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Der Detektiv – Band 24 – Der Einsiedler von Tristan de Cunha – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 24
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Einsiedler von Tristan de Cunha

Teil 1

Lord Balleray, der Gouverneur der Kapkolonie, hatte Harald Harst und mich an einem Donnerstag zu einer Segelpartie auf seiner Jacht Miranda eingeladen. Wir waren morgens von Kapstadt abgesegelt und verlebten acht behagliche Stunden an Bord des schnellen, eleganten Schiffes und lernten die Gastfreiheit eines vornehmen Engländers von der besten Seite kennen.

Erst auf der Rückfahrt von diesem Ausflug in den Atlantik hinein begann Lord Balleray von jener Angelegenheit zu sprechen, die uns zu unserem nächsten Abenteuer verhelfen sollte.

Wir saßen in bequemen Liegestühlen auf dem Achterdeck der Miranda, als der Lord plötzlich zu Harst sagte: »Mein sehr verehrter Master Harst, Sie haben doch nun in nächster Zeit keine bestimmte Aufgabe, mit der Sie sich beschäftigen könnten, nachdem Sie hier bei uns in Kapstadt den größten und genialsten Verbrecher aller Zeiten zur Aburteilung der irdischen Gerechtigkeit überliefert haben. Jener James Palperlon sitzt in einer der neuen Mörderzellen des Gefängnisses, aus denen ein Entweichen nur mithilfe übernatürlicher Kräfte möglich wäre. Da selbst ein Palperlon über solche nicht verfügt, wird er wohl in nicht allzu langer Zeit den Kopf in die Hanfschlinge stecken müssen. Jedenfalls: Für Sie kommt er als Jagdobjekt nicht mehr infrage! Sie haben der Welt den großen Dienst erwiesen, sie von dieser Geißel, diesem Scheusal befreit zu haben. Würden Sie nun vielleicht ein Geheimnis aufzuklären versuchen, das mit seinen nach außen hin spürbaren Einzelheiten zwar weder lästig noch aufregend ist, immerhin aber so manches enthält, das mich zwingt, mich in meiner Eigenschaft als Gouverneur der Kapkolonie damit näher zu befassen.«

Er rauchte einige Züge und fuhr fort: »Zu meinem Verwaltungsgebiet gehört auch die weit im Südwesten von Kapstadt gelegene Insel Tristan da Cunha. Eigentlich sind es drei Inseln, aber nur die eine ist umfangreich und fruchtbar genug, um ein paar Kolonisten eine Daseinsmöglichkeit zu gewähren. Darf ich weiterberichten, Master Harst? Oder hätten Sie nicht gerade große Lust, mit meiner Jacht die Insel einmal zu besichtigen?«

»Oh, gewiss habe ich Lust, Mylord!«, erwiderte Harst. »Ein Geheimnis auf einer nur von 82 Leuten bewohnten, abseits von jedem Schiffsverkehr gelegenen Insel muss doch fraglos recht außergewöhnlich sein, wenn es sogar die Verwaltungsbehörde hier in Kapstadt beschäftigt.«

»Ganz recht. Es ist auch außergewöhnlich, wenn auch scheinbar harmlos. Vor einem halben Jahr begann das Geheimnis, und zwar mit folgendem Vorfall. Die Ansiedlung auf der Insel liegt am Fuß eines erloschenen Vulkans und besteht aus mehreren farmähnlichen Gehöften. Eines Nachts bemerkten nun zwei Männer auf der Spitze des Kraterberges bei klaren Wetter ein hell schimmerndes Licht, das ähnlich einem Scheinwerfer einen weißen Strahlenkegel ausschickte, wieder verschwand, abermals auftauchte und dann eine bestimmte Richtung beibehielt. Den beiden Männern erschien dieses Licht so seltsam, dass sie am Morgen mit den anderen Kolonisten das Beobachtete besprachen und anfragten, ob jemand denn oben auf dem Krater gewesen sei. Alle verneinten. Damit erhielt jenes Licht sofort notwendig etwas Rätselhaftes. Viele Tage vergingen; es zeigte sich nicht wieder. Dann tauchte es abermals auf; wieder in einer sternklaren Nacht. Diesmal bestiegen vier der Kolonisten den Berg, was mühsam und anstrengend, aber nicht gefährlich ist. Sie sahen während des Aufwärtsklimmens das Licht noch eine ganze Weile. Dann erlosch es. Die Leute entdeckten oben nicht das Geringste, was auf die Anwesenheit von Fremden hingedeutet hätte. Sie kehrten enttäuscht wieder um. In derselben Weise ließen sich die Kolonisten dann noch dreimal zu einer Besteigung des Kraters verleiten, stets ohne Erfolg. Auch am Tage war inzwischen verschiedentlich der Berg abgesucht worden. Der Gemeindevorstand der Kolonie hielt sich nun für verpflichtet, die Sache nach Kapstadt zu melden. Ich schickte einen Polizeiinspektor mit zwei Beamten hin. Sie kehrten nach zwei Monaten, nachdem sie das Licht dreimal beobachtet hatten, unverrichteter Sache zurück. Vor sechs Wochen wurde mir dann gemeldet, dass das weiße Licht nun fast allnächtlich sichtbar sei. Abermals entsandte ich Beamte. Sie erreichten wiederum nichts. Sobald sie in die Nähe des Gipfels des Kraters kamen, verschwand das Licht; wenn sie sich nachts oben verborgen hatten, blieb es aus. Kurz: Alles deutete und deutet noch heute darauf hin, dass sich sehr wahrscheinlich Fremde dort auf Tristan da Cunha zu irgendwelchen Zwecken verbergen. Das ist alles, Master Harst. Sie sehen, die Geschichte ist harmlos, wie ich bereits vorhin erwähnte. Ich weiß daher auch nicht recht, ob ich einen Liebhaberdetektiv von Ihrem Weltruf mit einer solchen Angelegenheit überhaupt behelligen darf. Immerhin wäre es mir sehr angenehm, wenn die Sache aufgeklärt würde. Die Kolonisten sind in ihrer Ruhe durch jene Lichterscheinung gestört worden und fürchten, eines Tages könnte ihre Ansiedlung womöglich von einer Rotte geflüchteter Verbrecher oder von dergleichen fragwürdigen Existenzen ausgeplündert werden.«

Harst hatte offenbar nur mit mäßigem Interesse zugehört. Nun aber fragte er plötzlich recht lebhaft: »Rotte von Verbrechern? Haben sich denn Anhaltspunkte dafür ergeben, dass tatsächlich mehrere Leute heimlich auf Tristan da Cunha hausen?«

»Insofern ja, als bereits fünf Schafe den Kolonisten von der Weide spurlos verschwunden sind.«

»Und daraus schließt man, dass …«

»Allerdings, allerdings, Master Harst. Daraus und aus der Tatsache, dass ohne Zweifel nachts wiederholt auf der Weide auch Kühe gemelkt worden sind.«

»Und man hat im Übrigen nie die geringste Spur entdeckt, dass Leute dort in der Verborgenheit leben, Mylord?«

»Nie! Das ist gerade das Unheimliche bei alledem.«

»Zeigt sich das Licht stets an derselben Stelle?«

»Jawohl, Master Harst. Stets genau an der Nordwestseite des Kraters. Mit einem Fernglas soll man es von unten deutlich sehen, wenn die Luft klar ist.«

»Nun, ich werde Tristan da Cunha besuchen, Mylord. Nur stelle ich eine Bedingung: Niemand darf außer Ihnen erfahren, dass ich die Absicht habe, dorthin zu reisen. Wenn Sie mir Ihre Jacht zur Verfügung stellen, so soll dieselbe mich anderswohin bringen, sagen wir nach Sansibar zum Beispiel.«

Um 5 Uhr nachmittags machte die Miranda im Hafen von Kapstadt wieder fest. Der Gouverneur hatte für uns alle bereits vorher einen Tisch im Atlantik-Hotel belegen lassen. Wir begaben uns sofort dorthin und fanden in dem prächtigen Speisesaal den Tisch aufs Geschmackvollste für ein Diner gedeckt. An unserem Tisch ging es bald recht lebhaft zu. Gerade als der Kellner den Fisch reichte, erschien Polizeiinspektor Garner und bat Lord Balleray und uns beide um eine kurze Unterredung. Man merkte ihm die nur mühsam niedergehaltene Erregung deutlich an. Wir erhoben uns und traten an den Springbrunnen.

»Mylord«, begann der Inspektor sofort, »ich muss leider melden, dass James Palperlon vor etwa drei Stunden aus dem Staatsgefängnis entwichen ist.«

»Nicht möglich!«, rief Balleray geradezu entsetzt. »Wie hat denn das geschehen können?«

»Der Aufseher, der Palperlons Zelle unter sich hatte, muss diesem zur Flucht verholfen haben. Anders ist diese nicht zu erklären. Der Aufseher Mankay leugnet natürlich. Aber die Zelle ist leer, verschlossen und doch ist Palperlon verschwunden.«

Hier mischte sich Harst ein.

»Wer bemerkte denn Palperlons Entweichen zuerst, Master Garner?«, fragte er kurz.

»Mankay tat es«, erklärte Garner. »Er machte um vier Uhr seinen gewöhnlichen Rundgang, will dabei durch das Guckloch in der Tür in Palperlons Zelle hineingeschaut und so dessen Verschwinden wahrgenommen haben. Natürlich ist das alles gelogen. Palperlon wird ihm goldene Berge versprochen haben, und da hat sich Mankay eben betören lassen. Palperlon war ja mit Stahlfesseln an die Wand gekettet. Die Fesseln sind unbeschädigt.«

Lord Balleray meinte jetzt recht erregt zu Harst: »Was halten Sie davon, Master Harst? Schade, nun wird das Geheimnis von Tristan da Cunha …« Er biss sich auf die Lippen, fuhr schnell fort. »Ich rede Unsinn. Nun wird Palperlon Ihre Zeit wieder nur allzu sehr in Anspruch nehmen, und Sie …«  Harsts Gesichtsausdruck ließ ihn den Satz nicht beenden.

»Was halten Sie denn, bester …«

Harst eilte plötzlich davon, kehrte erst nach fünf Minuten zu uns zurück und sagte achselzuckend: »Ich hätte flinker sein müssen, Mylord, wir sind hier von einem Herrn belauscht worden. Der Mann stand dort hinter jener Palme, kaum drei Schritt von uns entfernt. Als ich ihn bemerkte, verschwand er durch den Nebenausgang dort. Der Mann war ohne Frage Palperlon!«

»Aber ich bitte Sie, Master Harst!«, meinte Lord Balleray zweifelnd. »Wie wollen Sie das …«

»Ich werde es beweisen, Mylord. Fahren wir zum Gefängnis. Diese merkwürdige Flucht Palperlons interessiert mich.«

Inspektor Garners Dienstauto brachte uns in fünf Minuten zum Staatsgefängnis, wo die ganze Beamtenschaft sich in einer leicht begreiflichen Aufregung befand.

Im Zimmer des Direktors wurde der Aufseher Thomas Mankay auf Garners Befehl von zwei Kollegen bewacht. Der Direktor hatte bereits alles versucht, Mankay zu einem Geständnis zu bewegen. Thomas Mankay war ein etwa vierzigjähriger, blasser Mensch, ein früherer Feldwebel der Kolonialarmee. Er machte nun einen vollkommen verstörten Eindruck. Weinend fast beteuerte er auch Lord Balleray gegenüber seine Unschuld.

»Master Harst, retten Sie mich,« sagte er mit zitternder Stimme. »Ich habe in Indien zwölf Jahre in der Armee treu gedient. Und jetzt soll ich plötzlich ein Lump sein!«

Ihm traten Tränen in die Augen.

Harst beobachtete ihn scharf, meinte dann gleichgültig: »Ihr Leugnen hilft Ihnen nichts! Sie haben Palperlon die Flucht ermöglicht!«

Mankay knickte förmlich zusammen. »Auch Sie, Master Harst, auch Sie!«, rief er verzweifelt und reckte die Arme wie beschwörend hoch. »Es ist nicht wahr: Ich tat es nicht. Und ich kann …«

Harst winkte ihm zu. »Lassen Sie all das, Mankay!«, unterbrach er ihn. Dann befahl er den beiden anderen Aufsehern, Mankay in das Vorzimmer zu führen.«

Als wir nun allein waren – der Lord, Garner, der Direktor und wir beide –, sagte Harst zu Balleray:  »Mylord, ich will Ihnen zeigen, wie Palperlon entwischt ist. Wir werden hier folgende kleine Komödie spielen. Mankay wird nach fünf Minuten wieder hereingerufen. Inzwischen muss hier ein sehr lebhafter Wortwechsel stattgefunden haben, und Inspektor Garner muss auch einen der Aufseher nach zwei Paar Handschellen schicken. Kurz: Es muss der Eindruck erweckt werden, dass wir beide, Schraut und ich, von Garner überführt worden sind, Palperlons Entweichen verschuldet zu haben. Ich bitte uns beide recht grob zu behandeln, zu fesseln und in dieselbe Zelle zu bringen, Mankay aber wieder sein bisheriges Amt zu übertragen. Er wird uns dann sehr scharf bewachen. Wenn Sie hier warten wollen, Mylord. In zwei Stunden hoffe ich wieder mit Schraut gegen Ihren Willen frei zu sein, das heißt, ich werde in derselben Weise mit Schraut der Zelle entrinnen, wie Palperlon dies tat.«

Ich gebe zu, dass ich damals genauso sprachlos über diesen Vorschlag Harsts war, wie die drei anderen Herren. Nach einigem Hin und Her wurde die Komödie dann aber genauso in Szene gesetzt, wie Harst dies gewünscht hatte.

Ich will Einzelheiten hier fortlassen. Jedenfalls saßen wir beide nach einer Viertelstunde in der kahlen Mörderzelle auf den Schemeln, waren an die Wand gefesselt und wurden von Thomas Mankay mit den Worten bedacht: »Na, Ihr beide sollt mir nicht entwischen, Ihr verdammten Schufte! Detektive wollt Ihr sein! Inspektor Garner hat euch bewiesen, was man von euch zu halten hat!« Dann ging er hinaus.