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Der Detektiv – Band 24 – James Palperlons Vermächtnis – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 24
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
James Palperlons Vermächtnis

Teil 1

Wir saßen in der Kabine nebeneinander auf dem kleinen Wandsofa. Harst hatte das eng zusammengelegte Testament Palperlons nochmals eingewickelt, entfernte nun die Hülle und faltete das Papier auseinander. Es war ein weißer Briefumschlag in Größe 12 mal 15 Zentimeter. Als Adresse stand darauf in einer steilen, schmucklosen und sehr energischen Handschrift:

Nach meinem Tod an Herrn Harald Harst, Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, ungeöffnet zu senden.
James Palperlon
Der Umschlag war nur zugeklebt. Nachdem Harst ihn von außen so genau besichtigt hatte, wie eben nur er dies tat, selbst wenn es sich um scheinbar noch so lächerliche Kleinigkeiten handelte, reichte er ihn mir ungeöffnet und meinte: »Bitte – Vortrag!«

Das hieß, ich sollte nun ebenfalls den Umschlag erst fünf Minuten lang hin und her drehen und dann mein Licht leuchten lassen, also erklären, was mir an dem Kuvert auffiel.

Etwas Auffallendes war fraglos daran, sonst hätte Harald nicht um Vortrag gebeten. Ich gab mir die redlichste Mühe, irgendetwas zu entdecken.

Aber obwohl ich genau wie Harst mit einem Vergrößerungsglas den Umschlag Millimeter für Millimeter absuchte, ich musste schließlich den Brief doch wieder auf den Tisch zurücklegen und erklären: »Mein Vortrag fällt kurz aus: Ich finde an dem Ding nichts Auffälliges!«

Harst hatte sich eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten angezündet.

»So, so, schade!«, meinte er. »Sieh mal, lieber Alter, dort auf dem Wandbrett steht eine sicher hier nur als Dekoration dienende Briefwaage. Vielleicht langst du mal hin und stellst sie auf den Tisch.«

»Was wiegt ein leerer Briefumschlag dieser Größe und Papierstärke?«, fragte er nun.

»Offen gesagt: Ich habe keine Ahnung.«

»Drei bis vier Gramm, schätze ich. Wiege mal nach.«

Er hatte recht. Vier Gramm wog der Briefumschlag, den er seiner Brieftasche entnommen hatte und der in Größe und Papierstärke dem Palperlonschen sehr ähnlich war.

»So, und nun Palperlons Brief auf die Waage!«, ordnete er weiter an.

Der Erfolg? Auch Palperlons Testament wog vier Gramm – vielleicht ganz wenig mehr.

Da ging mir ein Licht auf. »Der Umschlag ist leer!«, rief ich.

»Vermutlich!«, bestätigte Harst. »Das geringe Gewicht dieser letztwilligen Verfügung hättest du merken müssen, mein Alter. Außerdem verriet einem auch das Gefühl, wie dünn der Brief war.«

»Es hätte nur ein einzelnes dünnes Blatt darin stecken können«, verteidigte ich mich.

Harst schnitt schon den Umschlag vorsichtig auf und zog dann doch etwas heraus!

Ich triumphierte. Dieses Etwas war allerdings ein sehr merkwürdiges Testament, nämlich eines jener hauchdünnen Seidenpapierblätter, wie sie in Konfitürengeschäften als Decke für einen gefüllten Konfektkarton benutzt werden.

Jeder kennt diese Seidenpapierblättchen. Sie sehen wie ein etwas faseriger Seidenstoff aus, haben einen verzierten Rand und tragen oft in Golddruck den Namen des Bonbonladens oder der Fabrik.

Auch dieses Blättchen hier – es war fünf mal vierzehn Zentimeter groß – zeigte einen solchen Firmenaufdruck:

Vapaures Freres,
Confiserie,
Pondicherry, Boulevard de la Gare 19

Also:

Gebrüder Vapaures,
Konfektgeschäft,
Pondicherry, Bahnhofs-Boulevard 19

Pondicherry ist bekanntlich eine kleine französische Kolonie an der Westküste Vorderindiens mit gleichnamiger Hauptstadt.

»Recht eigenartig« meinte Harst lächelnd und hielt das Seidenpapierblättchen gegen das Licht. »Siehst du etwas darauf außer dem Firmenaufdruck? Ich nicht! Und es dürfte auch nichts darauf zu sehen geben, denn auf solchem Seidenpapier kann kein Mensch etwa mit wieder verschwindender Tinte schreiben, ausgeschlossen!«

»Mithin hat Palperlon uns gefoppt«, meinte ich zögernd. Ich glaubte selbst nicht an eine solche Möglichkeit.

Harst hatte meinem Ton diese Zweifel angemerkt.

»Du bist dir deiner Sache bei diesem gefoppt worden sein nicht ganz sicher. Und mit Recht. Bedenke, dass Palperlon in seinen letzten Sekunden von seinem Vermächtnis sprach. Wie wird er, nur um uns zum Narren zu halten, wohl für dieses Testament ein solches Versteck wie seinen Absatz gewählt haben! Nein, mein Alter, es ist schon ein Testament! Nur eben eins, das, falls es in andere Hände und nicht gerade in die meinen geriet, nicht entziffert werden sollte. Palperlon hat hier also eine geheime Urkunde in der Überzeugung geschaffen, dass ich ihren Text schon heraustüfteln würde. Na, unser ehemaliger Feind hat sich in mir nicht getäuscht. Der Text ist schon gefunden.

Ich blickte ihn überrascht an.

»Du meinst wohl, ich renommiere?«, frohlockte er.

Als ich schwieg und das Seidenpapierblättchen abermals gegen das Licht hielt, fuhr er fort: »Gib dir keine Mühe, lieber Alter. So kommst du nicht dahinter. Niemals! Ich werde dir hier auf ein Stück Papier etwas aufschreiben. Das Papier tue ich in den Umschlag, den wir zu der Wiegeprobe benutzten. Wenn wir dann Palperlons letzten Willen erfüllt haben, kannst du den Umschlag öffnen, den du bis dahin bei dir behalten magst. Dann wirst du auf dem Zettel das finden, was ich vorläufig verschweigen möchte, um dir die Spannung an diesem neuen Abenteuer nicht zu verderben. Denn – ein Abenteuer wird es auf jeden Fall. So, da hast du den Umschlag. Verwahre ihn gut.«

Ich legte ihn zwischen Stoff und Futter meiner weichen Reisemütze.

»Bravo so!«, lobte Harald. »Da ist er vorläufig gut aufgehoben! Sobald wir in Kapstadt sind, erkundigen wir uns nach dem nächsten Schiff nach Indien. Ich bin sehr neugierig, was wir in der Confiserie Vapaures Freres erleben werden.«

Wir hatten Glück. Als wir Lord Balleray, den Gouverneur der Kapkolonie gleich nach unserem Eintreffen in Kapstadt besuchten und ihm mitteilten, was es mit dem Geheimnis der Insel Tristan da Cunha auf sich gehabt hatte, und als Harst dann von seiner Absicht sprach, wieder ein paar Monate Indien zu bereisen, für das er ja von jeher eine Schwäche gehabt hätte (von Palperlons Testament fiel kein Wort), rief Balleray freudig.

»Oh, das trifft sich ja vorzüglich, mein lieber Master Harst – ganz vorzüglich! Mein alter Freund Wolpoore ist heute früh mit seiner Motorjacht India in unseren Hafen eingelaufen. Kennen Sie Wolpoore – wenigstens dem Namen nach? Nein? Nun, Lord Edward Wolpoore ist der größte Plantagenbesitzer Indiens, vielleicht der reichste Mann Englands überhaupt. Er hat seinen ständigen Wohnsitz in einem früheren Radschaschloss unweit Madras. Jetzt kommt er von London und befindet sich auf der Heimreise. Ich werde ihn bitten, Sie als seine Gäste mitzunehmen. Seine Jacht läuft 23 Knoten. Eine schnellere und bequemere Überfahrt nach Indien dürften Sie kaum haben.«

Abends lernten wir dann Lord Edward Wolpoore kennen. Als wir ihm durch Balleray vorgestellt wurden, ahnten wir nicht, dass wir gerade durch ihn vielleicht den interessantesten Abschnitt unserer Tätigkeit als Liebhaberdetektive durchmachen sollten.

Wolpoore war vierzig Jahre alt, sah aber wie ein Sechziger aus. Selten bin ich einem Gesicht begegnet, auf dem jede Falte so sehr der Ausdruck ständiger nervöser Unruhe war. Der ganze hochgewachsene schlanke Mann schien nur ein Bündel kranker Nerven zu sein.

Als Lord Balleray ihm dann mitteilte, wir hätten die Absicht, von hier nach Indien zu reisen, war Wolpoore es, der uns sogleich einlud, auf der India ihn bis Madras zu begleiten. Harst nahm dankend an.

Wolpoore hatte seinen Privatsekretär bei sich, einen kleinen, mageren Herrn namens Chester Blindley, der wie ein Jockey aussah, aber ein Moltke1 war, was die Schweigsamkeit anging.  Am nächsten Morgen gingen wir an Bord der India, die um neun Uhr in See stach.

Am Abend – wir hatten eine gemeinsame, geräumige und sehr elegant ausgestattete Kabine – sagte Harst beim Auskleiden leise zu mir: »Na, hast du was bemerkt, mein Alter?«

»Gewiss. Jedes Kind hätte hier aus tausend Kleinigkeiten feststellen können, dass Lord Wolpoore sich mit einem raffiniert ausgeklügelten Wall von Vorsichtsmaßregeln zum Schutz seines ihm offenbar sehr kostbaren Lebens umgeben hat.«

»Und sein Gesicht?«, meinte Harald.

Ich blickte Harst fragend an.

»Nun, sein Gesicht verrät, dass er ständig den Tod fürchtet – den Tod von der Hand irgendwelcher Feinde«, erklärte Harst.

Ich nickte. »Du magst recht haben.«

»Ich habe recht. Chester Blindley hat sich mir anvertraut. Er ist nur dem Namen nach bei Wolpoore Privatsekretär. In Wahrheit ist er Berufsdetektiv und seit fünf Jahren Chef der Detektivpolizei, die Wolpoore lediglich zu seinem eigenen Schutz unterhält. Die Truppe besteht aus zwanzig auserwählten Leuten, von denen zurzeit sechs sich hier auf der Jacht befinden.«

»Aber weshalb das alles?«, sprach ich leise. »Das sieht doch fast nach der Marotte eines …«

Harst hatte mir mit sehr ernstem Gesicht zugewinkt.

»Hast du Eugen Sues Roman Der ewige Jude gelesen?«, fragte er. »Natürlich kennst du das Buch. Jeder kennt es. Besinne dich auf die dort erwähnte Mördersekte der Thug, die zu Ehren der blutigen Göttin Bhowani oder Chali mit einer geweihten Schlinge ihre Opfer erdrosseln. Lord Wolpoores Großvater hat als Vizekönig von Indien die Thug erbarmungslos auszurotten versucht. Die Mordbande, die besser organisiert sein soll als irgendeine andere Geheimgesellschaft, schwor ihm Rache – ihm und allen seinen Nachkommen. Es genügt, wenn ich dir sage, dass seit diesem Schwur kein Träger des Namens Wolpoore eines natürlichen Todes gestorben und Lord Edward der letzte Wolpoore ist, nachdem seine Gattin und seine beiden Söhnchen vor sechs Jahren spurlos verschwunden sind. Begreifst du nun, weshalb dieser reiche, arme Mann alles daransetzt, den Nachstellungen der Thug zu entgehen?«

Ich gebe zu: Mir war es kalt über den Rücken gelaufen bei diesem Bericht über die Tragödie einer ganzen Familie.

Harst schaute mich sinnend an. »Bisher sind auf Edward Wolpoore siebzehn noch rechtzeitig vereitelte Attentate verübt worden«, sprach er nachdenklich weiter. »Chester Blindley sagte zu mir: ›Offiziell sind ja die Thug längst ausgerottet. Die indische Regierung glaubt nicht daran, dass die Mördersekte noch existiert. Ich behaupte das Gegenteil. Wer sollte wohl diese siebzehn Attentate versucht haben? Die Regierung beruhigt sich selbst und antwortet: Es handelt sich lediglich um eine sehr schlaue Erpresserbande! Na, Erpresser verschwenden kaum wie hier viele Tausende für die Vorbereitungen ihrer Attentate. Es sind Thug, Master Harst! Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen wollten, dies auch zu beweisen. Bisher haben wir nämlich auch nicht einen einzigen dieser Schurken zu Gesicht bekommen; sie sind schlauer als schlau!‹ So sprach Chester Blindley heute Nachmittag zu mir auf dem Achterdeck. Was habe ich wohl geantwortet, mein Alter, he?«

Show 1 footnote

  1. Helmuth Karl Bernhard von Moltke, eigentlich Helmuth von Moltke, ab 1870 Graf von Moltke, genannt (der Ältere), auch bezeichnet als „der große Schweiger“, (* 26. Oktober 1800 in Parchim; † 24. April 1891 in Berlin) war ein preußischer Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabes.