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Der Welt-Detektiv Band 6

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Nick Carter – Ein fingierter Einbruch – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein fingierter Einbruch
Ein Detektivroman

Die geheimnisvolle Ambulanz

»Hilfe!«

Polizist Mullen schritt gerade pflichtgemäß den zu seinem Bezirk gehörigen Teil der unteren Wallstreet in New York ab, diesem wohl einzig in der Welt dastehenden Sammelpunkt der mächtigsten Bankinstitute und Finanzkooperationen, als in seiner Nähe ein gellender Hilfeschrei ertönte und im selben Moment auch schon dicht vor seinen Füßen eine schwere Mannesgestalt stöhnend zusammenbrach.

Man schrieb den 10. November, und von der Trinity-Kirche nahebei hallten eben zwei metallene Schläge; es war genau halb sieben Uhr morgens, und die spärlich in der Straße brennenden Laternen behaupteten sich noch siegreich, unterstützt von den feucht und kalt an den Häusermauern entlang kriechenden Nebelschwaden, gegen die nur verzagt und mit unsicher flackerndem Zwielicht einsetzende Morgendämmerung.

Mullen blieb mitten im Schritt stehen und blickte auf. Dicht zu seiner Rechten zog sich die marmorstarrende Front des Wolkenkratzers entlang, dessen Erdgeschoss von der North American Bank eingenommen wurde. Die zu deren Kassenzimmern direkt von der Straße aus führende Doppeltür, deren Flügel bis auf das eiserne Rahmenwerk aus je einer zweizölligen Kristallglasplatte bestanden, stand offen. Durch sie war der Hilfeschreiende geflüchtet, die zur Straße hinunterführenden wenigen Marmorstufen herabgetaumelt und unmittelbar vor den Füßen des Polizisten zusammengebrochen.

Mullen stand erst seit drei Wochen im Dienst der heiligen Hermandad und war darum noch ziemlich unerfahren. Entsetzt starrte er erst auf den wie tot vor ihm auf dem Straßenpflaster ausgestreckt Liegenden, dann auf die offene Tür; in der nächsten Sekunde ließ er unwillkürlich den Blick nach Beistand umherschweifen. Auf einen solchen war jedoch zu dieser frühen Stunde in der Wallstreet nicht zu rechnen; ehe in die weitgestreckten Reihen der Geschäftspaläste, die ausschließlich dem Handel dienten, Leben kam, mochten noch reichlich zwei Stunden vergehen.

Nach zweitägiger Erholungspause hatte der noch jugendliche Polizist seinen Dienst erst vor einer knappen halben Stunde wieder angetreten und fühlte sich darum frisch und gerade in der Laune, irgendein gefährliches Wagestück, bei dem er sich obendrein vielleicht noch dienstlich auszeichnen konnte, zu bestehen.

Das Gefühl plötzlich überkommener großer Verantwortung bestürzte ihn förmlich. Was tun? Das Gebot der Menschlichkeit befahl ihm, sich des Sterbenden anzunehmen, der seiner Uniform nach zweifellos der Bankwächter war; seine eigene Dienstvorschrift wies ihn darauf hin, für die Sicherheit der Bank zu sorgen. In solchen Fällen pflegen sich die New Yorker Polizisten damit zu helfen, dass sie mit dem schweren Polizeiknüppel einen weithin hörbaren Wirbel auf dem mit Steinplatten belegten Bürgersteig ausführen und dadurch die nächststationierten Schutzleute herbeirufen.

Nach Neulingsart kam indessen Mullen auf diesen so naheliegenden wie einfachen Ausweg nicht, sondern, während er neben dem noch schwach Röchelnden niederkniete, rief er unwillkürlich selbst laut um Hilfe. Hastig schaute er dabei nach allen Richtungen aus, und als er im ungewissen Dämmerlicht an der Straßenkreuzung unterhalb der Trinity-Kirche einen lässig dahinschlendernden Mann mit einem schmalen Handkoffer in der Rechten aus dem Nebel auftauchen sah, rief er ihn überlaut an.

»Heda … Sie! Kommen Sie hierher! Ich brauche Beistand!«

Der Unbekannte kam erst misstrauisch zögernd heran, dann aber, als er die Uniform des Polizisten und den neben diesem ausgestreckten Körper sah, verdoppelte er seine Schritte.

»Bleiben Sie bei dem Wächter hier, während ich um die Ecke eile, um Ambulanz und Patrolwagen durch den Fernsprecher herbeizubeordern!«, rief Mullen eilig.

»Warum den Patrolwagen?«, erkundigte sich der Fremde. »Eine Ambulanz ist doch genug!« Er unterbrach sich und sah offenbar erst jetzt die offenstehende Banktür. »Kam der Wächter aus jener Tür dort?«

»Natürlich. Dort drinnen muss etwas passiert sein!«

»Ein Grund mehr für Sie, nicht den Patrolwagen zu rufen!«, versetzte der Unbekannte, der neben dem Unglücklichen niedergekniet war. »Sie wollen sich doch im Dienst auszeichnen? Nun, also, der oder die Kerle, welche den armen Teufel hier so schmählich zugerichtet haben, befinden sich gewiss noch in der Bank und trauen sich nicht auf die Straße … Rasselt der Wagen heran, so nehmen Ihr Captain und der Sergeant die Ehren in Anspruch … und Sie haben nur einen Verwundeten vom Straßenpflaster aufgelesen.«

»Was soll denn das Geschwätz?«, unterbrach ihn Mullen barsch.

»Nichts oder alles, ganz wie es Ihnen beliebt. Sehen Sie lieber nach, was drinnen vorgegangen ist, während ich mich des Mannes hier annehme. Ich bin ohnehin ein halber Wundarzt und weiß Bescheid … Befinden sich wirklich Personen da drinnen und werden Sie nicht allein mit Ihnen fertig, so rufen Sie mich.«

Mullen wusste nicht recht, was seine Instruktion in einem solchen Fall besagte. Doch die Worte des Unbekannten leuchteten ihm ein. Steckten Einbrecher in der Bank, und er verhaftete sie, dann war seine Karriere gemacht; zudem fühlte er sich jung und stark und glaubte, bewaffnet mit seinem Knüppel, es erfolgreich mit einem halben Dutzend Verbrechern aufnehmen zu können.

»All right!«, meinte er entschlossen. »Dem armen Kerl können Sie schließlich ebenso viel helfen wie ein Ambulanzdoktor. Sollte ich rufen, so kommen Sie mir nach!«

Damit schritt Mullen mit vorgehaltenem Knüppel, um erforderlichenfalls sofort zuschlagen zu können, über die breiten Marmorstufen zu der offenstehenden Glastür. Erst spähte er durch die Öffnung in den von einigen elektrischen Birnen schwach erhellten Raum, der schon einige Fuß hinter dem Eingang durch ein mächtiges Gitter abgesperrt war. Nichts Verdächtiges ließ sich sehen. Die Pultreihen hinter dem Gitter standen geordnet; nirgends eine Kampfspur und noch weniger irgendein Anzeichen, das auf die Anwesenheit von Menschen schließen ließ.

Kurz entschlossen trat Mullen über die Türschwelle. Noch aber hatte sein Fuß nicht den Mosaikbelag des Bodens erreicht, als er einen fürchterlichen Hieb auf seinem Hinterkopf verspürte und mit einem dumpfen Wehlaut der Länge nach auf den Fußboden stürzte, anscheinend ebenso schwer verwundet wie der unglückliche Wächter.

Der Polizist war quer über die Schwelle zu liegen gekommen und augenscheinlich bewusstlos. Im selben Augenblick aber huschten auch schon drei Gestalten, die sich dicht neben der Tür so aufgestellt hatten, dass man sie von draußen nicht erspähen konnte, auf den Niedergeschlagenen zu, zerrten dessen schweren Körper vollends durch die Tür, bis er auf den Mosaikfliesen des Bankinneren lag, und dann kniete einer der Männer auf seiner Brust und würgte mit beiden Händen den Unglücklichen so lange an der Kehle, bis er ihn erdrosselt oder wenigstens auf lange hinaus betäubt glaubte.

Dann sprang der Verbrecher ebenso hurtig wieder auf, und ohne sich nach seinen beiden Kumpanen umzuschauen, welche sich wieder geschäftig ans Werk gemacht hatten, eilte er zur Tür, spähte durch deren halb offen stehenden Flügel und winkte dem Mann mit dem Handkoffer zu, der sich noch immer mit dem Wächter befasste.

»Nun, Parker, wie steht es?«, flüsterte er gerade noch laut genug, um von dem anderen verstanden werden zu können.

»All right!«, kam die Antwort. »Und wie steht es drinnen?«

»Gleichfalls alles in Ordnung! Bist du bereit?«

»Erzbereit!«

»Ist draußen alles sicher?«

»Sicherer als der Geldschrank drinnen!«, antwortete der Mann und lachte leise.

»Gut! Dann rufe jetzt die Ambulanz!«

Der draußen auf der Straße Befindliche ließ einen lauten Pfiff ertönen. Schon in der Minute darauf kam um die Ecke der Broadstreet ein Fuhrwerk herangejagt, in welchem man auf den ersten Blick eine Ambulanz des New Yorker Hospitals erkannte.

Mit weitausgreifenden Sätzen galoppierte das Pferd die Wallstreet herunter und wurde von dem mit Dienstmütze versehenen Kutscher prompt vor dem Bankeingang zum Stehen gebracht. Dann sprang der Wagenlenker vom Bock; der hinten aufsitzende junge Arzt im weißen, bis zu den Knien reichenden Operationsrock und mit aufgestülpten Ärmeln, die gleichfalls weiße Mütze mit dem Dienstabzeichen auf dem Kopf, sprang ebenfalls vom Wagen.

Kurzum, der jedem New Yorker durch tägliche Anschauung bekannte Vorgang spielte sich ab. Ein Polizist in voller Uniform, mit dem silbernen Dienstschild auf der linken Brust, der neben dem Kutscher gesessen hatte, legte ebenfalls hilfreiche Hand an. Hurtig wurde die in der Ambulanz befindliche, auf Schienen laufende Bahre hervorgezogen, der leblose Körper des Wächters wurde vom Pflaster aufgehoben, auf die Bahre gelegt, die noch in der Bank befindlich gewesenen beiden Männer kamen, mit schweren Säcken beladen, zum Vorschein, eilten an ihrem gelassen neben der Tür stehenbleibenden dritten Genossen vorüber und legten ihre Last neben den Körper des Wächters auf die Bahre. Diese glitt in den Wagen zurück, krachend fiel der Schlag zu, der Arzt sprang wieder auf, Kutscher und Polizist taten desgleichen – und unter schrillem Geläut rasselte die Ambulanz in der Richtung nach dem Broadway und der oberen Stadt davon.

Der vor der Banktür stehende Mann schloss nun diese mit einem Schlüssel, den er aus der Tasche gezogen hatte, und blieb dann ruhig auf der untersten Treppenstufe stehen, während seine beiden Gehilfen und der Mann mit dem Handkoffer sich, ohne ein Wort zu sprechen, unauffällig nach verschiedenen Richtungen entfernten. Zwei von ihnen bestiegen an der Ecke des Broadway in entgegengesetzter Richtung kreuzende Straßencars, während der Dritte um die nächste Straßenecke bog.

Noch eine Weile verharrte der Mann, welcher vorhin den Handkofferträger mit Parker angeredet hatte, auf der Treppenstufe, schwang seinen Spazierstock und pfiff vergnügt vor sich hin, als ob sich eben der alltäglichste Vorgang von der Welt abgespielt hätte. Dann, als auch der letzte der Vorangegangenen verschwunden war, ging er mit gemächlichen Schritten, wie einer, der viel Zeit hat, die Wallstreet in Richtung zu dem Hudson River zu hinunter, kreuzte Exchange Place, durchwanderte die Beaverstreet und stieg schließlich, am Hanover Square angelangt, die dort zur Hochbahn führenden Treppen empor, um einen Uptownzug, wie die nach der oberen Stadt gehenden Züge genannt wurden, zu benutzen.

 

*

 

Mit weithin hallenden Schlägen verkündete die Turmuhr der Trinity-Church die siebte Morgenstunde.

Die verschiedenen Diebesalarmgesellschaften der Metropole, welchen der Nachtschutz der meisten Finanzinstitute mit ihrem unbegrenzten Millionenbesitz anvertraut ist, gaben den gewohnten Stundenalarm, der pünktlich von den Wächtern, zum Zeichen, dass alles in Ordnung ist, beantwortet werden musste.

Auch in der North American Bank wurde angeklingelt; die Versicherungsgesellschaft gegen Einbruch, die amerikanische Distrikt Telegraphen Co., die Old Slip Polizeistation und die Gesellschaft zur Schadloshaltung bei Diebstählen (Theft Indemnity Co.) gaben das gewohnte Klingelsignal. Auf keines derselben folgte eine Antwort. Ein zweites Signal fand nicht mehr Gehör.

Sofort entsendeten sämtliche genannten Gesellschaften unverzüglich je einen Mann zu der Bank, um die Ursache des befremdlichen Schweigens festzustellen.

Fast gleichzeitig fanden sich die Sendboten vor dem riesigen Wolkenkratzer ein, dessen Erdgeschoss von den Lokalitäten der North American Bank eingenommen wurde.

Von außen war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Die Banktür war vorschriftsmäßig verschlossen. Soweit man durch die zolldicke Glasscheibe der Tür feststellen konnte, war auch im Inneren der Bank alles in Ordnung; die über den weitläufigen Raum verteilt brennenden elektrischen Birnen verbreiten nur unsicheres Halbdunkel, das gegen das nun hell in der Straße draußen eingezogene junge Morgenlicht empfindlich abstach. Einer der Boten entdeckte dunkle Flecken auf der weißen Marmortreppe, die wie geronnenes Blut schienen. Ein zweiter Bote setzte die Untersuchung fort und wollte nun auch verdächtige Flecke auf den breiten Steinfliesen des Bürgersteiges wahrnehmen.

Ratlos und verstört sahen sich die Männer an; wiederholt hatte einer von ihnen an der elektrischen Außenglocke geläutet. Bei der in der Wallstreet immer noch herrschenden tiefen Stille vermochte man das kräftige und anhaltende Anschlagen der Glocke im Bankinneren deutlich zu hören. Doch nichts regte sich in den Räumen.

Nun rüttelte ein Bote aus Leibeskräften an dem kunstvoll geschmiedeten Türgriff.

Wieder ließ sich nichts hören.

Endlich, als zwei Männer mit vereinten Kräften ausdauernd an der Tür gerüttelt hatten, tauchte zu dem Entsetzen der kleinen Gruppe hinter der Glasplatte ein aufs fürchterlichste zugerichtetes, blutbesudeltes Antlitz auf. Es war fast unkenntlich geschwollen und dunkelblau gefärbt. Auch der Uniformrock des Mannes war zerrissen und besudelt.

»Ein Policeman!«, rief einer der Männer bestürzt.

»Es scheint der zuständige Patrolman zu sein!«, meinte ein anderer.

»Wie kommt der aber in die verschlossene Bank hinein?«

»Die Ablösung der Nachtschicht hat in der Old Slip-Station erst um sechs Uhr stattgefunden.«

»Unser 6-Uhr-Anruf ist noch beantwortet worden!«

»Unserer auch!«, beeilten sich die Übrigen zu versichern.

Die Beamten umdrängten die Tür und suchten sich dem dahinter Aufgetauchten verständlich zu machen. Der aber starrte nur mit blutunterlaufenen Augen auf sie, schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, und ein heiser krächzender Aufschrei kam über seine Lippen.

Dann fiel er, augenscheinlich von neuer Schwäche übermannt, hintenüber und vermochte von draußen nicht mehr gesehen zu werden.

 

*

 

Das war es, was Nick Carter, der berühmte Detektiv, dessen Ruf zwei Welten erfüllte, von dem Präsidenten der North American Bank berichtet wurde, als er dem Bankier in dessen Privatoffice etwa zwei Stunden später gegenübersaß. Er war von den Direktoren der Bank telefonisch ersucht worden, die Angelegenheit unverzüglich in die Hand zu nehmen.