihre Ohren. »So versteht mich doch, Schwestern! Ihr seid… verblendet. Ihr kennt nicht mehr die Welt draußen. Ich jedoch habe sie gesehen! Ich weiß, welche Gefahren darauf lauern, das Glück dieser Welt zu zerstören. Ich sehe nun, welchen furchtbaren Fehler der Mensch Robert Craven in seiner Unwissenheit begeht, und ich muss ihm beistehen, um es zu verhindern. Ich … ich kann nicht zu IHM gehen, nicht jetzt! Ich würde das Wissen verlieren um den letzten Weg, die Erde und all ihre Kreaturen zu retten.«

»So maßt du dir an, ein Messias zu sein?«

Die Frage der Vorsprecherin war rein rhetorisch, und Shadow wusste, dass keine Antwort der Welt sie hätte wirklich beantworten können. Trotzdem schüttelte sie ernst den Kopf. »Nein, Schwester. Ein Werkzeug Gottes, das in SEINEM Willen handelt. Und es muss SEIN Wille sein, denn die Erde ist SEIN Werk. Wie könnte ER zulassen, dass sie vernichtet wird?«

Sie drehte sich langsam im Kreis und bedachte jede der Schwestern mit einem offenen Blick aus ihrer tiefsten Seele, um ihren ihre Ehrlichkeit zu offenbaren. Und tatsächlich konnte sie spüren, wie einige der El-o-hym in ihrem Entsetzen schwankten und zu begreifen schienen.

Sie wusste, dass dies ihre Chance war; die einzige – die letzte. Die Schwestern waren uneins. Das Urteil konnte nicht gefällt werden, bevor der Rat nicht erneut zusammengefunden hatte. Mit einem schnellen Ruck wandte sich Shadow wieder der Vorsprecherin zu.

»Gebt mir Zeit«, bat sie eindringlich und mit fester Stimme. »Ich kehre zurück.«

Und wurde zu einem Ball flammender Helligkeit.

Die Vorsprecherin stürzte vor, die Hände ausgestreckt, doch sie kam zu spät. Aus schreckgeweiteten Augen sah sie den Feuerball verblassen, als Shadow die Dimension der El-o-hym verließ.

Für Minuten noch verharrte der Kreis schweigend und betroffen. Kein Zweifel – die Worte ihrer Schwester waren blanker Ungehorsam gewesen, gegen die ehernen Gesetze und gegen das Volk der El-o-hym. Und doch – sie alle hatten den Hauch von Wahrheit darin gespürt.

Und vielleicht war es das, was sie so erschreckte; nicht Uriels Flucht zurück auf die Erde.

Sie waren aus ihrem trügerischen Schlaf des Friedens und der Eintracht geweckt worden. Und was konnte es Schlimmeres geben für einen Engel …?

 

*

 

Mitternacht.

Wind war aufgekommen und trieb, einem finsteren Vorhang gleich, schwere, bauchige Wolken vor den Mond. Die Stille der Nacht wurde nur von einem gelegentlichen, leisen Grollen unterbrochen; das Echo eines Gewitters, das aus weiter Ferne drang und sonderbar bizarr und falsch klang, sich fast wie das Brüllen urzeitlicher Untiere ausnahm. Einen Moment lang war wieder Stille, dann antwortete das zwölfmalige Schlagen einer Kirchturmglocke auf den Donner. Aber auch dieser Laut versickerte im Schweigen der Nacht, und zurück blieb Dunkelheit …

Jennifer Corland hatte es längst bereut, sich keine Kutsche genommen zu haben. Schließlich hatte Sir Windham ihr ausdrücklich angeboten, einen Wagen kommen zu lassen; allerdings erst, nachdem er ihr verkündet hatte, dass weitere Treffen unmöglich wären. Er hatte ihr eine beachtliche Summe für ihr Schweigen geboten.

Jennifer hatte weder den Wagen noch das Geld genommen. Stattdessen hatte sie ihn geohrfeigt und war davongelaufen. Eine Kutsche war so ziemlich das letzte gewesen, an das sie gedacht hatte. Im Grunde hatte sie überhaupt nicht gedacht in diesem Moment, sondern war blind vor Zorn und ohnmächtiger Wut in die Nacht hinausgestürmt.

»Ich hasse dich, Jeoffrey Windham«, murmelte sie leise. Zornbebend strich sie sich eine blonde Haarlocke aus der Stirn. Der Wind riss ihr die Worte von den Lippen und ließ sie ungehört zwischen den Fassaden der schmutzigen Häuser verhallen. Nur das dumpfe Grollen des Donners antwortete ihr.

Sie zuckte zusammen. Jetzt, nachdem sich der Zorn und die Verzweiflung ein wenig gelegt hatten, kam die Angst. Das Unwetter näherte sich rasch; sie konnte das blaue Flackern ferner Blitze erkennen. Der Himmel spannte sich wie ein lichtschluckendes Tuch aus gefrorener Finsternis über ihr. In unregelmäßigen Abständen lugte das bleiche Antlitz des Mondes hindurch – wie ein großes, böses Gesicht, das kalt auf sie herabstarrte.

Jennifer versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, aber es ging nicht. Die Angst hatte sich wie der Keim einer schleichenden Krankheit in ihr eingenistet und ließ sie schneller laufen. Sie musste sich sehr beeilen, um noch vor Einbruch des Gewitters nach Hause zu gelangen. Lange würde der Regen nicht mehr auf sich warten lassen.

Ihr Zorn ebbte weiter ab. An seiner Stelle machte sich der bittere Geschmack der Enttäuschung auf ihrer Zunge breit. Was für ein Narr war sie doch gewesen! Von Anfang an hätte sie wissen müssen, dass Träume niemals wahr wurden; und wenn doch, dann als Alptraum. Dafür war alles viel zu märchenhaft gewesen. Aber in ihrer grenzenlosen Einfalt hatte sie sich die Hoffnung bewahrt, dass das Wunder doch geschehen würde. Jedes Mal war sie mit größerer Erwartung zu Windham gegangen. Wie eine seelenlose Puppe war sie ihm im Bett zu Willen gewesen, hatte all die Dinge ertragen, die er von ihr verlangte, und sich immer wieder an die Hoffnung geklammert, dass er seine Versprechen doch noch einlöste. Wie hatte sie nur glauben können, der reiche, adelige »Gentleman« würde sie, die armselige Küchengehilfin, heiraten? Sie hatte Dinge getan, für die sie sich selbst verabscheute.

Und wozu?, dachte sie bitter.

Wie vielen anderen Mädchen hatte er wohl noch die Ehe versprochen, nur um sie sich gefügig zu machen? Fünf? Zehn? Fünfzig? Es war Jennifer egal. Sie dachte nur noch an das, was er ihr angetan hatte. Und an ihre Rache.

Sie würde den Umtrieben dieses feinen Sirs einen Riegel vorschieben. Keine noch so hohe Summe würde sie davon abbringen. Dafür hatte er sie zu tief getroffen. Jede Demütigung hätte sie ertragen können, aber dass er ihre Hoffnungen so grausam missbraucht und enttäuscht hatte, konnte sie nicht verzeihen. Er hatte sie zu Dingen verleitet, für die sie sich selbst hasste. Und dafür hasste sie ihn.

Jennifer wollte Rache, und sie würde sie bekommen, das schwor sie sich. Es war ihr klar, dass auch sie dafür bezahlen musste. Alle würden mit Fingern auf sie deuten, sie würden tuscheln und die Köpfe zusammenstecken, wenn sie sie sahen. Sie würde eine Geächtete sein, aber das war ihr gleich. Ihre Enthüllungen würden einen ungeheuren Skandal auslösen. Schließlich verkehrte Windham in bester Gesellschaft.

Noch …

Der Wind war mittlerweile so stark geworden, dass er Blätter und allerlei Unrat durch die verlassenen Straßen trieb. Der Donner, der sich zuerst nur ab und zu gemeldet hatte, rollte nun fast ununterbrochen. Jennifer begegnete keinem Menschen. Aber sie achtete auch nicht auf die Umgebung. Sie merkte nicht einmal, dass sie bereits seit Minuten vor Verzweiflung weinte. Schluchzend hastete sie vorwärts, blind und ziellos und ohne selbst zu wissen, wohin. Ihre Schritte hallten hohl von den Wänden wider. Das Echo klang beinahe geisterhaft in ihren Ohren, wie ein Laut aus einer fremden, unheimlichen Welt.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis Jennifer Corland erkannte, dass sie nicht nur den Widerhall ihrer eigenen Schritte vernahm.

Jemand folgte ihr.